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Die Buddenbrooks von Worpswede

Eine Familie, die untergeht, sprichwörtlich im fröhlich glucksenden Moor, thematisiert Moritz Rinke in seinem ersten Roman. Hauptprotagonist Paul Wendland-Kück begibt sich da auf die braunen Spuren seines vergötterten Großvaters.

Von Eva Pfister | 12.07.2010
    Als Junge legt Paul Wendland-Kück einen dicken Stapel Papier vor sich auf den Tisch und beschließt, einen 700-Seiten-Roman zu schreiben. So etwas wie die "Buddenbrooks". Da er aber nicht weiß, wie man Papier in ein Kunstwerk verwandelt, gibt er bald wieder auf. Damit hat Moritz Rinke, ironisch wie immer, die Zielvorgabe seines ersten Romans gesetzt: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" ist der Roman einer untergehenden Familie.

    "Als ich diesen Satz schrieb mit den 700 Seiten, da habe ich niemals daran gedacht, dass ich so eine umfassende Familienchronik aus dem Moor schreiben werde. Also "Die Kücks" so hatte ich mal ursprünglich gedacht, könnte der Roman heißen, aber da hatte der Verlag gesagt: Mein Gott, die Kücks, die kennt ja kein Mensch, aber bei uns im Norden, da oben im Teufelsmoor, ist Kück ein Name wie die Buddenbrooks so bekannt oder die Modersohns."

    Moritz Rinke wurde 1967 in Worpswede geboren, wo es nicht nur viele Kücks, sondern auch viele Rinkes gibt. Aber er habe nicht über seine Familie geschrieben, betont der Autor, und auch das Künstlerdorf hat er nicht aus autobiografischen Gründen zum Schauplatz seines Romans gewählt, sondern:
    "Weil ich Worpswede für einen fantastischen Ort halte, um Geschichte zu erzählen. Wenn man an die 20-er-Jahre denkt, an die Sozialutopien, die kommunistischen Ideen, an das Dritte Reich eben, an Fragen zum Verhältnis zur Macht, die sich Künstler stellen müssen: Repräsentieren sie das nationalsozialistische System oder eben nicht, und was ist die Konsequenz, wenn sie es nicht tun? Und dann eben 68."

    Rinkes Protagonist, Paul Wendland-Kück, ist ein 68-er-Kind. Sein Großvater Paul Kück war Bildhauer und wurde einst ehrfurchtsvoll "Rodin des Nordens" genannt. Im Garten des großen Reetdachhauses im Teufelsmoor stehen seine Skulpturen: Rilke neben Luther, die Großmutter neben Willy Brandt, Bismarck neben Ringo Starr. Für den schwärmte damals Pauls Mutter Johanna, eine 68-erin wie im Bilderbuch. Mittlerweile lebt sie bewusstseinserweitert auf Lanzarote und terrorisiert ihren Sohn mit vitaminreichen Salaten, die sie ihm per Post nach Berlin schickt, wo sich Paul als Galerist versucht. Im Elternhaus lebt nur noch ein geisteskranker Onkel mit dem seltsamen Namen Nullkück. Weil das Haus im Moor zu versinken droht, reist Paul nach Worpswede, wo sich ihm ein gespenstischer Anblick bietet:

    "Durch den gesamten Garten waren Seile gespannt, die von den Skulpturen zur alten Eiche führten und verhindern sollten, dass die großen Männer im Garten versanken. Nullkück hatte zum Beispiel Luther ein Seil um den Bauch gebunden, das andere Ende am oberen Baumstamm befestigt. Als sich die alte Eiche mit der Zeit leicht in Richtung der schweren Lutherskulptur neigte, versetzte er mit einigem Aufwand andere Skulpturen um die Eiche herum, sodass daraufhin die Rembrandt-Skulptur die Neigung der Eiche durch Luther korrigierte und in ihre Richtung zog. Zog Napoleon den Stamm in eine wiederum andere Richtung, korrigierte der gegenüberstehende Max Schmeling die Eiche in die Gegenrichtung. Dasselbe Prinzip wendete er auch bei Pauls Großmutter und Marie an, die er gegen den Willen der verstorbenen Großmutter vom Rand in die Mitte des Gartens versetzte, aber es ging nicht anders. Die beiden Frauen mussten nun zusammenhalten."

    Die Szene ist typisch für den Ton des Romans: Er erzählt den Untergang einer Familie mit den Mitteln der Groteske, in einer steten Gratwanderung zwischen tragischen und absurden Szenen. Das Buch liest sich wie ein Gang durchs Moor an drohenden Abgründen entlang, die sich durch lustiges Glucksen bemerkbar machen.

    Die Handlung ist indes nicht komisch. Während das Haus vom Untergrund her zerstört wird, enthüllt sich für Paul die unheilvolle Vergangenheit der Familie. Wieder einmal kreist also ein Roman um die deutsche Geschichte. Interessant ist, wie unterschiedlich Moritz Rinke seine Figuren damit umgehen lässt. Da ist zum einen Peter Ohlrogge, ein Maler und ehemaliger Freund von Pauls Mutter, die ihn verließ, um den Trendkünstler Wendland zu heiraten. Zu dieser Hochzeit kam Ohlrogge ungeladen – mit einem Schlauch voller Jauche. Seitdem stottert er die Schadensersatzforderungen ab und sinnt auf Rache. Darum sammelt er Beweise für die Nazifreundlichkeit des Bildhauers Paul Kück – und ist euphorisch, als das Moor die Wahrheit ausspuckt, in Form eines überdimensionierten Nazifunktionärs in Bronze.
    Während Ohlrogge sich in die Vergangenheit verbeißt, verklärt Johanna ihren Vater und lässt nichts an sich herankommen, was an seinem Bild kratzen könnte. Entsprechend reagiert sie, als Paul sie am Telefon mit dem Fund im Garten konfrontiert:
    "Paul ... " – seine Mutter versuchte sich zu fangen – "dein Großvater war Sozialdemokrat, woher willst Du wissen, dass es ein Bauern ... was? Führer ... was ist das überhaupt für ein Wort, ich weiß ja nicht mal, was das ist?"
    "Willy Brandt ist es auf jeden Fall nicht. Warum wurde nie darüber gesprochen?"
    "Wieso soll das von Großvater sein, wer will das beweisen?"
    "Mensch Johanna!" Paul war überrascht, dass er seine Mutter so beim Vornamen anpackte "Da wird ein Nazidenkmal gefunden, zufällig im Garten eines Bildhauers, der bekannt ist für seine historischen Skulpturen, dann steht auch noch PK am Sockel."
    "Großvater war immer Sozialdemokrat, das wissen da alle oben im Norden!"
    Paul wurde immer wütender: "Hör doch mal auf mit deinem Scheißsozialdemokraten! Da oben im Norden! Im Garten steht der Reichsbauernführer!"

    So kämpferisch gibt sich Paul nur im Gespräch mit seiner Mutter. Als Kind hatte er noch Fragen gestellt nach seiner Tante Marie, die angeblich 1945 von der Gestapo abgeholt wurde, weil sie Kommunistin war, während Gerüchte umgingen, sie sei im Moor vergraben worden. Für seine Fragen erntete Paul damals Ohrfeigen. Wenn ihm jetzt die Vergangenheit aus dem Moor entgegenblubbert, reagiert er allerdings nur genervt, und gegen Ohlrogges Aufdeckungsversuche kämpft er sogar an. Woher kommt seine ambivalente Haltung?

    "In diesem Buch deckt niemand die Vergangenheit um der Vergangenheit willen auf. Es ist immer so, dass alle einen persönlichen Grund haben. Gegen Peter Ohlrogge läuft Paul natürlich Amok, weil er seinen Großvater verteidigen will, weil der Großvater für ihn die einzige Bezugsperson im Leben war, der einzige, der auf ihn geachtet hat, der ihn wirklich ernst genommen hat, dem er auf Augenhöhe begegnen konnte. Es gibt eine Szene, in der er die kleinen Reversschlitze bei Willy Brandt selbst machen darf an der Skulptur, und es ist für Paul sehr bedeutend gewesen, dass sein Großvater ihn auch was hat an seinen großen Kunstwerken selbst vollenden lassen. Und gegen die Mutter fängt er an, den Großvater anzuklagen, um gegen seine Mutter endlich eine Durchsetzung zu erreichen."

    Die Beziehung zwischen Paul und seiner Mutter ist der Kern des Romans. Die dominante Frau ist eine gelungene Karikatur einer egozentrischen Person. Für ihr Kind interessierte sie sich kaum, zumal es nicht in die Fußstapfen des von ihr abgöttisch geliebten Künstlervaters trat. Paul Wendland-Kück war ein verlorener Junge, der die Bauernkinder in Worpswede um die feste Struktur ihrer Tage beneidete: Um 12 Uhr gab es bei ihnen Mittagessen, bei seinen Eltern gab es höchstens Diskussionen darüber. Nur die Großmutter tischte pünktlich um 16 Uhr ihren Butterkuchen auf. Die freundliche Oma, die so vieles unterbutterte, was ihr nicht passte.
    Wenn der Roman manchmal schwächelt, liegt es an seiner Überfülle, sei es an Metaphern, absurden Szenen oder farbigen Nebenfiguren. Moritz Rinke fabuliert gern und kann sich zuweilen vor dem Ansturm seiner Ideen nicht retten, wobei nicht jede Episode und jede Pointe zur Charakterzeichnung der Figuren beiträgt. So ist es wenig glaubwürdig, dass der beinah autistische Peter Ohlrogge in einer Therapiegruppe das "Loslassen" übt. Auch Pauls Beziehung zu seiner Freundin Christina geht allzu nebensächlich per SMS zu Ende, was höchstens zu seiner Versager-Vita passt. Künstler ist Paul nicht geworden, als Galerist hat er es zu nichts gebracht, und auch in die Vergangenheitsbewältigung ist er eher passiv hineingerutscht, dieser Mann, der durch das Jahrhundert fiel.

    "Mich interessieren ja immer mehr die Scheiternden als die Erfolgreichen. Ich weiß, dass man immer sehr viel über die Komik in diesem Roman spricht, aber für mich ist die Komik eher so ein Schutzmantel für die Traurigkeit dieser Figuren eigentlich."

    Pauls Onkel Nullkück ist das beste Beispiel für diese durch Komik getarnte Traurigkeit. Den Namen hat ihm der alte Kück verpasst, der meinte, aus so einem Behinderten könne ja kein richtiger Kück werden. Diese Haltung, jemanden zum Unter-Menschen zu erklären, ist bereits ein Hinweis auf die Infizierung von Pauls Großvater durch den Ungeist des Nationalsozialismus. Er wird aber zu Beginn des Romans noch leicht überlesen, zumal Nullkück eine echt komische Figur ist. Er kann kaum sprechen, aber schreiben. Früher warf er vom Traktor herunter den Bauernmädchen Liebesbriefe zu. Später wird er passionierter Internetnutzer, auf den Kontaktseiten kann er sich als ein anderer Mann ausgeben, erhält Antworten – und ist fast glücklich. Aber dann bricht ihm die Wahrheit über die Familie und über seine Herkunft das Genick. Als das Haus im Teufelsmoor endgültig dem Grundbruch entgegenrutscht, liegt Nullkück schon im Sterben. Paul lässt das Haus versinken und geht seiner Wege. Er könnte noch eine Chance haben und als letzter Kück zumindest sein eigenes Leben retten. Insofern geht es ihm besser als Hanno Buddenbrook.

    Moritz Rinke: "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel". Roman.
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 496 S., 19,95 Euro