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"Die Ausbildung bereitet nicht angemessen auf diese Belastungen vor"

Dass Lehrer niemals den Job wechseln dürfen, hält Professor Bernhard Sieland für eine "kranke Idee". Er ist Autor einer Studie, nach der weniger als die Hälfte der Lehrer in Deutschland glauben, dass sie bis zur Rente in ihrem Beruf arbeiten können. Grund für den Ermüdungseffekt seien auch Mängel in der Ausbildung.

Bernhard Sieland im Gespräch mit Manfred Götzke | 10.10.2011
    Manfred Götzke: Seit in Deutschland über die Rente mit 67 debattiert wird, heißt es immer wieder: In einigen Berufen kann man einfach nicht bis 67 arbeiten. Das beliebteste Beispiel ist da der Dachdecker, der ja wohl nicht mit 67 auf den Ziegeln rumturnen kann wie sein 20-jähriger Geselle. Es gibt noch eine andere Berufsgruppe, für die offenbar das Gleiche gilt: Lehrer. Laut einer neuen Studie der Uni Lüneburg glauben weniger als die Hälfte der Lehrer, dass sie bis zur Rente arbeiten können. Professor Bernhard Sieland ist der Autor der Studie. Herr Sieland, warum halten so wenige Lehrer bis zum Ende durch?

    Bernhard Sieland: Das hängt an ihren besonderen Berufsbedingungen, ich möchte einmal verschiedene nennen, das Erste ist: Tischler brauchen keine kooperationsbereiten Bretter, die können Bretter glatt machen. Lehrer können aber Schüler nicht lernen machen, das heißt, sie sind auf die Kooperation vieler angewiesen, wiewohl von ihnen erwartet wird, dass sie das eigentlich herstellen können müssten. Das ist nur ein Punkt. Sie haben also hohe Anforderungen und können weder die Ziele aus eigener Kraft erreichen, noch können sie auch die Situationen voll selbst gestalten, etwa wenn sie mehr Zeit für Schülergespräche brauchen, aber ruckzuck wieder in den Unterricht müssen.

    Götzke: Das gilt aber für junge wie für alte Lehrer?

    Sieland: Das ist richtig. Auf der anderen Seite muss man auf Dauer mit einem gewissen Ermüdungseffekt rechnen und vor allen Dingen muss man feststellen, dass - es kommt jetzt noch ein zweiter Punkt dazu, nämlich die berühmte Effort-Reward-Bilanz, das heißt, man kann sich anstrengen, man kann sich sogar überanstrengen, aber man sieht die Erfolge nicht unbedingt. Auch das gilt für junge und alte, und deshalb kommen wir auf Bedingungen zu sprechen, die eigentlich diesen Überlastungsprozess moderieren. Und da liegen die Bedingungen einerseits in den Personen, in den Persönlichkeitsmerkmalen, andererseits in der Organisation, das heißt, die Ausbildung bereitet nicht angemessen auf diese Belastungen vor. Es gibt auch keine Verlaufsdiagnosen. Die Frage, wie sich Stimmungen verändern und ob jemand im Unterricht noch genussfähig ist, das wird überhaupt nicht erfragt. Dafür gibt es kleine Selbsteinschätzungstests, nur: Die sind leider Gottes nicht Pflicht.

    Götzke: Nehmen wir mal einen Punkt heraus, Sie haben gesagt, die Ausbildung ist nicht gut genug, die Lehrer werden nicht gut genug vorbereitet.

    Sieland: Ja.

    Götzke: Führt das möglicherweise auch dazu, dass viele Lehrer in den Beruf gehen, die dafür eigentlich überhaupt nicht geeignet sind und deswegen möglicherweise an Burnout, an Stress und ähnlichen Dingen leiden?

    Sieland: Ja, das kann man so sagen. Es gibt heute eine ganze Menge Möglichkeiten, vorher schon relevante Eignungskriterien festzustellen. Im Internet gibt es eine Reihe von solchen Verfahren. Nordrhein-Westfalen ist in diesem Bereich mustergültig. Sie machen nämlich einen Probelauf vor der Aufnahme des Studiums. Man kann also solche Risikofaktoren beziehungsweise Stärken-Schwächen-Analysen durchführen. Vor allen Dingen brauchte man aber während der Lehrerausbildung Zeit, diese zu bearbeiten. Die Lehrerausbildung mit dem Bachelor und Master führt aber bedauerlicherweise dazu, dass wir oft polyvalent ausbilden müssen, das heißt, wir sollen nicht nur sie professionalisieren für den Lehrer, sondern vielleicht auch gleichzeitig noch den Germanisten zum akademisch gebildeten Reiseleiter auf den Spuren Goethes ausbilden.

    Götzke: Das heißt, die Ausbildung ist noch schlechter geworden durch die Umstellung auf Bachelor und Master?

    Sieland: Sie reden mit jemandem, der 1965 seine Lehrerausbildung genossen hat, wo noch jeder einzelne, egal, ob es Professor für Psychologie oder für Theologie war, Unterrichtserfahrung hatte. Heute ist das nicht mehr unbedingt gegeben, dass diejenigen, die Lehrer ausbilden, die Unterrichtserfahrung haben. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Wir haben uns daran gewöhnt, Psychologie und die Basispädagogik und auf der anderen Seite die Fächer zu unterrichten. Was wir nicht machen sind personale Kompetenzen zu trainieren, dazu gehört so was wie Geduld, dazu gehört so was wie Dankbarkeit, die Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. Dieses fehlt unseren Schülern, weil es die Lehrer nicht qua Vorbild vermitteln können, die Lehrer haben es aber auch nicht angemessen gelernt, sodass sie eine Psychologiedidaktik hätten, mit dem sie solche Kompetenzen den Schülern vermitteln können.

    Götzke: Sie haben vorhin Selbsttests angesprochen und auch Möglichkeiten, zu überprüfen, ob jemand noch geeignet ist.

    Sieland: Ja.

    Götzke: Sollte Schule dann irgendwann möglicherweise sagen: Du bist zu alt, du bist zu ermüdet, geh früh in Rente?

    Sieland: Schauen Sie, in jedem anderen Beruf kann man problemlos den Beruf wechseln. Was bitte spricht dagegen, dass ein vom Lärm belasteter Sportlehrer irgendwann in den privaten Bereich wechselt und eine Surfschule macht? Die Idee, dass Lehrer bis zum Ende - bitte, das ist einer der einzigen Berufe. Sozialarbeiter haben auch kein Zuckerschlecken, die können aber zwischendurch die Zielgruppen wechseln, von Jugendarbeit auf Altenarbeit, auf Kinderarbeit und Heimarbeit. Das heißt, unsere etwas kranke Idee, Lehrer müssen qua Beamtenschaft bis zum 65. Lebensjahr unterrichten - das hängt ein bisschen mit unseren Systemen zusammen, die nicht notwendig so sein müssten.

    Götzke: Dann müsste man den Beamtenstatus abschaffen.

    Sieland: Ich weiß nicht, ob man den Beamtenstatus abschaffen muss, auf jeden Fall müsste man den Ausweg ... Schauen Sie, wenn Sie in unser CCT, Career Counselling for Teacher, reingehen, dann sehen Sie dort Berichte von Menschen, die aus dem Privatberuf in den Lehrerberuf gewechselt sind, und solche, die glücklich den Lehrerberuf verlassen haben und in die Privatwirtschaft gewechselt sind. Wenn so etwas nicht mit dem Makel des Resignierens oder des Wundlaufens verbunden wäre - was spricht denn dagegen, dass einer sich 20 Jahre für Schülerinnen und Schüler verausgabt und anschließend einen Tätigkeitswechsel vornimmt?

    Götzke: Jetzt muss man das Ganze aber ein wenig relativieren. Jetzt ist es ja so, dass 40 Prozent bis zur Pensionierung durchhalten, das Ganze war ja schon mal schlimmer: Vor zehn Jahren haben nur sechs Prozent bis zur Pensionierung durchgehalten. Was hat sich seitdem verbessert?

    Sieland: Da hat sich nichts verbessert, sondern dadurch, dass die Optionen sich geändert haben, dass nämlich größere Pensionsabschläge eingebüßt werden mussten, gehen weniger in die Frühpensionierung. Es ist die Frage, ob es wünschenswert ist, dass angeschlagene Lehrkräfte ... und sehen Sie bitte jetzt zwei Probleme: Wir haben einmal das Problem des Absentismus beziehungsweise der Überlastung. Wir haben als zweites das neue Problem - was jetzt erst ins Bewusstsein rückt - des Präsentismus, das heißt: Jemand ist an seinem Arbeitsort, der Lehrer unterrichtet, aber er ist mit dem Kopf und mit dem Herzen ganz woanders, weil er Sorgen hat, weil er Kopfschmerzen hat oder Ähnliches. Und so was kann Schule überhaupt nicht vertragen. Dort müssen Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, auch wahrgenommen zu werden, am besten einzeln. Und insofern würde ich nicht gerne auf die Frühpensionierung ... Das ist ein Problem, was den Finanzminister angeht, darüber hat sich noch nie ein Kultusminister Sorgen gemacht, über Frühpensionierung, weil der neue einstellen kann. Wenn wir schlechte Bildungschancen für unsere Schüler entwickeln, zahlt es hinterher das Sozialministerium. Diese merkwürdigen Kassentrennungen führen dazu, dass die einen noch zufrieden sind, während die anderen leiden.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.