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Die Bedeutung der Geisteswissenschaften für unser Bild von Wirklichkeit

Welche Konsequenzen hat der weltweite Finanzcrash für die Übermacht der Natur- und Wirtschaftswissenschaften? Konnten geisteswissenschaftliche Deutungen an Einfluss gewinnen? Dagegen steht die Einschätzung, dass zum Beispiel Ideen der Humanwissenschaften sich in Zeiten der Virtualität, Tele-Technologie und Genomforschung kaum noch behaupten können. In seinem nun folgenden Essay "Die Bedeutung der Geisteswissenschaften für unser Bild von Wirklichkeit" geht Hans-Jürgen Heinrichs der Frage nach, ob die globale Finanzkrise die Hierarchie der Wissenschaften verändert hat.

Von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Der Frankfurter Kulturtheoretiker Hans-Jürgen Heinrichs unterrichtete Ethnologie und Psychoanalyse an verschiedenen Universitäten. Er wurde mehrfach für sein Werk ausgezeichnet. 2001 veröffentlichte er zusammen mit Peter Sloterdijk seine Dialogischen Untersuchungen "Die Sonne und der Tod".2003 erschien sein Buch "Die gekränkte Supermacht. Amerika auf der Couch."

    Die weltweiten katastrophalen Folgen der Finanzkrise haben dazu geführt, dass einem psychologischen Begriff wie "Gier” plötzlich eine ungeahnte Macht zur Deutung des Geschehens eingeräumt wurde. Sah man in den letzten Jahren vor allem autonom ablaufende Prozesse am Werk, rückten auf einmal wieder Personen in den Vordergrund. Ihnen und ihrer grenzenlosen Habgier wurde alle Schuld zugesprochen. Ihr Rendite-Wahn, im Rahmen der Auswüchse einer virtuellen Ökonomie, erschien als hinreichendes Erklärungsmodell.

    Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, damit seien wieder geisteswissenschaftliche Erklärungsmodelle in den Vordergrund getreten, um die Übermacht der Natur- und Wirtschaftswissenschaften in Frage zu stellen und zu ergänzen. Es war ja nur der isolierte Begriff der Gier, der auf eine völlig unzureichende Weise zur Erklärung herangezogen wurde; es waren nicht die Wissenschaften der Psychologie und Psychoanalyse im Ganzen. Für eine nur sehr kurze Zeit hatte sich die fatale Leichtsinnigkeit offenbart, mit der wir uns daran gewöhnt haben, sogenannten Spezialisten und ihren Prognosen zu glauben. Noch während sie tagtäglich als Scharlatane entlarvt wurden, traten sie schon wieder in Talkshows als Experten für die zukünftige Entwicklung auf.

    Man hätte sie eigentlich in die Wüste schicken müssen; stattdessen sitzen die meisten von ihnen immer noch in ihren alten Sesseln und machen zu allem Überdruss auch noch den Staat dafür verantwortlich, ihnen nicht zeitig verbindliche Regeln auferlegt zu haben. Im Grunde geschieht hier auf der wirtschaftlichen Ebene das Gleiche wie bei politischen Umstürzen, nach denen man immer wieder mit Erstaunen feststellt, wie sich ehemalige, für katastrophale Fehlentwicklungen Verantwortliche im neuen Gewand und Umfeld wiederfinden und weiter agieren.

    So hat sich also letztlich nicht viel am Einfluss der sogenannten Experten und an der Übermacht der Wirtschaftswissenschaften, zum Teil in enger Verbindung mit der Mathematik, geändert. Die geisteswissenschaftlich geprägten, grundsätzlicheren Deutungsversuche haben selbst durch eine derartig weitreichende Katastrophe nicht wirklich einen verstärkten Einfluss auf unser Denken und Handeln gewonnen. Die Bedeutung der Wirtschafts- und Naturwissenschaften für unser Menschen- und Gesellschaftsbild ist im Grunde genommen ungebrochen.

    Angesichts der aufs Ganze gesehen enormen naturwissenschaftlichen Effizienz und der durch sie ermöglichten ökonomischen Erfolge, aber auch angesichts der katastrophalen Misserfolge, muss sich der Geisteswissenschaftler wie aus einer anderen Welt vorkommen. Er begleitet all seine Denkschritte unablässig mit Zweifel, Selbstzweifel und Unsicherheit, erwägt bedächtig all seine Schritte und stellt seine Deutungen oft genug nur als Vorschläge in den Raum. Wie soll er da konkurrieren können mit Wissenschaften, die auftrumpfen mit Wissen, Fakten, Zielorientiertheit und Pragmatismus - selbst inmitten verheerender, von ihnen zu verantwortender Irrtümer?

    Außerdem kommt auf die Geisteswissenschaftler immer stärker eine neue Schwierigkeit zu: Sie können mit der Geschwindigkeit der Entwicklungen und Veränderungen in einer globalisierten Welt nicht mehr deutend mithalten. Als man die Wörter Globalisierung oder mondialisation für eine national übergreifende, eine weltweite Verbindung und Vernetzung des Wissens, der Technologien und der Informationen erfand, herrschte eine große Begeisterung für die Ausweitung einer lokal begrenzten Welt.

    Eine solche Euphorie ist längst verflogen. Zu deutlich ist inzwischen geworden, dass das, was als neue universale Demokratie und Gleichheit ausgerufen wurde, in vielen Hinsichten ein Schein ist, unter dem sich ganz neue und teils viel massivere Ungleichheiten verbergen, und dass sich unter dem Deckmantel des Transnationalen neue Tendenzen zum Projektionismus, zur Nationalisierung und Provinzialisierung entwickeln.

    Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, sprach in seiner Studie Die Schatten der Globalisierung davon, dass die Globalisierung erst dann ein "menschliches Antlitz” annehmen würde, wenn man aufhörte, darunter einen rein ökonomischen Vorgang zu verstehen, bei dem die Diktatur nationaler Eliten lediglich durch die Diktatur der internationalen Finanzmärkte ersetzt würde. Solange diese Diktatur erfolgreich war und große Gewinne versprach, wurde sie noch toleriert.

    Großenteils stillschweigend wurde auch die menschenunwürdige Ungleichheit der Völker und Gesellschaften akzeptiert. Während die Industrieländer ein fein abgestimmtes ökonomisches Wechselspiel betreiben - von freier Marktwirtschaft, Importstop und der Schaffung globaler Kartelle -, werden die abhängigen Länder dazu gezwungen, sich der Politik der internationalen Finanzmärkte zu unterwerfen, ihre Souveränität aufzugeben und Entscheidungsfindungen nicht demokratischen Prozessen, sondern Experten, sogenannten Experten, zu überlassen.

    Globalisierung - als politische und ökonomische Strategie und als höchst fragile Ideologie, die das alltägliche, kulturelle und soziale Leben durchdringt - bestimmt längst auch die Wissenschaften und deren Ausrichtung mit.

    Den ganz unterschiedlichen Prozessen der Globalisierung ist eines eigen, dass nämlich der historisch gewachsene Raum verschwindet. Die teletechnologische Vernetzung der Welten und Wirklichkeiten, der Informationen und Bilder lässt Distanzen scheinbar verschwinden. Davon bleibt keine Wissenschaft unberührt.

    Im Gegenteil: Jede Disziplin nimmt teil an diesen Prozessen, prägt die Wahrnehmungen und Vorstellungen, die Erfahrungen und Erkenntnisse von Wirklichkeit und Welt mit. Unsere Erkenntnisse und unsere Weltbeschreibungen werden zunehmend in eine Nachträglichkeit gegenüber gesellschaftlichen, politischen und technologischen Prozessen und Entscheidungen gedrängt. Wissenschaft scheint immer mehr der rasanten Entwicklung hinterher zu hinken.

    Die nächsten Jahre werden zeigen, wie groß das Potenzial autonomer, von ökonomischen Interessen unabhängiger Forschung ist. Am Ende wird es darauf ankommen zu erkennen, dass ein ökonomisch und tagespolitisch geprägtes Menschenbild zu kurz greift, wenn es nur im Augenblick fundamentaler Bedrohung gezeichnet wird. Genauso wie ein biomedizinisch und biopolitisch verkürztes Bild des Menschen ganz wesentliche Teile seines Lebens, seiner Existenz und Kultur - wie sie die Humanwissenschaften im Blick haben - aus den Augen verloren hat.

    Die "Biowissenschaften” neueren Stils können nicht hinreichend Auskunft geben über: Leben, Existenz und Tod, über die menschliche Gier, die Leidenschaften und Verfehlungen, über das Interesse des Menschen an der Religion, der Liebe, der Kunst und was größer als er selbst ist. Hat nicht, so muss man sich fragen, die im teletechnologischen und im Biotech-Zeitalter hergestellte und gestaltete Wirklichkeit etwas von einem mit Hybris begleiteten Schöpfungsakt an sich? Werden hier nicht unsere bisherigen humanen Möglichkeiten des Denkens und Lebens in eine falsche Richtung verkehrt, so dass es nicht mehr der Mensch ist, der bestimmt, in welcher Welt er lebt, sondern anonym ablaufende technische, ökonomische und medizinische Prozesse?

    Und noch etwas kommt erschwerend für unser traditionell gewachsenes Bild von Wirklichkeit hinzu: Wie weitgehend formt die mediale Bilder-Welt unsere Wirklichkeitswahrnehmung und macht etwas visuell und virtuell bereits erlebbar, bevor es tatsächlich eintritt? Welchen Einfluss hat der verführerische Schein-"Realismus” der Action- und Science-fiction-Filme und Simulationen auf unseren alltäglichen Realismus der Welterfahrung und des Handelns?

    Unser Wissen und die Anwendung dieses Wissens sind in eine neue Dimension getreten: Die Selbsttransformation des Menschen wird immer leichter möglich. Dabei kann er stärker Opfer der von ihm entwickelten Verfahren und Techniken werden. Der amerikanische Wissenschaftler Bill Joy hat sich besonders eindringlich in diesem Sinn zu Wort gemeldet: Er spricht von der "Gefahr einer wissenschaftlichen Massenvernichtung”. Die Technologien des 21. Jahrhunderts (Gentechnik, Nanotechnologie und Robotik) und der internationale Terrorismus, die selbst von einzelnen Menschen und kleinen Gruppen praktiziert werden können, bergen in sich die Gefahr einer weiteren Perfektion des Destruktiven.

    Die Gesamtheit dessen, was wir mit Kultur, Zivilisation und Tradition benennen, steht also auf dem Spiel. Was soll man eigentlich, mögen sich viele fragen, noch anfangen mit den überkommenen Ideen der Humanwissenschaften, mit gesellschaftlichen, kulturellen und kulturpolitischen Konzepten angesichts von "Virtualität”, "Teletechnologie” und ”Genomforschung”? Wie lassen sich die traditionellen Denkformen auf veränderte Wirklichkeitserfahrungen hin ausdehnen, für einen Dialog der Kulturen und für eine neue Selbstverständigung nutzen?

    Das kulturelle Selbstverständnis und die Raumerfahrung des Menschen werden sich, so viel kann man mit Sicherheit sagen, stärker als in früheren Epochen verändern.
    Die moderne mediale Vernetzung hat uns die Augen für die sich wandelnden Wahrnehmungsformen von Nähe und Ferne geöffnet. Die sogenannte elektromagnetische Nähe in der Telekommunikation und das entsprechende Lebensgefühl und Weltverständnis sind etwas so grundlegend Neues, dass der Sinn dessen, was wir als Nähe und Ferne, als Hier und Dort bezeichnen, radikal in Frage steht.

    Der Medientheoretiker Paul Virilio hat davon gesprochen, dass im Zeitalter der Telepräsenz und "Telepathologie” das Bewusstsein für den Raum verlorengeht, dass man immer stärker das Gefühl haben wird, eingesperrt und eingeschlossen zu sein, dass es so etwas wie eine "mentale Verseuchung” durch Auflösung von Distanzen gebe. In dieser Welt des symbolischen Tausches von Zeichen ist an die Stelle der rational nicht zugänglichen Kraft im Inneren der Dinge das Innere der Zeichenwelt getreten.

    Im Zuge dieser Welt-Veränderung stellt sich auch für den Wissenschaftler, vor allem für den Ethnologen und Soziologen, die Frage, in welchen Bereichen und Darstellungsformen sich die Gesellschaft am besten erkennen lässt: in den großen Zusammenhängen der Weltpolitik und Weltwirtschaft oder im sozialen, familiären und alltäglichen Leben und dessen Einbettung im Medialen - der sogenannten Ereigniskultur - oder eher in den gesellschaftlichen Randbereichen (wie etwa den Kliniken, Altersheimen und Obdachlosenasylen) und auch an den neuen Orten eines flüchtigen, passageren Lebens (wie etwa auf Flughäfen oder in Supermärkten) oder doch auch noch an den eher traditionellen Orten kulturellen Lebens (im Theater, in der Oper und im Konzertsaal).

    Gleichgültig, welchen Bereichen sich die Wissenschaftler zuwenden, sie sollten sich - spätestens nach dem jüngsten Desaster der Finanzkrise - nicht weiter als nur objektiv und rational agierende Theoretiker und Experten gerieren, sondern sich zu ihren subjektiven, emotionalen Anteilen bekennen. Auch ist zu beachten, dass Wissenschaftler oft nur vorgeben, sich für ihre Forschungen mitten im Leben (in "teilnehmender Beobachtung”) aufgehalten zu haben. Tatsächlich aber künden dann davon, wenn überhaupt, zumeist nur noch der "lebendige” Ton und die Erwähnung von Gefühlen in den Einleitungen und Vorbemerkungen ihrer Bücher, um ihr Selbstbild als überlegene Konstrukteure bedeutungsschwerer Welten nicht zu beeinträchtigen.

    Selbst ein so genialer, sich in alle menschlichen Untiefen und literarischen Gestaltungsmöglichkeiten wagender Theoretiker wie Sigmund Freud konnte doch nicht dem Zwang entgehen, am objektiven Wissenschaftsideal festzuhalten, trotz des deutlichen Gefühls für das, was im rein wissenschaftlichen Konstrukt verlorengeht. Was hier preisgegeben wird, macht genau das einzigartige Potenzial einer komplexen Denkform und Sprachkomposition gegenüber einem nur ökonomisch argumentierenden oder einem biowissenschaftlich-linearen Text aus. Autoren wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud oder, auf ebenso exemplarische Weise, der Ethnologe Claude Lévi-Strauss haben dies deutlich gespürt und konnten dennoch die Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität nur phasenweise aushalten.

    Die Spannkraft zwischen dem Wunsch, literarisch zu schreiben und dem Ideal eines schematischen, axiomatischen Denkens wird schließlich von beiden Denkern zugunsten eines eher konventionellen Wissenschaftideals abgeschwächt. Damit aber die Geistes- und Humanwissenschaften - trotz der Übermacht der Naturwissenschaften und deren Vorstellung von Rationalität - ihre eigene Aufgabe als Lebens- und Gesellschaftswissenschaften erfüllen können, müssen sie auf ihren eigenen Konzepten und Begriffen beharren und diese zugleich als von Grund auf wandelbar begreifen. Selbst-Reflexion und Selbst-Kritik gehören zu ihrer ureigensten Domäne.

    Im Zeitalter der Globalisierung und weltweiten medialen Vernetzung gewöhnt sich der Mensch immer schneller an Grausamkeiten, an tödliche Konflikte, Katastrophen und zutiefst befremdliche und erschütternde Ereignisse. Bereits jede einzelne der Katastrophen, die sofort in uns lebendig werden, wenn wir nur die Ortsbezeichnungen Erfurt, Insel Djerba oder World Trade Center, Gaza und Ruanda nennen, könnte ausreichen, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn wir sie aber alle zusammendenken und sie erweitern um unsere private tägliche Besorgnis darüber, ob es eine Lösung im Nahen Osten und Fernen Osten und in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas geben kann, sind wir bereits restlos überfordert, den alltäglichen Schrecken und das alltägliche Leid auch nur annähernd an uns heranzulassen und zu fühlen.

    Vernichtungsphantasien und realer Terror haben eine neue Schreckensqualität erreicht. Schreckensvisionen und Heilserwartungen stehen sich krasser denn je gegenüber. Krieg erschien der westlichen Welt während der gesamten Bush-Ära in der Form des Terrors als von außen auf uns zukommende unheilvolle Bedrohung und, in der Form des Antiterrorkrieges, als Rettung der Zivilisation. Diese abstrakte Aufteilung der eigenen guten und der fremden bösen Welt wird jetzt glücklicherweise unter Präsident Obama Schritt für Schritt aufgegeben.

    Die gegenwärtigen kulturellen, ökonomischen und technologischen Entwicklungen können nicht hinreichend im Raster der herkömmlichen Denk- und Vorstellungsformen begriffen werden. Man kann jedoch den Rahmen etwa der ökonomischen Prozesse abstecken, die sich auf den neuen Raum (den Cyberspace) zubewegen. Wie weitgehend aber wird dieser neu definierte Raum die Lebensprozesse bestimmen; werden vom Leben eigene vitale Kräfte auf die Technologien einwirken, die diese wiederum verändern und technologisch entzaubern? Werden sich kulturelle, spirituelle und ökologische Energien am Ende behaupten gegen den Verlust an "Natur”, "Sinn” und Metaphysik - wenn man erkennt, dass Ökonomie und Technologie zum einen viel weniger erfolgreich sind als behauptet und dass sich zum anderen individuelle Wünsche und Phantasien doch nicht auf technologische Weise befriedigen oder ausschalten lassen?

    Die Sorge um die Zukunft vereinigt viele der zur Globalisierung angestellten Überlegungen. Obwohl Globalisierung und Weltwirtschaft aufs engste mit einer Zukunft zusammenhängen, die unsicher ist und die wir nicht wissen können, lässt sich heute immer noch eine extreme Berührungsangst gegenüber den Unsicherheiten, dem sogenannten Nichtrationalen und Nichtpragmatischen feststellen.

    Eine der größten Schwierigkeiten bei dem Versuch, Globalisierung zu verstehen, besteht weiterhin darin, sich nicht in den Netzen scheinobjektiver Prozesse zu verfangen, sondern ebenso den Erfahrungen Raum zu geben, dass es sich hier auch um Vorgänge handelt, die sich in unmittelbarer Nähe des Menschen, in seinen Lebensbezügen und in seiner Kultur abspielen. Wie schlage ich den Bogen von der beeindruckenden Übermacht weltpolitischer und ökonomischer Vorgänge, von dieser Welt des Nützlichen und der scheinbar rational legitimierten Zwänge zu der Welt des Individuellen, des im Individuellen sich zeigenden und gelebten Gesellschaftlichen und Kulturellen?

    Globalisierung ist ja nicht nur etwas, das auf einer äußeren Bühne geschieht; wir sind doch, jeder einzelne, die Akteure, die Mitspieler; das Geschehen spielt sich auch auf der inneren Bühne eines jeden ab. Zum Dekor der Inszenierung gehören Apparaturen, technische Innovationen und Manifeste des technologischen Fortschritts, die durch ihren glamour bestechen, die eine Sogwirkung haben: Wir möchten das Handy, den Fernseher mit hundert oder zweihundert Kanälen, den global sound der Videoclips und das Telefon mit Bildübertragung besitzen und ans Internet angeschlossen sein. Aber warum eigentlich? Will ich es wirklich, oder folge ich nur der Phantasie eines globalen Weltgefühls, dem Wunsch, mich an alles angeschlossen zu fühlen? Verbirgt sich dahinter nicht das Verlangen nach Überwindung eines unendlichen Einsamkeitsgefühls?

    Dazu passt ja auch, dass diese neuen Techniken und Technologien längst von der Erotik-Industrie vereinnahmt worden sind: Beziehungen werden immer weniger konflikthaft zum Glück durchdringend gelebt, sondern augenblickshaft ersatzbefriedigt; sie werden visuell und virtuell hergestellt und wieder gelöscht. In diesem visuellen Markt (mit Cyber-Sex und Teleorgasmus) vermischen sich totale Einsamkeit, Sehnsucht nach Nähe und totale Kommunikation, Pornoindustrie, Showgeschäft und Alltagsleben.

    Fernsehsender werben damit, dass alle Informationen rund um die Uhr abrufbereit seien, wo immer man sich aufhalte. Aber will ich das denn? Und mir würden überdies, rund um die Uhr, alle Hintergrundinformationen zu den Machern der Sendungen mitgeteilt. Aber was ist daran interessant, wissenswert? Globalisierung als "kommunikatives Phänomen” - wie dies Theoretiker oft idealisierend verkünden - ist in mancher Hinsicht viel weniger aufsehenerregend, als es den Anschein hat.

    Man muss diese Fragen stellen, um die so eherne und scheinbar ganz von Nützlichem geprägte Front der Informationen aufzuweichen. Und auch den Anschein des Kosmopolitismus, der Weltläufigkeit: Geht es denn zum Beispiel bei den Hintergrundinformationen zu Leben und Arbeit der Macher um Weltbewegendes? Und die weltweite Verbreitung von den ewig gleichen Techno-Songs- und -Rhythmen und die einebnende Bilderflut, die Ausbreitung einer Konsumentenkultur: Sind dies tatsächlich Bereicherungen? Haben die Globalisierungen am Ende nicht viel mehr Provinzielles als Mondiales an sich?

    So haben wir es einerseits mit einer Ausweitung der Räume, einer "Größerformatierung” des Menschen zu tun; andererseits aber erweist sich der globalisierte Großraum von den alten privaten Phantasien und Wünschen und von Botschaften durchsetzt, die sich auf eine Werbungssprache und einen Sound reduziert haben.

    Wir sollten im Prozess der Globalisierung an unserem Kulturbegriff, nicht aber an einem engen und starren Begriff von Identität festhalten. Auf ein ethisches und selbstverantwortliches Handeln dürfen wir nicht verzichten, wenn wir uns nicht zum Spielball mal verantwortlicher, mal unverantwortlicher Experten machen wollen.

    Einer differenzierten Bewusstseinsbildung stehen der Bilderterror der Medien, der Zwang zur Visualisierung und die fortwährende Vernichtung der zuvor gezeigten Bilder im Wege. Die Medien sind darauf aus, alles zu vernichten, was den Anschein von Dauer hat. Die Massenmedien berühren elementar den Kern der Kulturen, ihr Bleiben und ihre Dauer. Die Kinodramatik der Wirklichkeit ist dichter geworden; das Raum- und Zeitverhältnis hat sich grundlegend gewandelt.

    Eine moderne Ethnologie, Soziologie, Medientheorie, Philosophie, Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse helfen uns dabei, solche komplexen Vorgänge besser zu verstehen; zu verstehen, wie sich hier Entwicklungen verselbständigen und sich von den Interessen und Wünschen der Menschen abkoppeln; zu sehen, wie die alte Fortschrittsutopie der Moderne bereits geplatzt ist und sich unkontrollierbare Verläufe entwickelt haben; etwas, was man so gar nicht gewollt hat!

    Aber dies sind nicht Prozesse, die wir nur im Außen zu lokalisieren haben. Sie spielen sich immer noch im Handlungsspielraum der Menschen ab. Der Mensch ist stets Ich und Anderer, verwiesen auf ihm unbewusste Vorgänge. Was für den einzelnen gilt, gilt auch für die Gesellschaft im ganzen: Auch sie ist niemals monokulturell, immer multikulturell, und auch sie wird von unbewussten, nicht-rationalen Handlungen mitbestimmt. Es gibt also stets ein "Anderes”, etwas "Fremdes”, das ganz eng zum "Eigenen” und zum "Selbst” hinzugehört.

    Die meisten Wissenschaftler äußern sich heute mit Zurückhaltung und Skepsis zu den Möglichkeiten, zukünftige Entwicklungen vorauszusagen. Eine solche Zurückhaltung und statt dessen die Schärfung des geschichtlichen Blicks hängen auch eng mit der Frage zusammen, ob sich technologische Neuerungen tatsächlich immer so schnell in die gesellschaftliche und soziale Praxis umsetzen lassen und diese sofort dominieren oder ob nicht die retardierenden Momente viel größer sind und die entscheidenden Antworten doch auch weiterhin aus der Mitte der Gesellschaften oder, wie Daniel Bell etwas pathetisch sagt, aus dem "Herzen” einer jeden Gesellschaft kommen.

    Das "Herz” einer Gesellschaft, das sind auch die ungelebten Phantasien und Wünsche, das Verlangen nach der Wiederverzauberung der Welt und einer Re-Ritualisie-rung, Resakralisierung und Wiedereinsetzung des Metaphysischen.

    Ist das moderne und scheinbar ganz und gar unspirituelle Reden von Internet und Mailbox, von virtueller Realität und Simulation nur eine andere Form des Religiösen, ist der virtuelle Raum nicht ebenso immateriell wie Gott? Nimmt man also im Glauben an das technisch Hergestellte wieder Fühlung auf mit einer Gott-ähnlichen Instanz - und entlastet sich solcherart vom realen Weltzustand, der geprägt ist von Kriegen, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut? In dieser Perspektive (Cyberspace gleichsam als "technische Form Gottes”) erscheint der Auseinanderfall von Technologiegläubigkeit und Religiosität als bloßer Schein.

    Kann man sich denn überhaupt vorstellen, dass der Mensch sein Leben in Dienstleistungen und im Verfolgen ökonomischer Interessen, in marktwirtschaftlichen und technischen Überlegungen erfüllt sieht; dass er sich in Lagerhäusern für Daten und Informationen zuhause fühlt und sich von den hohlen Versprechungen blenden lässt, im Cyberspace erfahre er ganz neu seine Individualität und die Gesellschaft würde wahrhaft demokratisch, weil sie global an alle Märkte angeschlossen werde? Ist es nicht vielmehr so, dass Cyberspace selbst mythisch und religiös überhöht, mit Phantasien des Religiösen und Geistigen hoch besetzt wird?

    Ausgangspunkt unserer Überlegungen war das Erstaunen darüber, dass das katastrophale Versagen sogenannter Experten nur sehr partiell in unserer Gesellschaft eine grundsätzliche Infragestellung von Fachleuten nach sich gezogen hat. Die Schuldigen werden vielmehr großenteils noch immer zu Rate gezogen. Ihre Fehleinschätzungen und ihr unverantwortliches Handeln in der Vergangenheit und Gegenwart halten sie nicht davon ab, Prognosen für die Zukunft abzugeben - wenn sie nicht gerade ganz aus dem Geschäft ausgestiegen und zu Hochleistungspilgern geworden sind und sich mit ihren Bonizahlungen im Rucksack unter dem Slogan "Ich bin dann mal weg” verabschiedet haben. Die Zukunftsweissager gefallen sich entweder darin, eine lang andauernde, besonders schwere Zeit ("alles wird noch schlimmer”) vorauszusagen oder den Aufschwung schon am Horizont sich abzeichnen zu sehen.

    Sie gleichen darin den Experten, die Woche für Woche die Fußballergebnisse voraussagen. Selbst wenn sie sich ständig irren, treten sie doch schon in der nächsten Woche wieder als Experten auf, was aber in ihrem Fall keinen Schaden für das Gemeinwohl einer Gesellschaft hat. Ganz anders im Fall der Finanzjongleure.

    Man muss sich natürlich fragen, warum das Ausmaß der Empörung, der Wut, des Zorns gegen diese globalen Glücksspieler nicht viel stärker und nachhaltiger ist. Gut, man kann sie in einer zivilisierten Welt nicht steinigen. Aber könnte man ihnen nicht zum Beispiel im Verbund mit den Bäckern, Metzgern und Gemüsehändlern ihrer Umgebung zeigen, was man von ihnen hält, und ihnen die Lebensmittel verweigern? Jeder trägt doch irgendwelche, solche oder andere Rachephantasien in sich.

    Dass die Frage nach einem Aufbegehren, nach einer emotionalen und affektiven Reaktion von großer Relevanz ist, beweist auch die Hamburger Frühjahrstagung der "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft”, die dieses Jahr unter dem Thema "Politik und Emotionen” stand. Man begründete das Ausbleiben einer "Pogrom-stimmung gegen Manager” damit, dass die von der Krise betroffenen Mitglieder einer Gesellschaft sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, dass ein "gemeinsamer Referenzrahmen” fehlt.

    Es gibt eine partielle "Empörungsblindheit” gegen die Manager, wenn man bei den Banken und den Aktien kein Geld verloren hat, weil man schon vorher keines hatte oder man ohnehin bereits arbeitslos war. Die Menschen müssen sich, um sich zu solidarisieren, ungefähr gleichermaßen ungerecht behandelt fühlen und sich als Opfer von Machenschaften vorkommen. Ist, wie in diesem Fall, die Schuld der Manager öffentlich so weitgehend anerkennt, kann sich eine ungezügelte Wut nicht spontan auf sie entladen.

    Hinzu kommt: Wenn sich der Irrsinn der Fehlspekultationen und die weitergehenden Bonuszahlungen an die Manager so vollständig unserer Vorstellungen entziehen, lässt sich nur schwer eine denkbare Strategie der Auflehnung finden. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte ja mit all dem auch vorher nichts zu tun. Warum sollten sie jetzt auf die Barrikaden steigen, ein grundlegendes Umdenken und Werte wie Kultur, Geist, Ethik, Verantwortungsgefühl fordern?