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Die bösen Bürger

Fast zehn Jahre sind seit der Veröffentlichung von Juli Zehs "Spieltrieb" vergangen, nun kommt der Stoff in die Kinos. Allerdings schafft es der Film nicht, die Stärken der Vorlage zu übernehmen.

Von Rüdiger Suchsland |
    Eine Schülerin verführt ihren Lehrer und lockt ihn dabei in eine Falle - kompromittierende Fotos entstehen, eine Erpressung folgt, und die fatale Dreieckskonstellation eskaliert bis hin zu einem gewaltsamen Showdown. Soweit, auf sein Gerippe reduziert, der Plot von "Spieltrieb".

    Die Hauptfigur ist Ada, aus zerrütteter Familie, nicht hübsch, dafür klug. Deswegen ist sie eine Außenseiterin in ihrem Bonner Nobel-Gymnasium, das nach Ernst Bloch benannt ist, aber wenig Hoffnung oder gar Utopie birgt - bis Alev auftaucht:

    "Alev 18 Jahre. Hobbys: Nachdenken, Atheismus, leichte Drogen - in mir steckt so etwas wie die Sehnsucht nach einem Seelenverwandten."

    Alev ist ein so frecher wie verwöhnter Zyniker. Die Mädchen beeindruckt er damit, dass er in der Schule den Dandy gibt - auch Ada versteht sich. Dass ihm auch noch orientalische Wurzeln angedichtet werden, ist nicht nur unnötig, es gehört zu jenen Elementen, die einem an dieser Romanverfilmung, wie an der ihm zugrunde liegenden Vorlage, immer wieder plötzlich sehr typisch deutsch vorkommen: Von allem ist hier etwas zu viel, und am Ende sind es eben die Fremden, die böse sind und eine deutsche Jungfrau verführen.

    "Spieltrieb", das war zunächst einmal vor knapp zehn Jahren der zweite Roman von Juli Zeh. Was das Buch dieser hochinteressanten Schriftstellerin über den Durchschnitt weit hinaushob, das war genau das, was jenseits des dürren Handlungsgerüsts das Buch ausmachte: zunächst einmal seine originelle Sprache, dann die dichte Beobachtung und Beschreibung jugendlicher Lebenswelten und nicht zuletzt die vielen philosophischen und weltanschaulichen Debatten der Figuren, die mal die Höhen tiefster philosophischer Fragen erreichten, sich dann aber wieder - ganz absichtlich - eher auf dem Niveau der Antworten eines Briefkastenonkels für Jugendliche bewegten.

    "Spieltrieb" erzählt, wie schon Robert Musils Novelle über die "Verwirrungen des Zöglings Törleß" - einer von vielen literarischen Verweisen, mit denen das Buch gespickt ist -, in erster Linie von den Fantasien und Nöten der Pubertät. Das ist durchaus ein Thema, das uns alle angeht, auch die Älteren - verkörpern doch junge Menschen in ihrer ganzen von der Realität halbwegs ungetrübten Reinheit all die Hoffnungen und Wünsche, die im Laufe des Lebens allmählich abgestreift, vergessen oder gar verraten werden.

    Was sie in diesem Film allerdings verkörpern, ist vor allem Bosheit. Weniger wie die müden Großstadtpflanzen bei Musil, als wie die "Dämonen" eines Dostojewski, nennen sie sich "Moderne Nihilisten" und tun das Böse um seiner selbst willen. So etwas, wenn man es denn überhaupt glauben kann, schockiert heute nicht mehr so wie vor über hundert Jahren. Nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz, aber auch nach Romanen und Filmen, die mit dem Tabubruch nicht nur spielen, sondern ihn vollziehen - von Quentin Tarantino und Gaspar Noe bis zu Brad Easton Ellis und Jonathan Littell - kann uns Abgebrühte des 21. Jahrhunderts nicht mehr schockieren. Wir, das Publikum, sind selbst so kaltschnäuzig, wie es diese Kinder von Sloterdijk und Wodka-Cola gern wären. Eine echte Provokation läge vielmehr darin, moderne Parzivals zu erfinden, reine Toren, die nur ans Gute glauben.

    Juli Zeh ist fraglos eine großartige Autorin, womöglich die begabteste und jedenfalls die interessanteste unter den deutschsprachigen ihrer Generation. Ihr zweiter Roman ist aber nicht nur ihr dickster, sondern auch der schwächste: Es ist alles an dieser Story eine Spur zu ausgedacht, zu unmotiviert, und am Ende auch zu moralisierend: Böse Kinder sind böse und müssen bestraft, zugleich aber wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Das sind Versöhnungsfantasien von Erwachsenen.

    Das eigentliche Problem von Gregor Schnitzlers Verfilmung liegt aber noch woanders. Der Film übernimmt die Schwächen, aber nicht die Stärken. Der Film hat ständig Angst vor Ruhe, vor Pausen, die man womöglich zum Denken nutzen könnte, vor Philosophie sowieso und vor existenziellen Fragen. Fast alle Gedanken und weltanschaulichen Gründe, die diese bösen Kinder motivieren - egal was man von diesen nun halten mag - sind dem Film ausgetrieben. Offenbar hatten da die Macher, ihre Förderer und Redakteure wieder einmal Angst davor, ihre armen Zuschauer am Ende zu überfordern.

    Man begleitet zwei Menschen, die einem fern und gleichgültig sind, weil man sie nicht versteht, auf einem Weg mit vorhersehbarem Ziel. So ist diese Verfilmung von "Spieltrieb" genauso pubertär, wie ihre Hauptfiguren.

    "Können wir uns jemals sicher sein, wer wir wirklich sind? Wir sind nichts Unabänderliches, Festes..."