Welch eine Freiheit der Untertreibung und Ironie angesichts der geschilderten Fahrten in Alptraumzügen und Lastwagen, der Nachtmärsche und Kamelritte, der Verirrungen im Niemandsland:
"Erstarrt, verrenkt, verkrümmt lagen wir da ... steif vor Kälte, fast erstickt."
Der "Spaziergang" - von etwas anderer Art als Seumes "Spaziergang nach Syrakus" 1801 -, der Fleming und seine kleine Gruppe in unbekannte Regionen führte, offenbart sich dem Leser als ein freiwillig gewähltes Wagnis, das sich einzig durch den Erfahrungshunger und die Wißbegierde der Reisenden (gepaart mit einer Portion Fatalismus und schwarzem Humor) rechtfertigt, und dies - wie angenehm! - an gute Laune und den Wunsch koppelt, die Absurdität und Unbegreiflichkeit in vielen erlebten Situationen aufscheinen zu lassen. Schließlich zählte nur eins: "Wir waren unterwegs."
Eines Tages ist die Reise, das Unterwegssein, unwiederbringlich vorbei. An ihre Stelle treten: Namen, Ortsangaben, Topographien des Realen, Imaginären und Konstruierten, Erinnnerungsfetzen neu zusammengesetzt. Eine andere Art der Anordnung beginnt: Die Reise mit den Wörtern auf dem Papier. Und letzlich nur von dieser Reise bekommt der Leser ein mehr oder weniger authentisches Bild.
Zu Beginn des Romans "Die Belagerung zu Peking" vergleicht Peter Fleming sein Vorgehen mit einem Puzzelspiel, bei dem er die Berichte vieler Augenzeugen und Gewährsleute zusammengesetzt und und geformt und sich dabei stets davor gehütet habe, die "Dinge zu dramatisieren", zumal die tatsächlichen Ereignisse um den Boxeraufstand schon dramatisch genug gewesen seien.
"Die ausländischen Gesandschaften in Peking wurden belagert, die eingeschlossenen Menschen von einer internationalen Streitmacht befreit, und es wurde viel geplündert. Daran erinnert sich wohl jeder. Aber wer die Boxer waren und warum und wann sich das alles ereignet hat, das haben viele ganz vergessen und andere vielleicht nie ganz verstanden." Fleming gelingt es, in einer Art szenischer Erzählung die 1900 stattgefundene Belagerung Pekings zu rekonstruieren, ja zu inszenieren: die Hauptfiguren sind die Belagerten, die Angreifer und die Befreier. Alle drei Gruppen wußten praktisch nichts voneinander. Ihre Aufzeichnungen, in denen sie ihre (falschen) Vorstellungen vom Tun der anderen wiedergaben, wurden von Fleming in den fünfziger Jahren erstmals in Verbindung zueinander gebracht und mit Aussagen von noch lebenden Augenzeugen verglichen.
"Der Boxeraufstand war eine spontane, halbgeheime Volksbewegung, die 1898 unter dem harten Bauernvolk von Schantung begann, über die Grenzen in die hauptstädtische Provinz Tschili übergriff und im Frühsommer 1900 zu einer Feuersbrunst wurde, von deren wilder Glut die Welt in Furcht und Schrecken zurückschauderte."
Anders als in den "Tartaren-Nachrichten" ist hier, in diesem Bericht, die offene Schreibform begrenzt und auch fokussiert durch ein geschichtliches Ereignis. Ein Ereignis, das so kann Fleming darlegen, nicht zu verstehen ist, wenn man das Ausmaß der Aggressionen unterschätzt, mit denen die ausländischen Mächte in den etwa sechzig Jahren vor 1900 China attackierten. Die eklatanten Verletzungen der chinesischen Souveränität - Deutschland spielte dabei eine unrühmliche Hauptrolle - hatten eine massive Fremdenfeindlichkeit in China zur Folge. Obwohl es sich bei dem Boxeraufstand um eine Bewegung innerhalb des Landes handelte, lagen die Ursachen doch außerhalb der Landesgrenzen. Die chinesischen Bauern kämpften nicht, um sich gegen ihre eigenen Mandschu-Herrscher aufzulehnen, sondern um der Ausplünderung durch die, wie es hieß, fremden Teufel, die Barbaren und Hunnen ein Ende zu setzen. So kam es zu der geradezu paradoxen Solidarisierung von Seiten der unterdrückten Bauern mit ihren tyrannischen Machthabern - gipfelnd in dem Ruf "Schutz der Ts’ing Dynastie!" - und auch einer Inanspruchnahme der Bauern von Seiten der Mandschu-Dynastie, die sich auf diese Weise in der Lage sah, militärisch einen Sieg gegen die Ausländer zu erringen. Wie ein Wahn breitete sich die Idee eines erfolgreichen Widerstands gegen die fremden Mächte aus. Das altmodische chinesische Regime sah sich auf einmal ganz neu belebt von der wilden Begeisterung und der, wie man glaubte, magischen Kräfte und der Unverwundbarkeit der Boxer, einer gleichsam archaischen Kämpfertruppe, die zudem kostenlos zu haben war.
"In knapp zwei Jahren breitete sich der Boxeraufstand auf der hungernden Ebene Nordchinas aus, wanderte von Dorf zu Dorf wie ein Heidebrand, der durch das dürre Gras von einem Ginsterbusch zum anderen kriecht. In der letzten Maiwoche 1900 standen die Boxer vor den Toren Pekings."
Fleming begeht nicht den Fehler, ein pittoreskes Bild der Boxer anzufertigen und etwa den farbenprächtigen Kriegsschmuck oder die begangenen Grausamkeiten auszumalen, sondern konzentriert sich auf die Zusammenhänge, aus denen heraus die Boxer (die ohne irgendeine Führergestalt agierten und deren Schlachtruf "Scha! Scha!" , "Töte! Töte!" lautete) ihren Kampf führten. China war zu jener Zeit in ein beengendes und größtenteils für das eigene Land unbrauchbares Netz von Verträgen eingebunden. Im Wunsch, diese sich immer mehr zusammenziehenden Maschen aufzureißen, vereinigten sich die chinesischen Herrscher mit dem gemeinen Volk: die einen in der Rückbesinnung auf ihre Macht, die anderen im Glauben an ihre Kraft und Magie, die sie auch aus ihrer früheren Zugehörigkeit zu einer Geheimgesellschaft bezogen. Die zentrale, beide Seiten im Kampf gegen die Ausländer vereinende, Figur war die Kaiserin-Witwe, die unumschränkte Herrscherin über das Mandschu-Reich. Es war ihr unverhüllter Wunsch, die Gesandten fremder Mächte einem Massacker auszuliefern. Die Befreiung Pekings schließlich - die nach einem vage entwickeltem Plan verlief und von Artilleriefeuer aufs Geratewohl und Frontalangriffen bestimmt war - entschied sich bereits in der ersten, vor allem von den Japanern getragenen Schlacht, die den Chinesen einen gewaltigen Schrecken einjagte, von dem sie sich nicht wieder erholten. Das dichte und sorgfältig ausgearbeitete System von Verschanzungen und Gräben wurde in der zweiten Schlacht hauptsächlich von Engländern, Amerikanern, Russen und Franzosen, größtenteils wild und ohne Plan angegriffen.
Zu Ende seiner Studie greift Fleming noch einmal die grundsätzliche Frage auf, warum es überhaupt zur Belagerung der Gesandtschaften gekommen sei und sieht darin letzlich ein niemals ganz zu lüftendes Geheimnis: War es der Zwang der chinesischen Herrscher, für die angestaute Wut der Boxer ein Ventil zu finden, oder mehr der allgemeine Haß gegen die Fremden und die Idee, sie an der verwundbarsten Stelle zu treffen? Gab es gar eine Art Todessehnsucht der untergehenden Dynastie, gepaart mit dem blinden Vertrauen der Kaiserin, in das Urteil ihrer militärischen Berater?
"Das As der Wahrheit fehlt", stellt Fleming fest." Der Historiker kann nicht mehr tun, als die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß vielleicht von allen außerordentlichen Ereignissen, die mit der Belagerung zusammenhängen, das außerordentlichste Ereignis die Belagerung selbst war. Beinahe ebenso seltsam wie die chinesischen Angriffe selbst war ihr Mißlingen. Die chinesischen Anstrengungen, die Gesandschaften zu erstürmen und ihre Insassen niederzumetzeln, schlugen fehl, und China wurde für dieses Unterfangen schwer bestraft. Was aber wäre geschehen, wenn es geglückt wäre? Die Folgen für China wären verheerend gewesen. Die kleinste der elf Mächte hatte es vor fünf Jahren im Krieg allein besiegt; jetzt aber wäre die ganze Welt auf China gestürzt, um die abscheuliche, unverzeihliche Tat seiner Herrscher und deren Helfershelfer zu rächen. Darüber konnte auch nicht der geringste Zweifel bestehen."
"Erstarrt, verrenkt, verkrümmt lagen wir da ... steif vor Kälte, fast erstickt."
Der "Spaziergang" - von etwas anderer Art als Seumes "Spaziergang nach Syrakus" 1801 -, der Fleming und seine kleine Gruppe in unbekannte Regionen führte, offenbart sich dem Leser als ein freiwillig gewähltes Wagnis, das sich einzig durch den Erfahrungshunger und die Wißbegierde der Reisenden (gepaart mit einer Portion Fatalismus und schwarzem Humor) rechtfertigt, und dies - wie angenehm! - an gute Laune und den Wunsch koppelt, die Absurdität und Unbegreiflichkeit in vielen erlebten Situationen aufscheinen zu lassen. Schließlich zählte nur eins: "Wir waren unterwegs."
Eines Tages ist die Reise, das Unterwegssein, unwiederbringlich vorbei. An ihre Stelle treten: Namen, Ortsangaben, Topographien des Realen, Imaginären und Konstruierten, Erinnnerungsfetzen neu zusammengesetzt. Eine andere Art der Anordnung beginnt: Die Reise mit den Wörtern auf dem Papier. Und letzlich nur von dieser Reise bekommt der Leser ein mehr oder weniger authentisches Bild.
Zu Beginn des Romans "Die Belagerung zu Peking" vergleicht Peter Fleming sein Vorgehen mit einem Puzzelspiel, bei dem er die Berichte vieler Augenzeugen und Gewährsleute zusammengesetzt und und geformt und sich dabei stets davor gehütet habe, die "Dinge zu dramatisieren", zumal die tatsächlichen Ereignisse um den Boxeraufstand schon dramatisch genug gewesen seien.
"Die ausländischen Gesandschaften in Peking wurden belagert, die eingeschlossenen Menschen von einer internationalen Streitmacht befreit, und es wurde viel geplündert. Daran erinnert sich wohl jeder. Aber wer die Boxer waren und warum und wann sich das alles ereignet hat, das haben viele ganz vergessen und andere vielleicht nie ganz verstanden." Fleming gelingt es, in einer Art szenischer Erzählung die 1900 stattgefundene Belagerung Pekings zu rekonstruieren, ja zu inszenieren: die Hauptfiguren sind die Belagerten, die Angreifer und die Befreier. Alle drei Gruppen wußten praktisch nichts voneinander. Ihre Aufzeichnungen, in denen sie ihre (falschen) Vorstellungen vom Tun der anderen wiedergaben, wurden von Fleming in den fünfziger Jahren erstmals in Verbindung zueinander gebracht und mit Aussagen von noch lebenden Augenzeugen verglichen.
"Der Boxeraufstand war eine spontane, halbgeheime Volksbewegung, die 1898 unter dem harten Bauernvolk von Schantung begann, über die Grenzen in die hauptstädtische Provinz Tschili übergriff und im Frühsommer 1900 zu einer Feuersbrunst wurde, von deren wilder Glut die Welt in Furcht und Schrecken zurückschauderte."
Anders als in den "Tartaren-Nachrichten" ist hier, in diesem Bericht, die offene Schreibform begrenzt und auch fokussiert durch ein geschichtliches Ereignis. Ein Ereignis, das so kann Fleming darlegen, nicht zu verstehen ist, wenn man das Ausmaß der Aggressionen unterschätzt, mit denen die ausländischen Mächte in den etwa sechzig Jahren vor 1900 China attackierten. Die eklatanten Verletzungen der chinesischen Souveränität - Deutschland spielte dabei eine unrühmliche Hauptrolle - hatten eine massive Fremdenfeindlichkeit in China zur Folge. Obwohl es sich bei dem Boxeraufstand um eine Bewegung innerhalb des Landes handelte, lagen die Ursachen doch außerhalb der Landesgrenzen. Die chinesischen Bauern kämpften nicht, um sich gegen ihre eigenen Mandschu-Herrscher aufzulehnen, sondern um der Ausplünderung durch die, wie es hieß, fremden Teufel, die Barbaren und Hunnen ein Ende zu setzen. So kam es zu der geradezu paradoxen Solidarisierung von Seiten der unterdrückten Bauern mit ihren tyrannischen Machthabern - gipfelnd in dem Ruf "Schutz der Ts’ing Dynastie!" - und auch einer Inanspruchnahme der Bauern von Seiten der Mandschu-Dynastie, die sich auf diese Weise in der Lage sah, militärisch einen Sieg gegen die Ausländer zu erringen. Wie ein Wahn breitete sich die Idee eines erfolgreichen Widerstands gegen die fremden Mächte aus. Das altmodische chinesische Regime sah sich auf einmal ganz neu belebt von der wilden Begeisterung und der, wie man glaubte, magischen Kräfte und der Unverwundbarkeit der Boxer, einer gleichsam archaischen Kämpfertruppe, die zudem kostenlos zu haben war.
"In knapp zwei Jahren breitete sich der Boxeraufstand auf der hungernden Ebene Nordchinas aus, wanderte von Dorf zu Dorf wie ein Heidebrand, der durch das dürre Gras von einem Ginsterbusch zum anderen kriecht. In der letzten Maiwoche 1900 standen die Boxer vor den Toren Pekings."
Fleming begeht nicht den Fehler, ein pittoreskes Bild der Boxer anzufertigen und etwa den farbenprächtigen Kriegsschmuck oder die begangenen Grausamkeiten auszumalen, sondern konzentriert sich auf die Zusammenhänge, aus denen heraus die Boxer (die ohne irgendeine Führergestalt agierten und deren Schlachtruf "Scha! Scha!" , "Töte! Töte!" lautete) ihren Kampf führten. China war zu jener Zeit in ein beengendes und größtenteils für das eigene Land unbrauchbares Netz von Verträgen eingebunden. Im Wunsch, diese sich immer mehr zusammenziehenden Maschen aufzureißen, vereinigten sich die chinesischen Herrscher mit dem gemeinen Volk: die einen in der Rückbesinnung auf ihre Macht, die anderen im Glauben an ihre Kraft und Magie, die sie auch aus ihrer früheren Zugehörigkeit zu einer Geheimgesellschaft bezogen. Die zentrale, beide Seiten im Kampf gegen die Ausländer vereinende, Figur war die Kaiserin-Witwe, die unumschränkte Herrscherin über das Mandschu-Reich. Es war ihr unverhüllter Wunsch, die Gesandten fremder Mächte einem Massacker auszuliefern. Die Befreiung Pekings schließlich - die nach einem vage entwickeltem Plan verlief und von Artilleriefeuer aufs Geratewohl und Frontalangriffen bestimmt war - entschied sich bereits in der ersten, vor allem von den Japanern getragenen Schlacht, die den Chinesen einen gewaltigen Schrecken einjagte, von dem sie sich nicht wieder erholten. Das dichte und sorgfältig ausgearbeitete System von Verschanzungen und Gräben wurde in der zweiten Schlacht hauptsächlich von Engländern, Amerikanern, Russen und Franzosen, größtenteils wild und ohne Plan angegriffen.
Zu Ende seiner Studie greift Fleming noch einmal die grundsätzliche Frage auf, warum es überhaupt zur Belagerung der Gesandtschaften gekommen sei und sieht darin letzlich ein niemals ganz zu lüftendes Geheimnis: War es der Zwang der chinesischen Herrscher, für die angestaute Wut der Boxer ein Ventil zu finden, oder mehr der allgemeine Haß gegen die Fremden und die Idee, sie an der verwundbarsten Stelle zu treffen? Gab es gar eine Art Todessehnsucht der untergehenden Dynastie, gepaart mit dem blinden Vertrauen der Kaiserin, in das Urteil ihrer militärischen Berater?
"Das As der Wahrheit fehlt", stellt Fleming fest." Der Historiker kann nicht mehr tun, als die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, daß vielleicht von allen außerordentlichen Ereignissen, die mit der Belagerung zusammenhängen, das außerordentlichste Ereignis die Belagerung selbst war. Beinahe ebenso seltsam wie die chinesischen Angriffe selbst war ihr Mißlingen. Die chinesischen Anstrengungen, die Gesandschaften zu erstürmen und ihre Insassen niederzumetzeln, schlugen fehl, und China wurde für dieses Unterfangen schwer bestraft. Was aber wäre geschehen, wenn es geglückt wäre? Die Folgen für China wären verheerend gewesen. Die kleinste der elf Mächte hatte es vor fünf Jahren im Krieg allein besiegt; jetzt aber wäre die ganze Welt auf China gestürzt, um die abscheuliche, unverzeihliche Tat seiner Herrscher und deren Helfershelfer zu rächen. Darüber konnte auch nicht der geringste Zweifel bestehen."