Karin Fischer: Irgendwann, kurz nachdem er den Literaturnobelpreis erhalten hatte, weigerte sich Orhan Pamuk strikt, politisch Stellung zu seinem Land zu beziehen, nicht nur, weil er schon schlechte Erfahrungen mit dem Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs – das ist der Artikel über die Beleidigung des Türkentums – machen musste, sondern, weil er Literat war und keine Stellvertreterkriege mehr führen mochte. In den vergangenen beiden Tagen war so ziemlich alles, was Rang und Namen hat in der türkischen Literatur in Bamberg versammelt, im internationalen Künstlerhaus Villa Concordia, und Brigitte Neumann, die die Veranstaltung für uns besucht hat, habe ich gefragt, ob denn die Politik auch hier wieder Thema war und wenn ja, wie?
Brigitte Neumann: Ein Wort hieß Hinterland. Was ist denn dein Hinterland, woraus schöpfst du, hat der Moderator gefragt, und da kam dann raus, dass da eine ganze Menge von diesen Inspirationsquellen, aus denen die Schriftsteller schöpfen, politisch sind. Zum Beispiel Sema Kaygusuz, gestern Abend hat die Suhrkamp-Autorin, die mit "Wein und Gold" 2008 hervorgetreten ist, die fing an auf dem Podium, zu schluchzen und hat gesagt, dass sie eigentlich mit diesem Buch versucht hat, herauszufinden, wieso in ihrer Familie immer geschwiegen wurde. In dem Buch ging es um den Putsch 1980, der eben viele getroffen hat, die ganze intellektuelle Schicht der Türkei wurde quasi ausgelöscht, vertrieben, zum Schweigen gebracht, aber auch Minderheiten – Juden, Aleviten –, Sema Kaygusuz' Familie von Aleviten wurde zum Schweigen gebracht und der Vater wurde degradiert, er war Offizier, der durfte dann nicht mehr in der Armee dienen. Man verarmte, es brach eine Depression aus und Sema Kaygusuz versuchte eben herauszufinden: Was war eigentlich los? Und genau so hat das Murat Uyurkulak gemacht: Der Onkel wurde ermordet, die Eltern haben sich getrennt, der Vater war Sozialist, durfte nicht mehr zur Arbeit gehen, die Mutter wurde depressiv, er hat gesagt, er wurde Bettnässer und wir wissen sehr wenig von diesen Menschenrechtsverletzungen, die damals passiert sind, die erst sechs Jahre nach dem Putsch 1980 so langsam von Menschenrechtsorganisationen thematisiert wurden, aber nie in der Türkei selbst. Der General Herr Evren, der damals diesen Putsch angeführt hat, der ist heute an der Ägäis und Hobbymaler und völlig unbehelligt.
Fischer: Auch dabei in Bamberg waren Übersetzer und Verleger aus Deutschland und der Türkei. Es gibt seit dem Literaturnobelpreis 2006 an Orhan Pamuk, und seitdem die Türkei Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2008 war, ja wirklich viel aus dem Türkischen übersetzte Literatur in den Buchhandlungen in Deutschland. Wie ist es seit diesem Boom weitergegangen?
Neumann: Ja, es wurde beklagt, dass nach 2008, nach dem steilen Anstieg dann plötzlich ein Abfall quasi auf null war. Es gibt ja die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, finanziert von der Robert Bosch Stiftung, die auch diese Tagung da ausrichtete, und der verkaufte eben nichts mehr. Lucien Leitess aus Zürich hat dann auch eine lange Rede gehalten darüber, dass man immer Anlässe braucht, um türkische Literatur zu verkaufen. Die Verleger wären da, die Bücher wären da, nur die Leser würden fehlen. Es gäbe nicht genügend deutsche Leser für türkische Literatur. Dazu hat dann Thomas Friedmann vom Literaturhaus in Salzburg gesagt: Aber eigentlich, vom Marketingtechnischen her, kann es uns überhaupt nicht besser gehen. Die Türkei ist ständig in den Schlagzeilen, Beitritt ja oder nein, Minarette ja oder nein, und davon profitiert doch eigentlich auch die Literatur. Aber so ist es eben nicht.
Fischer: Und worauf führen denn die Spezialisten dieses sehr nachlassende Interesse an der türkischen Literatur zurück?
Neumann: Erst mal ist ihnen aufgefallen, dass die türkischen Gemeinden in Deutschland selbst überhaupt nicht lesen. Die finden das zwar gut, wenn die Autoren kommen, aber das ist auch in der Türkei so: Kommt Murathan Mungan im Fernsehen und packt aus – er ist homosexuell, er ist Kurde, er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist sehr unterhaltsam und zudem ein guter Autor –, dann gucken alle Leute hin, aber die Bücher werden nicht gekauft. Fernsehen wird geguckt. Und ein weiterer Grund ist, dass die Türken eben die eigene Geschichte aufarbeiten, von der wir so gar keine Ahnung haben. Es fehlt die Möglichkeit zu verstehen, was der Hintergrund dieser Bücher ist. Man braucht immer einen Fundus von Informationen, um dann Metaphern verstehen zu können, um Anspielungen und die künstlerische Art der Verarbeitung überhaupt verstehen zu können.
Fischer: Danke an Brigitte Neumann, sie berichtete von einem Treffen türkischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Bamberg.
Brigitte Neumann: Ein Wort hieß Hinterland. Was ist denn dein Hinterland, woraus schöpfst du, hat der Moderator gefragt, und da kam dann raus, dass da eine ganze Menge von diesen Inspirationsquellen, aus denen die Schriftsteller schöpfen, politisch sind. Zum Beispiel Sema Kaygusuz, gestern Abend hat die Suhrkamp-Autorin, die mit "Wein und Gold" 2008 hervorgetreten ist, die fing an auf dem Podium, zu schluchzen und hat gesagt, dass sie eigentlich mit diesem Buch versucht hat, herauszufinden, wieso in ihrer Familie immer geschwiegen wurde. In dem Buch ging es um den Putsch 1980, der eben viele getroffen hat, die ganze intellektuelle Schicht der Türkei wurde quasi ausgelöscht, vertrieben, zum Schweigen gebracht, aber auch Minderheiten – Juden, Aleviten –, Sema Kaygusuz' Familie von Aleviten wurde zum Schweigen gebracht und der Vater wurde degradiert, er war Offizier, der durfte dann nicht mehr in der Armee dienen. Man verarmte, es brach eine Depression aus und Sema Kaygusuz versuchte eben herauszufinden: Was war eigentlich los? Und genau so hat das Murat Uyurkulak gemacht: Der Onkel wurde ermordet, die Eltern haben sich getrennt, der Vater war Sozialist, durfte nicht mehr zur Arbeit gehen, die Mutter wurde depressiv, er hat gesagt, er wurde Bettnässer und wir wissen sehr wenig von diesen Menschenrechtsverletzungen, die damals passiert sind, die erst sechs Jahre nach dem Putsch 1980 so langsam von Menschenrechtsorganisationen thematisiert wurden, aber nie in der Türkei selbst. Der General Herr Evren, der damals diesen Putsch angeführt hat, der ist heute an der Ägäis und Hobbymaler und völlig unbehelligt.
Fischer: Auch dabei in Bamberg waren Übersetzer und Verleger aus Deutschland und der Türkei. Es gibt seit dem Literaturnobelpreis 2006 an Orhan Pamuk, und seitdem die Türkei Gastland auf der Frankfurter Buchmesse 2008 war, ja wirklich viel aus dem Türkischen übersetzte Literatur in den Buchhandlungen in Deutschland. Wie ist es seit diesem Boom weitergegangen?
Neumann: Ja, es wurde beklagt, dass nach 2008, nach dem steilen Anstieg dann plötzlich ein Abfall quasi auf null war. Es gibt ja die Türkische Bibliothek im Unionsverlag, finanziert von der Robert Bosch Stiftung, die auch diese Tagung da ausrichtete, und der verkaufte eben nichts mehr. Lucien Leitess aus Zürich hat dann auch eine lange Rede gehalten darüber, dass man immer Anlässe braucht, um türkische Literatur zu verkaufen. Die Verleger wären da, die Bücher wären da, nur die Leser würden fehlen. Es gäbe nicht genügend deutsche Leser für türkische Literatur. Dazu hat dann Thomas Friedmann vom Literaturhaus in Salzburg gesagt: Aber eigentlich, vom Marketingtechnischen her, kann es uns überhaupt nicht besser gehen. Die Türkei ist ständig in den Schlagzeilen, Beitritt ja oder nein, Minarette ja oder nein, und davon profitiert doch eigentlich auch die Literatur. Aber so ist es eben nicht.
Fischer: Und worauf führen denn die Spezialisten dieses sehr nachlassende Interesse an der türkischen Literatur zurück?
Neumann: Erst mal ist ihnen aufgefallen, dass die türkischen Gemeinden in Deutschland selbst überhaupt nicht lesen. Die finden das zwar gut, wenn die Autoren kommen, aber das ist auch in der Türkei so: Kommt Murathan Mungan im Fernsehen und packt aus – er ist homosexuell, er ist Kurde, er nimmt kein Blatt vor den Mund und ist sehr unterhaltsam und zudem ein guter Autor –, dann gucken alle Leute hin, aber die Bücher werden nicht gekauft. Fernsehen wird geguckt. Und ein weiterer Grund ist, dass die Türken eben die eigene Geschichte aufarbeiten, von der wir so gar keine Ahnung haben. Es fehlt die Möglichkeit zu verstehen, was der Hintergrund dieser Bücher ist. Man braucht immer einen Fundus von Informationen, um dann Metaphern verstehen zu können, um Anspielungen und die künstlerische Art der Verarbeitung überhaupt verstehen zu können.
Fischer: Danke an Brigitte Neumann, sie berichtete von einem Treffen türkischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Bamberg.