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Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth.

Das Thema "Holocaust und Literatur", seit Adornos Plädoyer aus den 60er Jahren eigentlich erledigt, sorgt weiterhin für Gesprächsstoff. Roman Fristers Lebensbericht "Die Mütze", vom Frühjahr des Jahres, ist zum Bestseller geworden; Imre Kertész’ "Roman eines Schicksallosen", vom Frühjahr vergangenen Jahres, ist Weltliteratur; Aleksandar Tismas "Kapo" ist in diesem Herbst bei Hanser dazugekommen. Und nun also, als sechster Band der Werkausgabe, Soma Morgensterns Roman "Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth", der vierte Teil der Trilogie "Funken im Abgrund", vom Schriftsteller selbst als Epilog oder "Totenbuch" bezeichnet. Der Herausgeber der Werkausgabe, Ingolf Schulte, freilich warnt den Leser vorab: "Der Charakter der Sprache in diesem Buch bringt es mit sich, daß der eine oder andere Leser, vielleicht auch Kritiker, den Eindruck haben könnte, so etwas, solch eine Sprache sei heute veraltet, weil sie eben, in Anlehnung an die Bibel, einem alten Sprachmuster folgt, um die Möglichkeit zu finden, das Thema ‘Shoah’ in einer angemessenen Weise darzustellen ... Dieses Buch mag gescheitert sein, das muß man anderen Urteilen dann überlassen. Aber es ist das Produkt einer Anstrengung, die nicht sehr viele unternommen haben. Und in der Reihe dieser verwandten Bücher ist es in der Tat eine bemerkenswerte Leistung, weshalb ich es für sehr wichtig halte, daß gerade auch dieses Buch dem deutschen Publikum wieder vorgelegt wird.

Stefan Berkholz |
    Erstmals in der - kenntnisreich erläuterten und zurückhaltend kommentierten - Urfassung des Textes, mehr als vier Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung in amerikanischer Sprache. Aber Schulte hat recht. Dieses Buch hier stammt aus einer anderen Zeit, mühsam dem Leben abgerungen, über eine Spanne von zehn Jahren etwa; geplant unter dem unmittelbaren Eindruck der ungeheuerlichen Nachrichten aus Europa; vom Verfasser sich selbst förmlich verordnet, weil, wie er es im sogenannten Motivenbericht zum Buch ausdrückte, "ein jüdischer Schriftsteller, der sich von diesem ungeheuren Geschehen abwendet und seinem Beruf weiter nachgeht wie bisher, es nicht verdient, die Mörder überlebt zu haben". In einer Sprache verfaßt, "wie es einer vermöchte", verdeutlichte Morgenstern, "der in seinem ganzen Leben nichts anderes gelesen hätte als die Bibel". Und er meinte die hebräische Bibel, Lektüre der frommen ostgalizischen Juden. Dazu noch in Deutsch, jener Sprache also, die der Schriftsteller seit der Nazizeit bis zur Selbstpeinigung haßte, am liebsten gar nicht mehr sprechen wollte geschweige denn zu Papier bringen. "‘Die Blutsäule’ behandelt, wenn man das so sagen kann, die Vernichtung, die Tötung der Juden einer ostgalizischen Kleinstadt", erläutert Morgenstern. "Hinter dieser Kleinstadt steht, ohne daß das im Buch genannt wird, die Stadt Tarnopol, in der der junge Morgenstern das Gymnasium besucht hatte ... Die Judenheit Ostgalizien, von der die Trilogie handelt, tritt nun auch wieder in der'Blutsäule'auf ... Das Buch ist eigentlich nichts anderes als ein Prozeß, den die überlebenden Juden unter märchenhaften, legendenhaften Umständen gegen die deutschen Täter in der Synagoge dieser ostgalizischen Kleinstadt führen."

    "Zeichen und Wunder am Sereth" - der Untertitel gibt die Stimmung vor. Zwischen Wirklichkeit und Legende ist der Text angesiedelt, Unfaßliches und viel Symbolik finden sich - "es geschah aber", lautet die wiederkehrende Sprachformel. Aber es sind auch erzählerische Momente darin und Szenen, die haften bleiben - ewige Fragen der Gerechtigkeit, großartige Monologe der wenigen Warnenden, daneben das Zögern und Zaudern der Gläubigen, der Verlorenen, und die Schamlosigkeit der Mörder. Wieder, wie schon in der Trilogie, trifft der Blutrausch der Judenhasser ausgewählte Kinder, "das Zarteste und das Schwächste", wie es heißt, detailversessen werden die Greuel vor der Phantasie des Lesers ausgemalt. Heller Wahnsinn und pure Mordgier, und einen dämonischen, satirisch verzerrten Blick ins deutsche Machtzentrum erspart der Schriftsteller dem Leser schließlich auch nicht. Und läßt dann ein großes Klagelied erklingen, so etwas wie ein heiliges Tribunal. Anklage gegen zweitausendjährige Verfolgung, Aufschrei gegen die tausendjährige Vernichtung durch die "deutschen Mordbrenner" im 20. Jahrhundert. Schwer nachzuerzählen ist das, man muß es selber lesen. Um die Wirkung zu erfassen und auch, um einen Begriff von der Sprache zu bekommen, in der es verfaßt ist. Aber, schwer zu lesen soll das sein? Die Sprache kommt klar und wie aus Granit gehauen. Schwer nachzuvollziehen also? Verstaubt gar? Schulte dazu: "Wenn man so reagiert, könnte es passieren, daß man das literarische Problem, das hinter einem solchen Werk steht, nicht mehr sieht. Es käme also wohl darauf an, sich zu fragen, mit welchen Mitteln dieses Problem in diesem Buch gelöst wird und erst dann möglicherweise sich zu fragen, ob eine solche Lösung angemessen ist oder ob sie nicht angemessen ist."

    Manche inhaltlichen Wendungen erscheinen für heutige Begriffe befremdlicher als die sprachlichen Mittel. Das Buch ist aus seiner Zeit heraus zu begreifen. Geplant seit 1943, abgeschlossen 1952. Aus unmittelbarer Betroffenheit des Schriftstellers entstanden. Morgenstern setzt die Rote Armee als lockenden Partner für ein weltliches Himmelreich auf Erden, ein Ausweg aus der Verzweiflung. Und das zu einer Zeit, als die USA, Heimat der versprochenen Freiheit, noch nicht kuriert waren von der antikommunistischen Hysterie unter McCarthy. Und Morgenstern deutet erneut das Gelobte Heilige Land als Silberstreif am Horizont an, Israel also, jenes Gebiet, das der Schriftsteller selbst, vor allem aus Geldmangel wohl, nie erreichen sollte. Morgenstern ist mit dieser Hoffnung nicht weiter als am Ende seiner Trilogie, die vor dem Holocaust abgeschlossen war. Ein ratloses Buch also? Letztlich auch ein ratloses, ein hilfloses, ein verzweifeltes Buch. Wie anders nach diesem Inferno, in dem Morgenstern Mutter, Bruder, Schwester, Verwandte, Freunde und Bekannte in den Vernichtungslagern verloren hatte. Nicht mehr als das Schicksal des Davongekommenen blieb ihm in New York, ein gefährdetes und armseliges Exil seit 1941, mit dem geschaffenen und noch zu schaffenden Werk als letztem Halt - doch zu Lebzeiten blieb der Autor weitgehend unbekannt. Eine Erklärung für sein zuversichtliches Ende der "Blutsäule" lieferte der Schriftsteller in einem Gespräch, Anfang der 70er Jahre. "Ein Buch", erklärte der damals 83jährige, "ein Buch, das nicht in Hoffnung endet, nicht hoffnungsvoll ist, ist kein jüdisches Buch. Und wir hoffen natürlich auf Erlösung."