Montag, 29. April 2024

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Die Briefe an Louise Colet

"Gestern habe ich mit einem Roman begonnen. Jetzt ahne ich stilistische Schwierigkeiten, die mich wahnsinnig machen. Einfach zu sein ist keine Kleinigkeit. Ich habe Angst, in Paul de Kock zu verfallen oder chateaubriandierten Balzac zu machen."

Jochen Schimmang | 01.01.1980
    Gestern - das war der 19. September 1851, der Roman, der da begonnen wurde, heißt >>Madame Bovary <<, und sein Autor #Gustave Flaubert# teilt den Beginn seines neuen Unternehmens in einem Brief an #Louise Colet# mit. In einem der weit über zweihundert Briefe, muß man sagen, die jetzt zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung vorliegen. Flaubert hatte die elf Jahre ältere Dichterin im Juli 1846 bei dem Bildhauer James Pradier kennengelernt, schon Tage danach waren die beiden ein Paar. Damit begann der mit Unterbrechungen acht Jahre währende Kampf Louise Colets, Flaubert an sich zu ziehen und möglichst zu heiraten, das Drama von der liebenden Frau und dem Künstler, der diese Frau zweifellos auch liebte, die Kunst aber noch mehr. Am Anfang sagt er es noch auf Umwegen, indem er nicht von sich spricht, sondern sie auf den Weg zu lenken versucht, der ihm der genehmste ist:

    "Du sprichst von Arbeit, ja, arbeite, liebe die Kunst. Von allen Lügen ist sie noch die am wenigsten verlogene. Versuche sie zu lieben, mit einer ausschließlichen, glühenden, hingebungsvollen Liebe. Das wird Dich nicht enttäuschen."

    Ich dagegen, soll das heißen, werde Dich auf jeden Fall eines Tages enttäuschen, weil ich Dir das nicht geben kann, was Du willst. Sie möge ihn nicht zu sehr lieben, ermahnt er sie, und wenig später weist er darauf hin, er habe sie von Anfang an gewarnt. Allein, es hilft nichts, denn Louise Colet, die eine ungemein produktive Autorin war, und, glaubt man den Anmerkungen Flauberts zu ihren Dichtungen, sowohl entsetzlich schlechte wie auch ein paar sehr gute geschrieben hat, legte ihren eigentlichen Kunstwillen in ihr Leben und in die Liebe. Das muß schlecht ausgehen, wenn der Liebhaber an diesem Kunstwerk nicht mitbauen will. Eines Tages, am 21. Januar 1847, wird er deutlicher und schreibt ihr:

    "...daß die Liebe für mich nicht die Hauptsache im Leben ist, sondern an zweiter Stelle steht. Sie ist ein Bett, wo man sein Herz hineinlegt, um sich Entspannung zu verschaffen. Nur bleibt man nicht den ganzen Tag im Bett liegen."

    Das ist brutal und männlich gesprochen und führt bald dazu, daß die Beziehung fürs erste beendet wird - im übrigen geht Flaubert auf Reisen - aber es hindert beide nicht daran, sie im Jahr 1851 wieder aufzunehmen. Das Zerren geht weiter, die immer sich wiederholenden Erklärungen, warum er nicht morgen, sondern erst in zwei Wochen nach Paris kommen kann, warum seine Besuche in Paris so selten sind - es sind immer noch fünf oder zehn Seiten zu schreiben -, und all das hat erst im Jahr 1854 ein Ende. Das letzte erhaltene Schreiben Flauberts ist ein Billet vom 6. März 1855, das zwar stilistisch auf größter Flaubertscher Höhe, inhaltlich aber nur noch schnöde ist.

    "Madame, ich habe erfahren, daß Sie sich gestern abend dreimal die Mühe gemacht haben, mich aufzusuchen. Ich war nicht da. Und in der Furcht vor den verheerenden Reaktionen, die eine solche Hartnäckigkeit Ihrerseits Ihnen von meiner Seite eintragen könnte, verpflichtet mich der Anstand, Ihnen vorsorglich mitzuteilen: daß ich nie da sein werde. Hochachtungsvoll: G.F. "

    Das alles ist zwar teilweise amüsant und sagt viel nicht nur über die beiden liebenden Kontrahenten, die so lange nicht voneinander loskommen, sondern über das unterschiedliche Liebesempfinden von Männern und Frauen überhaupt. Aber nicht hauptsächlich deshalb müssen wir Louise Colet dankbar sein, daß sie Flauberts Briefe nicht verbrannt hat wie dieser die ihren. Denn vor allem sind sie eine Fundgrube in bezug auf Flauberts Wut auf das, was ihn lebenslang beschäftigt und uns ein paar große Romane der Weltliteratur geschenkt hat: die menschliche Dummheit, in all ihren Ausprägungen und in allen Sphären: in der Politik, in der Gesellschaft und in dem, was wir heute Literaturbetrieb nennen und was recht eigentlich eine Pariser Erfindung ist. Es ist wirkliche Wut, keine bloße Nörgelei; sie hat Wucht und Größe, und man kann Flaubert das Leiden an der Dummheit ohne Weiteres abnehmen. Diese Wut hat etwas zeitlos Aktuelles, paradoxerweise gerade deshalb, weil Flaubert, der die Welt so gnadenlos seziert, nicht von dieser Welt ist. Er schreibt es am 13. September 1846 selbst:

    "Hast Du nicht selbst neulich in Mantes zwei oder drei Absenzen an mir bemerkt, als Du ausgerufen hast: »Was für ein Phantast! Wovon träumst du?« Wovon, das weiß ich nicht, was Du jedoch nur kurze Zeit erlebt hast, ist mein gewöhnlicher Zustand. Ich lebe mit niemandem, an keinem Ort, bin nicht von meiner Heimat und vielleicht nicht von der Welt."

    Das ist er in der Tat nicht, denn als die Revolution von 1848 dem Regiment des Bürgerkönigs Louis-Philippe ein Ende setzt, interessiert ihn dies nur unter einem Gesichtspunkt.

    "Ich weiß nicht, ob die neue Form der Staatsführung und der und der gesellschaftliche Zustand, der daraus entsteht, der Kunst zuträglich sein wird. Das ist die Frage. Bourgeoiser und nichtssagender wird man nicht sein können. Noch blöder sein, geht das?"

    Der berühmte Satz, daß er bei der ganzen Politik nur eine Sache begreife, nämlich den Aufstand, findet sich schon in einem der ganz frühen Briefe. Für die Kunst wird angemahnt, daß das Wahre nicht im Aktuellen liege. Wer sich daran hängt, kommt darin um. Um den großen französischen Gegenwartsroman des Zweiten Kaiserreichs geht es ihm also nicht. Dennoch muß er 1853 entdecken, daß er nicht so klug ist, wie er immer geglaubt hat.

    "Mir ist heute eine große Lehre erteilt worden, und zwar von meiner Köchin. Dieses Mädchen, das 25 Jahre alt und Französin ist, wußte nicht, daß Louis-Philippe nicht mehr König von Frankreich ist, daß eine Republik entstanden ist etc. Das interessiert sie alles nicht (wörtlich). Und ich halte mich für einen intelligenten Mann! Aber ich bin nichts als ein dreifacher Idiot. Wie diese Frau, so muß man sein."

    Das ist ihm aber nicht gegeben. Er beobachtet die Eitelkeiten auf dem literarischen Markt, an dem er nicht teilnimmt; er erregt sich über das Mittelmaß, das laut schreiend den Platz im Olymp für sich reklamiert, während er Tag für Tag am Wert der eigenen Arbeit zweifelt, und er leidet noch am wenigsten, wenn er sich amüsieren kann wie über einen zeitgenössischen Kolumnisten:

    Da haben wir einen Burschen, der sechstausend Francs Gehalt jährlich dafür bekommt, daß er am Ende der Woche über all das spricht, was man in deren Verlauf gelesen hat. Von Zeit zu Zeit führe ich mir das noch einmal zu Gemüte. Heute morgen habe ich ihn, wo er von der Schweiz spricht, fast wörtlich bei den Sätzen ertappt, die mein Monsieur und meine Dame über die Schweiz äußern (in der Bovary). O menschliche Dummheit, sollte ich dich also kennen?"

    Gewiß doch, mehr als jeder andere seiner Zeitgenossen. Besonders erregt diese Dummheit ihn da, wo sie beginnt, mit akademischen Weihen versehen über die Literatur zu sprechen. Er habe alles satt, was über die Kunst, über das Schöne, die Idee oder die Form geredet werde, und:

    "Über das Schöne läßt sich so leicht schwätzen. Aber um in einwandfreiem Stil 'Schließen Sie die Tür' oder 'Er wollte schlafen' zu sagen, braucht man mehr Genie als für alle Literaturvorlesungen der Welt."

    Überhaupt das Schöne, der Geschmack, der Esprit, die Leute von Geist, sie sind ihm ein Greuel. Man kommt nicht umhin, an die mißratene Ästhetisierung der Lebenswelt im Stil etwa der achtziger Jahre unseres Jahrhunderts zu denken - wie man überhaupt nicht umhin kommt, immer wieder an heute zu denken beim Lesen dieser Briefe -, wenn man etwa liest:

    "Wie viele Biederleute, die vor einem Jahrhundert ausgezeichnet ohne die Schönen Künste gelebt hätten, brauchen jetzt kleine Statuetten, kleine Musik und kleine Literatur!"

    Gegen diese "Flut von Scheiße", wie es an einer Stelle heißt, schreibt er an mit seinem Roman, der sich vom bourgeoisen Sujet her allerdings noch tiefer in sie hineinwühlt. Er arbeitet keineswegs in dem erhaben-arroganten Bewußtsein, etwas Besseres zu machen als alle anderen, wie man vielleicht vermuten könnte. Die Zahl der Klagen, daß er nicht vorankommt, daß er es vielleicht nie schaffen wird, ist Legion; die Aufrechnungen zwischen dem Aufwand eines zwölfstündigen Arbeitstages und dem Ertrag von vielleicht ein paar Sätzen sind bekannt. Er wälze sich auf allen Möbelstücken herum, schreibt er, um herauszufinden, wie es gesagt werden muß, auf der Suche nach dem berühmten mot juste, nach dem Stil, der nichts anderes sei als unbedingte Aufrichtigkeit. Klare Sätze liebe er, die sich gerade und aufrecht halten und doch fließend seien. Sein Zeitplan, der anfangs naiv von einer etwa einjährigen Arbeit ausging, verschiebt sich von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr. Er stellt immer wieder fest, daß er nicht wie erwartet im nächsten Winter, im nächsten Herbst, in einem Jahr fertig sein wird. Und diese ganze Mühe gilt einem Roman, den die Leser, die ihn verstehen, später zwar lieben werden, er selber aber niemals.

    "Aber dieses Buch, so gut es auch gelingen mag, wird mir nie gefallen. Jetzt, wo ich es als Ganzes im Griff habe, widert es mich an. Was tut's, es wird eine gute Schule gewesen sein. Ich werde gelernt haben, Dialog und Porträt zu machen."

    Der Beginn des modernen Romans - denn so lautet ja der durchaus zutreffende Gemeinplatz über "Madame Bovary", über den sich der Autor des >>Wörterbuchs der Gemeinplätze << vielleicht köstlich amüsiert hätte -, der Beginn des modernen Romans war also für seinen Verfasser nur "eine gute Schule" . Er hat etwas gelernt. Das ist wahrlich weit weg von den literarischen Eitelkeiten, die ihn zur gleichen Zeit umgeben, nimmt man nicht das bohrende Bewußtsein als Eitelkeit, daß er es immer noch besser machen könnte. Und natürlich findet sich kurzfristig auch die Illusion des Künstlers, er könne eines Tages seiner Kunst vielleicht entkommen:

    "Mein Buch muß geschrieben werden, und zwar gut, oder ich muß daran krepieren. Danach werde ich ein anderes Leben führen."

    Danach werde ich ein anderes Leben führen: Sollte Louise Colet bei diesem Satz die Hoffnung geschöpft haben, Flaubert könne eines Tages vielleicht doch noch ein ganz normaler Mann werden und den Rest seines Lebens mit ihr teilen, so dürften ihr ein halbes Jahr später bei dieser Bemerkung die Augen aufgegangen sein:

    "...und ich möchte noch drei oder vier Bücher lang leben."

    So ist es dann auch gekommen, zum Glück für uns und für jene Zeitgenossen, die er nicht kennt und über die er sich in einem seiner letzten Briefe an Louise Colet Gedanken macht:

    "Was wissen wir, ob nicht zu eben dieser Stunde in irgendeinem Winkel der Pyrenäen oder der hintersten Bretagne ein armes Wesen existiert, das uns versteht? Man veröffentlicht für unbekannte Freunde. Das ist das einzig Schöne an der Buchdruckkunst."

    Die Briefe an Louise Colet sind nun gewiß nicht für unbekannte Freunde geschrieben, aber das Schöne an der Buchdruckkunst ist es, daß sie jetzt in deutscher Übersetzung vorliegen und wir sie lesen können, gut neunhundert Seiten voller Witz, Klugheit, Schärfe, Ekel, aber auch voller Zartheit und Mitgefühl. Das sollten wir tun, zu unserem Vergnügen, zu unserem Erschrecken, und vielleicht auch, damit es uns die Schamröte ins Gesicht treibt.