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Die "Bibliothèque de la Pléiade"

Ein Interview mit: Hugues Pradier, Direktor der "Bibliothèque de la Pléiade" im Verlagshaus Gallimard, Paris und

Christoph Peters | 27.06.2000
    Gerald Stieg, Herausgeber der lyrischen Werke von Rainer Maria Rilke in der "Bibliothèque de la Pléiade" und Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Paris III (in Asnières)

    Charles de Gaulle, der einstige französische Staatspräsident und General, hat jetzt - dreißig Jahre nach seinem Tod - einen ganz unmilitärischen Ritterschlag erhalten: den zum Schriftsteller von internationalem Rang. Das Erscheinen seiner "Memoiren" in der "Bibliothèque de la Pléiade" ist - dem Selbstverständnis der Franzosen zufolge - gleichbedeutend mit der Aufnahme in das Pantheon der Weltliteratur. Denn die im Pariser Verlagshaus Gallimard erscheinende Reihe hat den Status einer richtenden Instanz. Dazu Hugues Pradier:

    Hugues Pradier, Direktor der "Bibliothèque de la Pléiade", läßt keinen Zweifel: Nur die größten Meisterwerke, nur die berühmtesten Schriftsteller der Weltliteratur können damit rechnen, in die 1931 gegründete Reihe aufgenommen zu werden. Zeichen setzen für die Ewigkeit - das ist der Selbstanspruch. Und gerade der Blick über den französischen Tellerrand hinaus ist es, der nach Gerald Stieg die "Bibliothèque de la Pléiade" von einer national ausgerichteten Edition wie dem Deutschen Klassiker Verlag unterscheidet:

    "Ich glaub´, Gallimard würde vermutlich sagen: Wir sind die Championsleague - wohl auch mit einem gewissen Recht. Das Amüsante daran ist, das natürlich das äußere Gewand dabei eine Rolle spielt. Haben Sie schon einmal an einer Pléiade gerochen? Lammleder! Lammleder, und das Ganze wird also von den größten Spezialisten im französischen also Bibliophilensektor gemacht. [...] Der ästhetische Aspekt ist fast so wichtig wie der seriös gemachte Inhalt."

    Gerald Stieg, gebürtiger Österreicher mit französischem Paß, hat für die "Bibliothèque de la Pléiade" die Gedichte Rainer Maria Rilkes ediert. Wie die meisten der Herausgeber, die für Einführung, kritischen Apparat und Übersetzung der Originaltexte verantwortlich sind, arbeitet er als Universitätsprofessor:

    "Ich hab´ natürlich außerordentlich überrascht und extrem geehrt reagiert. Also ich les´ ganz gerne die Bücher vom Pierre Bourdieu, zum Beispiel den "Homo academicus", und dort haben sie ja deutlich gemacht, welches die distinktiven Zeichen des Ruhms in Frankreich sind, des akademischen Ruhms, und da ist die Herausgabe einer Pléiade natürlich unter den Spitzenprodukten, nicht. Also das gehört zum akademischen Lorbeer schlechthin, also offenkundig."

    4 bis 7 Jahre werden für die Herausgabe eines Pléiade-Bandes veranschlagt. Von den 465 Bänden, die die Reihe mittlerweile umfaßt, werden jährlich rund 350.000 Exemplare verkauft. Das sind 15 Prozent des Jahresumsatzes von Gallimard. Damit schreibt die nach der bedeutendsten Dichterschule der Renaissance benannte "Bibliothèque de la Pléiade", laut ihrem Direktor Hugues Pradier, schwarze Zahlen:

    "Das ist keine Reihe, die Verluste macht, ganz im Gegenteil, das ist eine Reihe, die sich für den Verlag rentiert. Wenn ich sage, die Hochschullehrer machen die Arbeit, dann tun sie das nicht für ihre Kollegen oder ihre Studenten. Sie arbeiten für zehn-, zwölf- oder fünfzehntausend Leser. Darunter sind auch ein paar hundert Universitätsangehörige, doch der Rest zählt zum breiten Publikum. Das sind Leute, die aus Vergnügen lesen. Die große Schwierigkeit der Reihe ist daher, von Spezialisten - im allgemeinen sind es große Spezialisten - eine qualitativ hochwertige, aber für ein breiteres Publikum verständliche Arbeit zu erhalten." Dazu Gerald Stieg:

    "Die Zusammenarbeit mit dem Lektorat von Gallimard gehört für mich zu den fruchtbarsten Erfahrungen, auch an der Universität, und zwar deshalb, weil das Prinzip dieses Lektorats lautet: Eine Pléiade ist nicht bestimmt für ein akademisches Spezialistenpublikum, sondern für gebildete Leser. Man hat mir also immer wieder gesagt: "Vorsicht, Ihre Leser sind nicht Universitätsprofessoren, sondern Notare, Rechtsanwälte, Apotheker und Ärzte." Und das heißt mit anderen Worten: ich bin gezwungen worden, meine Einleitung, meine Kommentare in einem für alle verständlichen Französisch zu halten, also ohne Jargon literaturwissenschaftlicher Natur, ganz gleich welcher Art. [...] Und eine gewisse Jagd also auf Fremdwörter hat auch stattgefunden."

    Eine Erfolgsgeschichte wie die der "Bibliothèque de la Pléiade" erscheint Gerald Stieg im deutschsprachigen Raum kaum denkbar. Anders als bei uns sei das Buch in Frankreich viel tiefer im gesellschaftlichen Bewußtsein verankert. Wie sonst solle man sich auch erklären, daß das "Magazine littéraire" eine Auflage von über 80.OOO, die Literaturzeitschrift "Lire" sogar von 150.000 Exemplaren erreicht. In jedem Fall: eine zweisprachige Anthologie ausländischer Dichtung, die 2000 Seiten umfaßt und 135 Mark kostet, ließe sich in Deutschland wohl kaum finanzieren. Ein solches Wagnis ist die "Bibliothèque de la Pléiade" 1993 mit ihrer zweisprachigen Anthologie deutscher Lyrik eingegangen. Hugues Pradier:

    "Wir haben sie schon zwei Mal neu aufgelegt. Das ist ein großer Erfolg. Aber ich muß zugeben, das war keine sichere Sache, weil die Franzosen, wie Sie wissen, nicht sonderlich gut deutsch können. Die Franzosen sind nicht sehr sprachbegabt, und im Grunde gab es außerhalb des Universitätsbereichs noch keinen zweisprachigen Markt. Wir haben es also darauf ankommen lassen. Zudem hatten wir beispielsweise für Heinrich Heine keinen eigenen Band vorgesehen, und es bot sich nun die Möglichkeit, ihn in dieser Anthologie unterzubringen. Da sind Dichter vertreten, die nie einen eigenen Pléiade-Band für sich haben werden. So aber können wir sie einem breiten französischen Publikum, das nicht nur aus Studenten besteht, bekannt machen oder in Erinnerung rufen, einem kultivierten Publikum, das Spaß am Lesen hat."

    Lyrikbände haben im französischen Literaturbetrieb immer noch ihren festen Platz. Zu den mythischen Dichtern gehört Rainer Maria Rilke. Seine "Duineser Elegien" liegen in vierzehn verschiedenen Übersetzungen vor. Gérald Stieg und sein Übersetzerstab haben eine fünfzehnte hinzugefügt. Denn für einen Pléiade-Band wird jede Zeile überprüft, ja oft genug neuübersetzt.

    "Sie müssen bedenken: also Rilkes Gedichte auf französisch haben eine Startauflage von 10.000 Exemplaren, die auf jeden Fall verkauft werden, 5.000 davon sind schon als Abonnements vergeben. Es gibt also Menschen, die auf die Pléiade, auf alle Bände der Pléiade abonniert sind. Die gehören also sozusagen in den bildungsbürgerlichen Bücherschrank. Das Unternehmen ist auf jeden Fall also gewinnbringend, auf jeden Fall prestigebringend, auch für den Verlag. Aber trotzdem wiederhole ich: im wesentlichen wird die Pléiade doch von der französischen Universität insofern finanziert, als kein freier Mitarbeiter oder Übersetzer oder sonst jemand für ein derart niedriges Honorar jahrelang diese Arbeit leisten würde. Das gilt auch für die Übersetzer. Die meisten Übersetzer sind gleichzeitig entweder Universitätsprofessoren oder sonst irgendwie mit der Universität verbunden."

    Nur elf Schriftsteller haben es zu Lebzeiten in die "Bibliothèque de la Pléiade" geschafft: André Gide war 1939 der erste, André Malraux 1947 mit 46 Jahren der jüngste und die kürzlich verstorbene Nathalie Sarraute 1996 die vorerst letzte. Saint-John Perse und René Char haben ihre Bände selbst herausgegeben, Marguerite Yourcenar als einzige einen kritischen Apparat verweigert. Andere Erwählte, so Samuel Beckett, können noch nicht erscheinen, weil sich ihre Verlage - in diesem Fall die berühmten "Éditions de Minuit" - querstellen. Sind die Großen der Weltliteratur erst einmal im "Park des Imaginären" vertreten - wie André Malraux die "Bibliothèque de la Pléiade" genannt hat -, kommt ihnen auch seitens der Literaturkritik eine Sonderbehandlung zugute. Gerald Stieg:

    "Das gehört aber mit zu diesem Syndrom des Mythos Pléiade: Die Großrezensionen sind keine literaturwissenschaftlichen Rezensionen, sondern die Reaktionen von Autoren, nicht, also Philippe Sollers zum Beispiel oder Hector Bianciotti und ähnliche Figuren oder Jorge Semprun, nicht, das sind also Autoren, die die Pléiade besprechen, vor allem also, wenn es sich um Autoren handelt, die im französischen Bewußtsein eine große Rolle spielen. Autor: Der Mythos lebt. Zu verdanken ist er übrigens keinem Franzosen, sondern dem russischen Immigranten Jacques Scifrin. 1931, im Gründungsjahr, lancierte er, wie Hugues Pradier erzählt, als erste Pléiade-Ausgabe die Werke Charles Baudelaires:

    "Sie erschien damals schon auf diesem sehr dünnen Bibelpapier in einem weichen Ledereinband. Vorbild war für Jacques Scifrin das Meßbuch: ein leichtes Buch, tragbar, einfach mitzunehmen, das in einen Koffer paßt, ohne allzu schwer zu wiegen. Die Idee war, auf kleinstmöglichem Raum die größtmögliche Anzahl Texte unterzubringen. Am Anfang stand also ein verlegerischer Projekt, das vom Materiellen her mit dem heutigen völlig identisch ist, das aber noch keine - ich würde sagen - kritischen Ambitionen hatte, noch keine Anmerkungen, keine Einführungen und solche Dinge, die sehr wichtig geworden sind. 1933 hat Jacques Scifrin dann finanzielle Schwierigkeiten bekommen und Gaston Gallimard hat auf Anraten André Gides die "Éditions de la Pléiade" und die "Bibliothèque de la Pléiade" gekauft."

    Es ist der Beginn einer verlegerischen Erfolgsgeschichte ohnegleichen, einer Erfolgsgeschichte, in der die französische Literatur natürlich stets im Mittelpunkt steht. Das zeigt die Spitze der Bestseller-Liste, die von Antoine de Saint-Exupéry mit mehr als 350.000 verkauften Pléiade-Bänden angeführt wird, gefolgt von Marcel Proust mit mehr als 300.000 und Albert Camus mit mehr als 220.000 Exemplaren. Die französischen Dauerbrenner sichern so die Risiko-Investionen, etwa in chinesische Romane oder in isländische Sagas. Denn Internationalität ist Trumpf in der "Bibliothèque de la Pléiade". Das gilt, so ihr Direktor Hugues Pradier, auch für die Zukunft:

    "Auch in den folgenden Monaten haben wir ein sehr erlesenes, sehr vielfältiges Programm: im Herbst zum Beispiel einen Band mit freigeistigen Romanciers des 18. Jahrhunderts, mit Crébillon und dem Marquis d´Argens; und wir haben zwei Bände, die aus dem Deutschen übersetzt worden sind: den ersten Band von Brechts "Schriften zum Theater" und den ersten Band von Nietzsches "Unzeitgemäßen Betrachtungen"; wir haben eine englische Romanschriftstellerin des 18. Jahrhunderts, Jane Austin, und im September einen Klassiker, der allen Ländern gehört: den "Gottesstaat" des Heiligen Augustinus."