Schmitz: Was ist denn vor allem in den Vordergrund getreten, nach dem Blick auf die Angestelltenexistenz?
Genazino: Also, die Angestellten sind eigentlich das Thema geworden, nachdem ich selbst ein Angestellter geworden war und gemerkt habe, was das bedeutet. Und ich konnte mich der Eindrücklichkeit dieses Themas und der Lebensverhältnisse, derer ich da ansichtig wurde nicht mehr verschließen. Das hat mich buchstäblich gepackt und ich habe dann, Gott sei Dank, mich packen lassen.
Schmitz: Das heißt, Sie haben thematisch den Sprung von der so genannten Arbeiterliteratur eines Max von der Grün oder Günter Wallraff zur Angestelltenliteratur gemacht, geschafft?
Genazino: Ja, wobei für mich war das kein Sprung, weil ich mich nie mit der Arbeiterliteratur beschäftigt habe. Ich kam nach der Schule einfach in dieses Angestelltenleben hinein, auch durch viele Jobs und so weiter. Dann war ich Redakteur. Da war ich ja auch wieder ein Angestellter, wenn auch ein etwas privilegierter, aber ich hatte doch dauernd laufende Einblicke in die Buchhaltung und in den Versand und die Lagerabteilung und da sitzen überall Angestellte, die da ihr Leben fristen in merkwürdig halbdunklen Räumen, neonbeleuchtet und so weiter und so weiter.
Schmitz: Ich meine das auch eher so, dass Sie den Sprung für die Literatur geschafft haben.
Genazino: Ach so, ja unbedingt. Also das war damals ja Neuland. Es kamen dann einige andere Autoren dazu, zum Beispiel der Richards, der leider schon tot ist, der hat dann auch, nach mir, einen Büroroman geschrieben. Aber dann ist das Thema - na ja, heute hat es sich durchgesetzt, würde ich sagen. Es gibt immer mal wieder Romane und auch Reportagen über das Angestelltenleben seither.
Schmitz: Der Büchnerpreis wird ja nach der Preissatzung unter anderem zum ehrenden Andenken an Georg Büchner verliehen. Eigentlich ist ja schon der Diener Woyzeck eine Art Angestellter, der den Vorgesetzten rasieren muss, Stiefel putzen muss und anderes mehr. Also passt der Preis, was Büchner betrifft besonders gut?
Genazino: Ich würde sagen, ja. Also Woyzeck ist ja eine Art Handlanger und das ist eigentlich die schärfste Form der Angestelltenexistenz überhaupt, der Handlanger. Bei Brecht heißt er Gerda, also eine Figur, die sozusagen auf Piff und auf Zuruf, oder heute auf Blinklicht oder auf Piepsignale, zu reagieren hat. Das zieht sich durch die gesamte Beschäftigungskultur der Menschheit hindurch. Es gibt immer irgendwelche, die bestimmen und dann laufen ein paar andere rum, die das Zeug dazu herschaffen, beziehungsweise die Anordnungen ausführen.
Schmitz: Das sind dann die Angestellten und die Spitze der Handlanger. Ist das die Problematik, die Brutalität des Angestelltendaseins?
Genazino: Ich fürchte ja. Sie geht ja heute sehr viele weiter, greift in die unmittelbare Existenzgestaltung der Angestellten ein. Frankfurt zum Beispiel, ist eine Bankenstadt und man kann hier in den Restaurants die Gespräche der Angestellten mithören, die zum Beispiel scheuen, sich eine Familie zuzulegen, weil die Familie sie dann am so genannten Aufstieg, oder am Einsatz hindert. Die Leute leben heute in kleinen Einzelzimmerapartments, um schnell abrufbar und irgendwo in Hongkong, in Jakarta oder wo auch immer einsetzbar zu sein. Dieses Moment in der Existenz der Leute hat sich unendlich verschärft, wenn man auch natürlich sagen muss, sie verdienen dabei heute viel mehr Geld als früher. Aber dieser Zugriff, dieses herumgeschickt werden, ist viel schärfer geworden.
Schmitz: Das ist die inhaltliche Verbindung mit Georg Büchner. Gibt es eine ästhetische Verbindung zwischen Ihrer Arbeit und der von Georg Büchner?
Genazino: Ja, ich würde sagen, damit beschäftige ich mich ja nun in den letzten Jahren. Das ist die Thematik Subjekt, also der Versuch, in die Psyche von Menschen hineinzuschauen, beziehungsweise sie zu konstruieren. Man kann ja nicht in sie hineinschauen, man muss sie konstruieren. Büchner hat mit Lenz zum Beispiel ein ganz modernes Subjekt geschaffen und versucht, dieses schwierige, individuelle Moment zu beschreiben. Insofern ist die Modernität von Büchner nicht überholt, sie ist auch nicht eingeholt von anderen Autoren. Büchner ist nach wie vor ganz modern, einer der modernsten Autoren.
Schmitz: Kann es auch sein, in diesem Zusammenhang, dass ihre Figuren, etwa im Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag", mehr und mehr eine Art Clownhut aufgesetzt bekommen, von außen aufgesetzt, selbst aufgesetzt, weil sie gar nicht mehr in die unerträgliche Gegenwart, den Zeitgeist, passen wollen und nur als Clown bestehen können?
Genazino: Ja, das würde ich auch so sehen. Es sind da gewisse clowneske Momente da, die natürlich nicht nur lustig sind. Es gibt ja auch immer die Melancholie und auch die Bitterkeit des Clowns, weil ein Clown eine Figur ist mit Bewusstsein. Das heißt, er weiß immer, dass er nicht nur ein Spaßmacher ist, sondern dass es, sozusagen, tiefe, äußerliche Gründe gibt, für die Kompensationsleistung Komik.
Schmitz: Sie sind nun als Autor wirklich angekommen im Kanon, sage ich mal, der Gegenwartsliteratur allgemein. Fühlen Sie sich jetzt am Ziel Ihrer Arbeit, nicht was die Produktion angeht, aber was die öffentliche Wertschätzung angeht?
Genazino: Das ist ein merkwürdiges Thema. Genau genommen war ich immer damit einverstanden, ein randständiger Autor zu sein. Ich habe dagegen nie opponiert, weil es natürlich auch ein ästhetischer Reiz ist, das Zentrum vom Rand aus zu sehen. Dort kann man es deutlicher sehen, als vom Zentrum aus. Aber ich habe eigentlich nie geschrieben, sozusagen, um irgend einer Prämie Willen. Ich bin glücklich, dass die Prämien eintreffen, oder eingetroffen sind, aber, wie soll ich sagen, sie sind zweifellos eine Verzierung meines Lebens, aber sie waren nie der Zielpunkt der Arbeit.