Archiv


Die Bildungsreise

Die Bildungsreise ist ein Topos der deutschen Kultur, seit im 18. J? h i-l Hindert Gelehrte wie Winckelmann und Dichter wie Goethe nach Italien aufbrachen, um in der Anschauung antiker Kunstwerke das Ideal des Klassischen zu finden. Zweihundert Jahre danach ist von der Bildungsreise der Massentourismus geblieben, und wer, vom Baedecker angeleitet, auf seinem Sightseeing Trip noch immer nach stiller Einfalt und edler Größe sucht, kann sich leicht lächerlich machen. Hartmut Langes Novelle "Die Bildungsreise" beginnt in diesem Sinn mit einem ironischen Augenzwinkern, wenn sie ihren Helden, den Kunstlehrer Müller-Lengsfeldt aus Berlin, vor der Kulisse des Forum Romanum zeigt, wie er auf einem mitgebrachten Klappstuhl sitzend mit Tusche ein römisches Portal nachzeichnet, während die Reiseleiterin unter einem hochgehaltenen Fähnchen ,"anmutig gestikulierend" über Winckelmann doziert, auf dessen Spuren die Reisegruppe sich durch Rom bewegt. Beim Gang zu den Vatikanischen Museen wird eine Reieseteilnehmerin von einem Auto gestreift, im Gedränge vor der Sixtinischen Kapelle, wird die Bluse der Reiseleiterin zerrissen und sie verliert ihre Winckelmann-Biographie. Satirisch spielt Hartmut Lange mit den Klischees der Studiosus-Reisen und entwirft Müller Lengsfeldt, dessen Name den Bildungsbürger par excellence vorstellt, als verzweifelten Idealisten, der sich vergeblich von den Banalitäten des Massentourismus zu distanzieren sucht. Als es beim Besuch der Spanischen Treppe zu regnen beginnt, flüchten sich die Reiseteilnehmer in ein Restaurant, um Campari zu trinken und ihre Kleider zu trocknen. Im Text heißt es:

Jochen Rack |
    "Man fing an, Adressen auszutauschen, und Müller Lengsfeldt fühlte sich unbehaglich, als er sah, wie selbstverständlich sich die anderen nähergekommen waren. Sicher, es war die etwas zu rasche Vertrauthejt, wie sie auf Gruppenreisen üblich war. Man zeigte sich Fotos von Verwandten und Freunden, und Müller Lengsfeldt fiel ein, dass er in seiner Brieftasche lediglich das Foto eines Yorkshireterriers bei sich trug, den er vor Jahren hatte einschläfern lassen."

    Eine komische Szene, die sich jeder Leser, der selber einmal auf Bildungsreise war, lebhaft vorstellen kann. In heiterem Lakonismus erzählt die Novelle von der Unmöglichkeit, im Massentourismus den alten Bildungsidealen gerecht zu werden. Doch Hartmut Lange genügt diese ironische Anlage nicht: Er weitet seine Novelle auf hintergründige Weise aus, blendet das Komische ins Tragische ab und verwickelt seinen Helden in ein Drama, in dem sein Bildungsinteresse zunehmend als Rationalisierung tieferliegender psychischer Probleme erscheint. Die Blicke, die Müller Lengsfeldt verstohlen auf die Reiseleiterin wirft, lassen verdrängte erotische Sehnsüchte ahnen:

    Nachts, als er wach liegt, glaubt er Schritte aus dem Zimmer eines anderen Reiseteilnehmers ins das der Reiseleiterin zu hören; und seine latente Eifersucht verfolgt ihn bis zu dem Tag, da die Reisegruppe mit der Reiseleiterin nach Deutschland zurückkehrt. Müller Lengsfeld aber reist weiter nach Triest-, wo Winckelmann ermordet wurde, und besucht sein Grabmal. Eine Bildungsreise der absonderlichen Art, auf der Müller Lengsfeldt mit seiner eigenen Einsamkeit, seinen Lebenszweifeln und Sinnfragen konfrontiert wird. Winckelmanns Biographie erscheint als Vexierbild von Müller Lengsfeldts neurotisch gestörter Persönlichkeit. Aber das ist schon Interpretation, eine von vielen möglichen. Denn auch bis zum Ende der Novelle klärt sich Minier Lengsfelds Getriebenheit nicht vollständig auf. Der Leser ist auf Vermutungen und Andeutungen angewiesen, die Harmut Lange einstreut. Meisterlich versteht dieser Autor die Kunst der Doppelbödigkeit und subtilen Anspielung, eine Erzähltechnik, die an Kafka erinnert. Indem Lange den Leser in die Innenperspektive und Wahrnehmung seines Helden hineinzieht, verrätselt er das Geschehen und blendet es buchstäblich ins Dunkel ab:

    "Könnte es sein, dass sich Winckelmann beim Anblick des Apoll von Belvedere plötzlich gelangweilt hat?" Unsinn dachte Müller Lengsfeldt, aber seine Euphorie war verflogen. Er bemerkte, daß immer weniger Licht und dadurch eine Schattengrenze auf die Wände und auf die Bilder fiel, und er hörte, wie sich im Nebenzimmer zwei Aufseher leise miteinander verständigten. Es war ein eindringliches Hüsteln, und es dauerte eine Weile, ehe sie bei ihm, Müller Lengsfeldt, auftauchten."

    Ob die Aufseher im Kunstmuseum über Müller Lengsfeldt flüstern oder, nicht, bliebt offen, ebenso die Frage, ob der Kunstlehrer die Praxis eines Psychiaters deshalb aufsucht, um sich über Winckelmanns Charakter zu informieren oder um Hilfe in seiner eigenen seelischen Not zu finden. Das unablässige Changieren der Bedeutung macht den Reiz der Novelle und verlangt bei der Lektüre eine detektivische Aufmerksamkeit. Der Wanderfalke zum Beispiel, den Müller Lengsfeld auf seiner Reise immer wieder sieht, ist nicht nur ein psychisches Leitmotiv, sondern darüber hinaus eine Anspielung auf die auf Boccacio zurückdatierende Falkentheorie der Novelle. Hartmut Lange erzählt auf mehreren Ebenen gleichzeitig, und nicht zuletzt das ist es, was seiner minutiös kalkulierten Novelle "Die Bildungsreise" ihre wunderbare Spannung verleiht.