Freitag, 29. März 2024

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Die Beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?

Der Ethnologe Clifford Geertz hat vor Jahren den Begriff der "Dichten Beschreibung" geprägt, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass wir erst dann das uns Unvertraute und Unbekannte beschreiben und deuten können, wenn wir es modellhaft zuspitzen, von Details abstrahieren und auf die zugrundeliegenden Strukturen hin verdichten; wenn wir also Sinn und Bedeutung in den Situationen erkennen, wenn wir das "Bedeutungsgewebe" entziffern. Das, was wir gewöhnlich Fakten und Daten nennen, sind immer schon unsere Interpretationen. An exponierter Stelle seines neuen Buches spricht der in Bamberg lehrende Soziologe Gerhard Schulze davon, dass es ihm gerade um eine solche verdichtete Beschreibung gehe; eine Beschreibung der Erfahrung von Beschleunigung und Entgrenzung, die wir täglich machen. Um diese kollektive Erfahrung angemessen in den Blick zu bekommen, sei es notwendig, unseren Begriff von Wachstum nicht nur ökonomisch zu verstehen:

Hans-Jürgen Heinrichs | 02.06.2003
    Wenn wir uns Wachstum nicht wie gewohnt als monetäre Größe vorstellen, sondern diesen Begriff auf das Volumen der Handlungsmöglichkeiten beziehen, wenn wir uns also die Veränderung der tatsächlichen Lebensverhältnisse vorstellen, dann erkennen wir, wie stetig unsere Wahlmöglichkeiten und Kombinationsmöglichkeiten zunehmen.

    Aus diesem Grund triumphiere schließlich die Vision selbstgemachten Heils über die apokalyptischen Prophezeiungen. Was die Menschen sich, in technischer Hinsicht, versprechen, bekommen sie auch: noch schnellere Verkehrsmittel und Waffen und jede Form der Telekommunikation.

    Die Schnelligkeit unserer Zeit, von der dieses Buch zu großen Teilen handelt, wirkt sich auch auf das Buch selbst aus, und zwar in Form der extremen Schnelligkeit von Informationen und Einschätzungen. So haben gerade die letzten Monate, in denen der Autor die Studie schon abgeschlossen hatte, den Glauben der Menschen in eine sich stetig in Richtung Fortschritt entwickelnde Geschichte von Grund auf erschüttert, und zwar sowohl in die ökonomische Zukunft unseres Landes als auch in Möglichkeiten, diplomatisch der Irak-Krise Herr zu werden. Und auch der neueste Stand der Genforschung - mit den vielen kleinen und größeren Katastrophen und dem Missbrauch durch Scharlatane - hat die Idee, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, fundamental bedroht. Wir müssen uns also gar nicht, wie Gerhard Schulze vorschlägt, tausend Jahre in die Zukunft denken, um die Fragilität und auch Lächerlichkeit vieler unserer Fortschrittsphantasien zu erkennen.

    Wird man dann immer noch den McKinsey-Berater ins Unternehmen holen? Wird man immer noch an der Optimierung von Verkehrsmitteln arbeiten? Werden die Menschen nach wie vor ihren persönlichen Gerätepark lebenslang verbessern, indem sie ältere Apparate gegen leistungsstärkere Neuentwicklungen austauschen? Werden die Nahrungsmittelproduzenten auch in tausend Jahren mit dem Angebot noch verlockenderer Marmeladen konkurrieren, die Tourismuskonzerne mit noch faszinierenderen Reisen, die Sexvermarkter mit noch erregenderen Lustartikeln, die Medien mit noch unterhaltsameren Inhalten?

    Der Titel von Schulzes Buch geht auf eine berühmte Schrift des Philosophen Leibniz aus dem Jahre 1710 zurück, in der der Universalgelehrte behauptete, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Weil Gott alles wisse, müsse er die beste aller möglichen Welten kennen; weil er alles könne, liege es in seiner Macht, sie einzurichten; und weil Gott gütig sei, tue er es auch. Demgegenüber haben wir uns in der westlichen Kultur mehr und mehr mit der Vorstellung vertraut gemacht, dass die beste aller Welten noch nicht verwirklicht ist und dass die Suche danach eines unserer charakteristischen Merkmale ist. Wir haben gelernt, uns selbst kritisch zu beobachten, kontroverse und widersprüchliche Diskurse und Debatten zu führen. Wir werden uns selbst zum Schicksal und erkennen auch das unserem Erkennen und Handeln eigene Moment des Absurden.

    Die beste aller Welten: Dieser Titel bezeichnet weder ein schon erreichtes noch wenigstens ein irgendwann in der fernen Zukunft erreichbares Ziel. Er charakterisiert lediglich den zentralen Suchbegriff der Kultur des Westens, ein Minimum an Konsens, dem jedoch ständiger Zwist über die einzuschlagende Richtung entspringt.

    Wie könnte, fragt der Autor, eine Fortsetzung der Moderne aussehen? Wie kommen wir aus dem starren Fortschrittsmodell heraus, das die Breite unseres Denkens und Wollens, unserer Empfindungen und unserer Vernunft extrem einengt? Es geht letztlich um einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel, der sich dem "Steigerungsspiel" unserer Gesellschaft widersetzt und das Wahnhafte im reinen Wachstumsdenken erkennt.

    Führt das Steigerungsspiel sein eigens Ende herbei, indem es allmählich seine kritisierbaren Aspekte enthüllt? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Gelegentliches Zögern, Unbehagen, Veränderungen von Konsumgewohnheiten, Wellen von Aussteigern, nachwachsende Protestgenerationen und andere Anzeichen von Distanz sind nicht mit einer wirklichen Krise des Steigerungsspiels zu verwechseln.

    "Steigerung" und "Ankunft" bezeichnet Schulze als gleichzeitig ablaufende Formen der voranschreitenden Moderne. Der Begriff "Ankunft" soll dabei die "allmähliche Aneignung eines Möglichkeitsraums" benennen. Die Ankunft trete zunehmend deutlicher in den Vordergrund, gerade weil die "Reise der Steigerung" immer noch weiter geht.

    Das Vertrautwerden mit dem Terrain, auf dem wir uns bewegen, wird zur Existenzfrage. ... Etwas Neues ist in den Blick zu nehmen, ohne dass man es sich erlauben könnte, das Alte aus den Augen zu verlieren.

    Schulze möchte das "Projekt der Ankunft" an das "Projekt der Steigerung" koppeln, da wir zur Zeit doppelt herausgefordert seien. In vielem seien unsere Handlungsmuster teilweise rational, teilweise jedoch rein verschwenderisch und absurd. Aber die "ständige Nähe des Absurden zur menschlichen Existenz" müsse als die Herausforderung unserer Zeit erkannt werden.

    Warum scheint gerade jetzt die Zeit reif zu sein für eine Gegenwartskritik unter dem Gesichtspunkt des Absurden? Weil die Moderne in einem Stadium angekommen ist, in dem ihre eigene Modernisierung ansteht. Es geht darum, den Begriff der Rationalität fortzuschreiben und ihn dort neu zu fassen, wo Steigerung zu Ankunft geführt hat.

    Viele der von uns lange Zeit hochgeschätzten Errungenschaften des Fortschritts beginnen uns langsam zu langweilen und zu überfordern. Sind Fragen der Lebenskunst und des Zusammenlebens nicht wichtiger und uns angemessener als immer noch mehr Tempo, Effizienz und Abwechslung? Das Neue an diesen Fragen und Themen ist, dass wir sie prinzipiell mitgestalten können.

    Gerhard Schulze, der 1992 mit einer Studie über die Erlebnisgesellschaft hervorgetreten ist, hat mit seinem neuen Buch wieder eine Zeit-Diagnose versucht, dieses Mal eine, die zeigen soll, dass das 21. Jahrhundert nicht nur eines zunehmender Beschleunigung und stetigen Wachstums ist. Seine Formel, die er bis zum Überdruß und bei jeder sich bietenden Gelegenheit benutzt, heißt "Steigerungsspiel". Dies nimmt zuweilen abstruse Ausmaße an, wenn er selbst in seiner Bibliographie die Kommentare zu den einzelnen Büchern auf die Begriffe "Steigerungsspiel" und "Steigerungslogik" hin ausrichtet. Außerdem hat er manchmal sowohl in der kommentierten Bibliographie wie auch im Text einen Zug zu extremer Simplifizierung (die so weit geht, dass man etwa ein Buch wie Lévi-Strauss' Traurige Tropen nicht mehr wiedererkennt) bei gleichzeitiger Neigung zu einem nervenden soziologischen Jargon. Selbst ganz einfache Beschreibungen sozialer Tatsachen werden schein-aufgewertet durch Substantive wie etwa "Fortsetzungsvermutung" (womit er sagen will, dass wir unsere Möglichkeiten auch in Zukunft ständig erweitern können). Und selbst in den einfachsten Beispielen, wie etwa der Beschreibung einer Reise von Australien nach Papua-Neuguinea, läuft alles darauf hinaus, dass diese Reise im "Ambiente des Steigerungsspiels" beginne. Tausende von Szenen, so seine These, hängen an Tausenden von Schauplätzen zusammen und folgen einer Idee. Alle Akteure orientierten sich, weltweit, an einer gemeinsamen Steigerungslogik.

    Am Ende wird weder die Alleinherrschaft des Steigerungsspiels stehen noch sein völliger Zusammenbruch. Was sich andeutet, ist eine Synthese der Handlungslogiken von Steigerung und Ankunft.

    Schulzes Anliegen besteht darin, in der Gesellschaft, in sozialen und kulturellen Zusammenhängen, stets das Besondere zu erkennen und dann zu beschreiben, welches Singuläre sich wiederholt, intersubjektiv und objektiv wird. Auf der Basis dieser Kulturwahrnehmung entwickelt er eine soziologische Beschreibung des neuen Zeitalters, das dem Menschen in seiner Kulturaneignung ebenso viel wie in seiner Naturaneignung abverlangen werde.

    Dabei wird, trotz aller schein-objektiven Terminologie, doch immer auch der von ganz subjektiven Ängsten und Wünschen geprägte Forscher Gerhard Schulze erkennbar, etwa, wenn er seiner Angst Ausdruck gibt, dass sich eine Gesellschaft entwickeln könnte, die sich von der technologischen Dominanz und strengen Logik gänzlich abwendet und sich nur noch gefällt im Augenblicklichen, Modischen und Episodischen, in einem, wie er sagt, "galoppierenden Episodismus".

    ... vom Schematismus des Maschinenmodells zu einer umfassenden Entschematisierung, die alles Gegenwärtige nur noch als vorbeihuschendes Phänomen erfassen kann.