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Die Bühne als Labor

Er hat Generationen von Schauspielern geprägt und die Rollenarbeit revolutioniert. Bis heute gilt Konstantin Sergejewitsch Stanislawski als Übervater des Künstlertheaters.

Von Klaus Kuntze | 17.01.2013
    "Wir protestierten gegen die frühere Art des Spielens, gegen die schauspielerische Routine, gegen die alberne Konvention in Inszenierung und Bühnenbild, überhaupt gegen den ganzen gewöhnlichen Ablauf der Vorstellungen sowie gegen den nichtigen Spielplan der damaligen Theater",

    schrieb Konstantin Sergejewitsch Stanislawski in seinen frühen Aufzeichnungen "Mein Leben in der Kunst".

    "Ich wurde in Moskau im Jahre 1863 geboren – am 17. Januar nach dem gregorianischen Kalender - zu einem Zeitpunkt, als zwei Epochen einander ablösten. Ich war Zeuge der Entwicklung von der Leibeigenschaft zum Bolschewismus und Kommunismus."

    Den Namen Stanislawski legte er sich aus Rücksicht auf seine begüterte Familie, die Alexejews, schon früh zu. Gemeinsam mit dem Literaten Nemirowitsch-Dantschenko gründete er 1898 in Moskau das "Künstlertheater für alle".

    Stanislawski, der als begabter Laienspieler begann, suchte dem Handwerk des Schauspielers auf die Spur zu kommen: äußerlich, bis ihn Anton Tschechow auf das innere Erleben der Figuren lenkte. Stanislawski wurde zum Übervater des Künstlertheaters.

    "Wir erwarteten dann den großen Stanislawski und das Erste, was man empfand, er schien vergessen zu haben, dass ganz Europa ihm zugejubelt hat, dass seine Schauspielertheorie ja eigentlich schon das Objekt eines akademischen Studiums ist."

    Fjodor Stepun, einer seiner Schüler, erinnerte sich Jahrzehnte später, dass Stanislawski immer direkt an die Arbeit ging, hellwach und kritisch gegenüber jedem Satz, jeder Geste der Schauspieler.

    Probe zu Molières "Tartuffe" – ein Mitschnitt aus den 30er-Jahren mit der einzigen Aufzeichnung der Stimme Stanislawskis.

    "Stopp! Hören Sie! - Die beiden kommen doch wie Gegner zusammen, der eine will dem anderen was am Zeug flicken, und der andere will den nur loswerden. Diese Worte müssen Sie wie im Leben benutzen."

    Das ist es, was den deutschen Regisseur Peter Stein noch heute an Stanislawski interessiert:

    "die Forderung, nämlich die der Glaubwürdigkeit, das heißt, das Aneignen des Textes in einer Art und Weise, als hätte der Schauspieler diesen Text in diesem Augenblick sich ausgedacht."

    Stanislawski diente die Bühne zu endloser Laborarbeit. Dann kam die Revolution von 1917.

    Stanislawski und sein Ensemble durften jahrelang auf Tourneen in Europa und die USA gehen. Der Ruhm verhalf Stanislawski zunächst, an seiner Methode festzuhalten – andererseits blieb er von politischen Zwängen nicht verschont, erklärt die Theaterwissenschaftlerin und Slawistin Sabine Koller von der Universität Regensburg:

    "Die eine Linie ist die, die sehr stark den Schwerpunkt setzt auf das psychologische, auch ziemlich realitätsnahe Regietheater und Schauspieltheater. Das ist eher so diese klassische oder traditionelle Form, die man kennt. Und dann gibt es eben aufgrund dieser Experimente in den dreißiger Jahren einen Stanislawski, der sich selbst ein bisschen relativiert hat, dadurch, dass er sehr stark das Handlungsmoment auf der Bühne betont hat und hier eigentlich einen Raum schafft, durch Handlungen auf der Bühne, in denen auch nichtpsychologische Momente eine Rolle spielen können."

    "Der Stalin hatte die Idee, es sollte eine Theaterakademie entstehen",

    erklärt der Berliner Stanislawski-Forscher und Übersetzer Dieter Hoffmeier.

    "Und er brauchte dafür eine Art Lehrbuch, und vom Stanislawski-System war ja vielfach die Rede, und so wurde dieses Stanislawski-System installiert, sozusagen normativ für die Arbeit aller Theater."

    Stanislawski sollte einem linientreuen Theater Leben einhauchen und reagierte mit Krankheit, halbherzigen Versuchen, sich dem Stalinismus anzupassen. Stanislawski starb, hochgeehrt, 1938 in Moskau.

    Sein System, sein dogmatisiertes System, wurde später zum Streitpunkt zwischen Theaterleuten in Ost und West. Ist sein Labor, sein "Künstlertheater" zum Museum geworden? Der langjährige Chefdramaturg der Bühne, Anatolij Smeljanski, umschreibt den Anachronismus.

    "Die eigentliche Idee des Künstlertheaters ist die eines zeitgenössischen Theaters gewesen. Das ist kein Theater für die Ewigkeit. Das ist doch kein Nationaltheater. Das muss man verstehen. Daher die Verwirrung und das Zwitterhafte."