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Die Aussicht vom 13. Stock

"Daß alte Leute zu allen Zeiten den Eindruck hatten und ihn laut verkündeten, sie verließen eine Welt, die viel schlechter sei als die, welche sie in ihrer Jugend vorgefunden hatten, ist wohlbekannt. Ich bin also der Nörgler, der fest davon überzeugt ist, daß er recht hat, selbst wenn Nostradamus’ eigene Hand ihm den ‘information highway’, die gloriose Bochstraße unnützer Informationen, und andere deliziöse Möglichkeiten verzeichnet."

Johannes Kaiser |
    Seit sich Erwin Chargaff, vormals Direktor des Instituts für Biochemie an der Columbia University in New York, vor rund 25 Jahren nicht ganz freiwillig in den Unruhestand zurückgezogen hat, gibt er alle Jahre wieder seinem pessimistischen Weltüberdruß in einem Band bitterböser Essay wortgewaltigen Ausdruck. Seine Themen wiederholen sich, seit er 1985 zum ersten Mal in "Zeugenschaft, die Verkommenheit der Naturwissenschaften", den doppelten Sündenfall der Kernspaltung des Atoms und des Genoms angeprangerte, die Verluderung der Sprache und Moral attackierte. Auch wenn er klug genug ist, nicht bei sich abzuschreiben, so ist er doch seinen Überzeugungen in all diesen Jahren treu geblieben und das bedingt einfach gewisse Wiederholungen.

    "Der Teufel", so Chargas, "sitzt in der Unschuld. Gibt es was Harmloseres als die kleinen liebenswürdigen Übertreibungen des Alltags? 'Dein Kind ist das schönste auf der Welt', sagte die Tante. 'Der Arier ist das beste auf der Welt', sagte einer, der gar nicht so aussah. Übertreibungen sind der Weg, mit dem der Vater der Lüge seinen Tag beginnt. Am Abend haben wir dann das Automobil und den Computer. Die haben die Welt verändert, und nicht zum Bessern."

    In seinem nunmehr siebten Essayband spießt der inzwischen 93jährige noch einmal einige seiner Lieblingsgegner mit dem spitzen Degen der Logik auf. Der Bioethik etwa wirft er vor, den Genetikern die Absolution für ihr Herumpfuschen in der Natur zu erteilen; oder er hohnlacht über den wissenschaftlichen Fortschritt, der den Menschen heute lieber patentiert statt kuriert. In seiner Wehklage über das Verschwinden der Dryaden', der liebeswerten antiken Naturgeister, bedauert der gelernte und vielfach ausgezeichnete Biochemiker beredt, daß mit dem Siegeszug der vermeintlichen Rationalität im Gefolge der Naturwissenschaften den Menschen die Phantasie abhanden gekommen ist. Verbiestert folgten sie der sogenannten wissenschaftlichen Wahrheit, rümpften die Nase über Geistererscheinungen, und vergäßen, daß ihre sogenannten Wahrheiten sehr kurze Halbwertzeiten hätten, man an sie ebenso glauben müsse wie an Nymphen, Engel, Kobolde.

    Ihm angetan hat es das Informationszeitalter, das aus dem alten Ideal eines allseitig gebildeten Menschen die Chimäre des allseitig verblödeten Informationshüpfers herausgebrochen habe, der auch noch stolz darauf sei, stundenlang Millionen Pixel belangloser Einzelfakten zu futtern. Satt mache ihn die virtuelle Nahrung nicht, dafür aber ungeheuer informtiert. Mit Wissen hat das "world wide web", von Erwin Chargaff spöttisch als "wehe, wehe, wehe" übersetzt, so wenig zu tun, wie Courts-Mahler mit Literatur. Daß Film, Fernsehen, Zeitungen seine Landsleute in wirklichkeitsentwöhnte Konsumenten verwandelt hätten, die Realität nur als reality-show begriffen und ihren Verstand ausschalteten, wenn sie den Fernseher einschalteten, das alles demonstriert für den New Yorker Kritiker nur den Niedergang des Jahrhunderts. Daß die Traumwelten der Werbung für Wirklichkeit genommen werden, weckt den besonderen Abscheu Chargaffs. So ist seiner Meinung nach der Zusammenbruch des Sowjetimperiums denn auch nicht dem Willen demokratischer Umgestaltung, der Sehnsucht nach Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung zu verdanken, sondern dem Wunsch, endlich so konsumieren zu dürfen, wie es die PR-Strategen audiovisuell weltweit vorschmeichelten. Die Genügsamkeit des Staatskommunismus habe vor der Unersättlichkeit des US-Kapitalismus kapituliert, seiner Verbrauchssucht, seiner Verschwendung aller Ressourcen. Chargaff, der nie mit dem Kommunismus sympathisiert hat, bedauert, daß mit seinem vorübergehenden Verschwinden jegliche gesellschaftliche Solidarität zugunsten des Sozialneids aufgekündigt worden sei. Doch ist er überzeugt, daß noch nicht aller Nächte Morgen ist. Totgesagte haben oftmals ein langes, zähes Leben. Bleibt nur zu fragen, ob die vom amerikanischen Fernsehen millionenfach Individualisierten je wieder für marxsche Ideen genügend Verstand gewinnen.

    Zutiefst pessimistisch stimmt Erwin Chargaff auch der Zustand der Kultur. Seiner Ansicht nach hat sie den zweiten Weltkrieg nur schwer beschädigt überlebt: "Während in den Künsten, in der Musik, in der Literatur der Moderne Kraft, Entschiedenheit, Ursprünglichkeit hervortraten, offenbarte die Postmoderne das glatte Gegenteil dieser Eigenschaften. Sie ist eine durchaus epigonale Kultur. Sie zitiert, sie legt aus, sie spielt an. Sie ist eine unsichere, unorginale, kommentierende Kultur. Sie dekonstruiert, was früher konstruiert wurde. Es raschelt von Papier; nur die Ikonen wurden von Microsoft entworfen."

    Auch wenn das vielen aus der Seele gesprochen ist, muß es nicht stimmen. Natürlich leben wir in einem Jahrhundert, in dem Moden schneller wechseln als Strümpfe Löcher bekommen. Nur mußte man sich schon immer, um ein Juwel zu finden, durch Tonnen taubes Gestein wühlen. Daß zudem im Rückblick Größe und Genialität leichter zu erkennen sind, daß die Zeitgenossen oftmals nicht begreifen, welche Meisterschaft unter ihnen heranwächst, solche Erkenntnis ist weder orginell noch neu. Erwin Chargaff ist hier in guter Gesellschaft, auch wenn er solche Vermutung sicherlich als Zumutung empfände. Er sieht nur die Gaukler der Medienunterhaltung, vergißt darüber aber, daß auch früher die Massen lieber Taschenspielertricks zujubelten als Bach zu lauschen oder Jean Paul zu lesen. Zudem läßt im Alter wohl auch die Neugier auf Neues merklich nach. Man wird dem alten Herrn nachsehen, daß er seinen 13. Stock im Hochhaus am Central Park nur noch selten verläßt, um Uraufführungen moderner Musik, Vernissagen zeitgenössischer Kunst, Dichterlesungen beizuwohnen. Nur sollte er sich dann auch mit Pauschalurteilen zurückhalten, selbst wenn er sich von der von ihm sonst verachteten Zeitungskritik bestätigt sieht. Zu allen Zeiten ist Mittelmäßigkeit heftig bejubelt worden. Doch man muß auch nicht mit all seinen Schlußfolgerungen übereinstimmen, um seiner grundsätzlichen Kritik zuzustimmen: "Was meiner Welt angetan worden ist, während ich in ihr lebte, kann mit wenigen Worten beschrieben werden. Wir haben, so scheint es mir, unsere letzten Möglichkeiten der Berührung mit der Wirklichkeit und der Menschlichkeit verloren."