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Die Bürde und Würde des Amtes

Die Mehrheit war knapp, aber schlussendlich ausreichend: Mit 613 Stimmen wurde Horst Köhler im Amt des Bundespräsidenten bestätigt. Doch im Zuge der Wiederwahl kommen auch die aktuellen Fragen rund um das Amt auf: Wie viel Macht hat der Präsident? Sollte er direkt gewählt werden - oder die Funktion komplett abgeschafft werden? Ein Hintergrund über die Rechte und Pflichten des Präsidenten.

Robert Leicht im Gespräch mit Thilo Kößler und Beiträge von Peter Kapern | 23.05.2009
    Thilo Kößler: Und ich wünsche Ihnen einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren. Bundespräsident Horst Köhler nach der Wahl:

    "Je älter ich werde, desto neugieriger werde ich. Ich freue mich auf die kommenden fünf Jahre, und ich verspreche Ihnen, liebe Landsleute, ich werde weiter mein Bestes geben. Und Dir, Eva - wo ist sie?, ja - möchte ich Danke sagen. Jede Stunde ist ein Geschenk mit Dir."

    Horst Köhler war das heute Nachmittag nach dem ersten Wahlgang um 14.35 Uhr in der Bundesversammlung im Berliner Reichstag - das Ergebnis ist denkbar knapp, aber die 613 Stimmen reichen. Horst Köhler dankt mit einem sehr persönlichen Bekenntnis zu seinem Amt, zu seinem Land und: zu seiner Frau. Beide werden also für weitere fünf Jahre die Hausherren in Schloss Bellevue sein - Gesine Schwan, die Herausforderin, kann dort nicht einziehen.

    Wir haben seit heute Mittag ausführlich über diese Wahl in der Bundesversammlung berichtet - wir haben Stimmen und Stimmungen eingefangen in den politischen Lagern und haben das Ergebnis analysiert. Wir wollen uns jetzt in den nächsten 20 Minuten mit dem Amt des Bundespräsidenten beschäftigen, mit Funktionen und Kompetenzen, mit der politischen Rolle und dem politischem Einfluss - mit Fragen also, die über diesen Wahltag hinausweisen. Ich darf in unserem Studio in Berlin Robert Leicht begrüßen - er war Chefredakteur der ZEIT, er ist heute deren politischer Korrespondent, Kolumnist, Leitartikler und, und, und...
    schönen guten Abend Herr Leicht.

    Robert Leicht: Guten Abend.

    Kößler: Die Frage des Tages darf ich Ihnen auch stellen, ein Wort zur Bewertung: Wurden da heute wirklich Weichen für die Bundestagswahl gestellt? Ging da Signalwirkung aus?

    Leicht: Na, Signalwirkung wäre ausgegangen, wenn die Wahl anders ausgegangen wäre. Wenn nicht im ersten Wahlgang Horst Köhler wiedergewählt worden wäre, denn dann hätte man doch sehen müssen, dass das schwarz-gelbe Lager seine Stimmen nicht zusammenhalten kann.

    Kößler: Das Ergebnis kam nicht überraschend. Trotzdem hätte es auch anders ausgehen können, so unsicher wie die Mehrheitsverhältnisse waren. Anders als seine Vorgänger konnte sich Horst Köhler bei seiner Wiederwahl nicht auf einen Amtsbonus verlassen. Warum nicht?

    Robert Leicht: Na ja, den Amtsbonus brauchte er nicht. Er brauchte die Stimmen der Leute, die ihn aufgestellt haben, und die hat er bis auf eine ja bekommen. Es ist ja keine Volkswahl. Umgekehrt kann man sagen, Frau Schwan hat nicht einmal die Stimmen derer bekommen, die sie aufgestellt haben - allerdings halbherzig. Das spielt, glaube ich, bei einer so indirekten Wahl keine Rolle. Die schwarz-gelbe Koalition - wenn sie denn zustande käme - hat jedenfalls gezeigt, hier können wir unsere Stimmen zusammenbringen. Und mehr hatten sie nicht.

    Kößler: Es wird immer gesagt, der politische Einfluss eines Bundespräsidenten hängt auch von seiner persönlichen Autorität ab. Seine Kompetenzen sind jedenfalls laut Grundgesetz, das just heute vor 60 Jahren in Kraft getreten ist, eng umrissen. Peter Kapern schildert sie:

    Die Macht des Wortes
    Der zur Ironie neigende erste Bundespräsident, Theodor Heuss, beschrieb die Rolle seines Amtes als die eines Staatsschauspielers. Der Bundespräsident handle nicht, aber er denke laut - so brachte Heuss das stärkste Instrument des Staatsoberhauptes auf den Punkt: Das Wort. Das diskret hinter verschlossenen Türen gesprochene ebenso wie die öffentliche Rede. Einfluss auf die Politik nimmt er, wenn er in vertraulichen Gesprächen mit Regierungs- und Parteipolitikern in die Rolle des Mahners und Warners schlüpft. Einfluss nimmt er auch, wenn er ans Rednerpult geht, um den Bürgern den Lauf der Dinge zu erklären, sie zu motivieren, um ihr Vertrauen zu werben. In den Grundgesetzkommentaren wird diese Aufgabe des Bundespräsidenten nüchtern mit dem Begriff der Integration des Staatsvolkes beschrieben. In einem politischen System, in dem der scharfe Wettbewerb der Parteien unabdingbar ist, soll der Bundespräsident als zusammenführende Kraft wirken, die dazu beiträgt, Staat und Gesellschaft zusammenzuhalten. Tatsächlich haben Präsidentenreden Geschichte gemacht. Etwa die von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegendes, in der er den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnete. Oder am 3. Oktober 1990, in der er Mut machte für die gewaltigen Aufgaben, vor denen das Land nach der Vereinigung stand:

    "Es gibt drinnen und draußen drückende Sorgen. Das übersehen wir nicht. Vorbehalte unserer Nachbarn nehmen wir ernst. Aber wir wollen und werden uns nicht von Ängsten und Zweifeln leiten lassen, sondern von Zuversicht!"

    Besonders dann, wenn das Staatsschiff in raue See gerät, ist der Bundespräsident gefragt. Dann zählt es auch zu seinen Aufgaben, die Menschen im Lande wachzurütteln. Carl Carstens etwa appellierte in seiner Weihnachtsbotschaft 1981 an die Deutschen, den Gürtel enger zu schnallen. Gerade hatte die zweite Ölkrise die Wirtschaft stark getroffen. Eineinhalb Jahrzehnte später die nächste Wachstumsdelle, die Tonlage verschärfte sich. Die berühmte Ruck-Rede Roman Herzogs:

    "Der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Alle sind angesprochen. Alle müssen Opfer bringen, die Großen mehr, die Kleinen weniger. Aber es müssen auch alle mitmachen."

    Das besondere an Herzogs Rede: Er las nicht nur den reformunwilligen Bürgern die Leviten, sondern gleichermaßen der reformunfähigen Politik. Der Bundespräsident als Anti-Politiker. Eine Rolle, die auch schon Richard von Weizsäcker eingenommen hatte, als er die Politik der Machtversessenheit und Machtvergessenheit zieh. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zum Vorwurf, der Bundespräsident bediene sich des Populismus. Niemand hat ihn so sehr auf sich gezogen wie Horst Köhler.

    Kößler: Peter Kapern über Aufgaben und Kompetenzen des Bundespräsidenten. Robert Leicht, wir haben es gerade gehört: Der Bundespräsident darf Mut machen. Er hat heute zum Beispiel gesagt: Unser Land steckt in einer Krise, aber wir werden es schaffen. Er darf mahnen. Er darf warnen. Das alles steht im Grundgesetz. Darf er sich auch ins politische Tagesgeschäft einmischen?

    Leicht: Noch nicht einmal der Auftrag zur Mahnung und Warnung steht im Grundgesetz. Er hat zunächst die Aufgabe, die Einheit der Nation zu repräsentieren und das zu repräsentieren, was uns in dieser Nation zusammenhält. Und das ist nicht wenig. Und nur Gesellschaften, die ein Gespür für Stil verloren haben, schätzen diese Funktion gering. Und die ist schon sehr wichtig. Darüber hinaus hat er keine politische Agenda zu verfolgen. Im Gegenteil: Das Grundgesetz bindet ihn an die Gegenzeichnung durch die Bundesregierung. Das heißt, er soll eben nicht eine Politik vertreten, die der der demokratisch gewählten und legitimierten Regierung entgegengesetzt ist. Wenn er Mut machen kann, dann soll er das so machen, dass die Politiker das, was sie eigentlich wollen, durchsetzen können, Aber er muss immer wissen: Wenn er weit nach vorne eilt mit seinen Reden, er muss die Mehrheiten nicht zusammenbekommen. Er muss immer so reden, dass die Politiker die Mehrheiten für das Richtige zusammenbekommen können. Und insofern würde ich nicht sagen, dass Horst Köhler den Spalt zwischen Politikern und dem Volk vertieft hätte. Sonst müssten wir Journalisten ja in Sack und Asche gehen, die wir dauernd die Politiker kritisieren.

    Kößler: Aber man sagt, es steht nicht gut um die Demokratie. Die Parteien verlieren an Rückhalt. Die Wahlbeteiligung sinkt. Ist es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, die Menschen mit der Politik zu versöhnen, statt die Politiker - na, ist vielleicht ein bisschen stark - aber doch etwas an den Pranger zu stellen?

    Leicht: Na, wie bringt man denn die Leute zusammen? Doch nicht dadurch, dass man das, was nicht schön ist, schönredet. Für mich ist der Bundespräsident keine Art säkularisierter Bischof, der über das geistliche Wort zu sprechen hat. Da soll er sich zurückhalten. Die Politiker müssen sich selber um das Vertrauen der Bürger kümmern. Die Aufgabe kann ihnen der Bundespräsident nicht abnehmen. Und wenn er es versucht, dann sagt man ihm ja doch wieder nur, er versuche die Distanz zwischen Politik und Bevölkerung zu vergrößern. Er muss sich da äußerst zurückhalten. Und in bestimmten Situationen kann er pointiert etwas sagen. Richard von Weizsäcker hat ja nicht die Distanz zwischen den Politikern und den Menschen vertieft, sondern er hat die Parteipolitik und die allen Parteien gemeinsame Art ihre Parteiinteressen wichtiger zu nehmen als die politischen Sachen kritisiert. Und das tun wir Journalisten ja auch.

    Kößler: Die Menschen sind verunsichert, das Vertrauen in die Parteien schwindet. Niemand weiß, wie sich Wähler besonders in diesem Wahljahr der Wirtschaftskrise verhalten werden. Die Rede ist schon von einer weiteren Fragmentierung der Parteienlandschaft - und tatsächlich ist es schon im Zeichen des Fünf-Parteiensystems schwieriger geworden, zu klaren Mehrheiten zu kommen. Das könnte Konsequenzen für das Amt des Bundespräsidenten haben - welche?, sagt Peter Kapern.

    Der Bundespräsident und das Fünf-Fraktionen-Parlament
    Vier Monate noch bis zur Bundestagswahl. Und einige der jüngsten Umfragen deuten an, dass die anschließende Regierungsbildung komplizierter werden könnte als alle vorangegangenen. Klare Mehrheiten, abseits der Großen Koalition, deren Ende nicht zuletzt von Union und SPD herbeigesehnt wird, sind fraglich. Kurzum: Diesmal könnte zum Balanceakt werden, was bislang immer Routine war: Der Vorschlag des Bundespräsidenten zur Wahl des Bundeskanzlers, den der Bundestagspräsident den Abgeordneten übermittelt, wie hier Erich Köhler 1949:

    "Nach Artikel 63, Absatz 1 wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. Der Herr Bundespräsident hat mir folgendes Schreiben übermittelt. Ich schlage den Abgeordneten Dr. Konrad Adenauer zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vor."

    Das Grundgesetz sagt nichts darüber, wen der Bundespräsidenten vorzuschlagen hat. Keine Festlegung auf den Kandidaten der stärksten Fraktion oder den der stärksten Partei. Selbst einen Quereinsteiger, der nicht einmal dem Bundestag angehört, könnte das Staatsoberhaupt in die Wahl schicken. Und trotzdem ist das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten in normalen Zeiten eng umgrenzt. Er wird in informellen Gesprächen mit den Fraktionen und Parteien herausfinden, welcher Politiker eine reelle Chance hat, die Kanzlermehrheit zu erreichen. Er wird sein Urteil im Lichte der getroffenen Koalitionsvereinbarungen fällen. Täte er dies nicht und fiele sein Vorschlag im Bundestag durch, hätte er sich und seinem Amt politischen Schaden zugefügt. Was aber, wenn die Großkoalitionäre tatsächlich ihre Zusammenarbeit beenden und sich gleichzeitig Verhandlungen über ein für die Bundesrepublik neues Dreier-Bündnis mitten in der Wirtschaftskrise über Monate hinziehen? Wann wäre dann für das Staatsoberhaupt der Zeitpunkt gekommen, eine Bresche zu schlagen und einen unverbrauchten Außenseiter ins Rennen zu schicken? Oder was, wenn ein Regierungschef nach Artikel 63, Absatz IV des Grundgesetzes, nur mit einfacher Mehrheit gewählt würde und damit als Kanzler einer Minderheitsregierung auf Duldung angewiesen wäre. In diesem Fall hätte der Bundespräsident die Möglichkeit, den Kanzler nicht zu ernennen, sondern den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.

    Kößler: Der Hintergrund heute Abend zur Wahl des Bundespräsidenten. Robert Leicht in Berlin, wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Nimmt die Perspektive unsicherer Mehrheiten im Zeichen der Wirtschaftskrise zu? Könnte der Bundespräsident ganz anders gefordert sein als bisher?

    Leicht: Nein, parteipolitisch sieht es ja so aus, als ob von dieser Wirtschaftskrise die Extremisten nicht profitieren - und der Rest ist offen. Roman Herzog hat am Ende seiner ersten Amtszeit schon einmal gedacht, die Regierungsbildung könnte kompliziert werden, und da müsse er vielleicht noch ein zweites Mal antreten, um in diesen vermuteten unklaren Verhältnissen staatsleitend eingreifen zu können. Erstens kam das Ergebnis völlig anders. Es gab Rot-Grün, und man brauchte keinen Bundespräsidenten. Und zweitens: Er hätte auch dann nichts bewirken können. Denn wie in dem Beitrag zu Recht gesagt worden ist, der Bundespräsident kann ja im Ernst nur jemanden vorschlagen, wenn sich eine Mehrheit bereits gefunden hat. In einem Verhältnis, in dem die Mehrheit noch nicht da ist, irgendjemanden zu präsentieren und verheizen zu lassen, das geht nicht. Im übrigen, so kenne ich doch meine heutigen Parteien, die demokratischen jedenfalls, dass sie in jedem Fall die Große Koalition fortsetzen würden, wenn eine andere Regierungsbildung in absehbarer Zeit nicht zustande kommt. Da kann der Bundespräsident in Hintergrundgesprächen die Leute ein bisschen befragen und sagen: ja, könnt Ihr nicht?... - aber er hat da überhaupt keine Möglichkeit gegen eine sich irgendwie kristallisierende parlamentarische Situation sozusagen den Obermeister zu machen.

    Kößler: Aber könnte man trotzdem sagen, dass die Bedeutung des Amtes wächst, wenn das parlamentarische System in Schwierigkeiten oder an Grenzen kommt?

    Leicht: Das glaube ich nicht. Wir hatten ja schon Situationen, die wir für schwierig hielten und die haben die Parlamentarier dann am Ende mit ihrer Vernunft selber in den Griff bekommen. Die ganzen Fragen gehen davon aus, dass unsere Parteipolitiker am Ende verrückt spielen und nur noch der Bundespräsident einen kühlen Kopf bewahrt, und das unterstelle ich nicht.

    Kößler: Horst Köhler ist der beliebteste Politiker derzeit. Das Ergebnis wäre heute nicht anders ausgefallen, wenn nicht die Bundesversammlung gewählt hätte, sondern wenn es eine Direktwahl gegeben hätte. Und immer wieder kommt diese Diskussion über eine Direktwahl des Bundespräsidenten auf. Und Horst Köhler beteiligt sich selbst daran. Heute hat er gesagt, diese Frage dürfe in seiner zweiten Amtszeit kein Tabu sein. Das Grundgesetz sieht das anders. Noch einmal Peter Kapern:

    Der machtlose Bundespräsident
    Nichts war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes so suspekt wie eine Machtfülle im Präsidialamt. Zu schlecht waren die Erfahrungen mit der Weimarer Republik, mit dem zweiten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der war Oberbefehlshaber der Streitkräfte, hatte Gesetzgebungsbefugnis in Zeiten des Notstands und wählte die Reichskanzler aus - auch Hitler. Deshalb ist der Bundespräsident des Grundgesetzes so schwach, eine pouvoir neutre, eine "neutrale Gewalt". Nur das Gnadenrecht ist ihm von der ganzen Machtfülle des Reichspräsidenten geblieben.
    Der Bundespräsident repräsentiert die Bundesrepublik in der Welt, was allerdings keinesfalls bedeutet, dass er Außenpolitik betreibt, wie Gustav Heinemann schon vor 40 Jahren erklärte:

    "Es ist ausgeschlossen, dass der Bundespräsident eigene politische Aktionen, zumal etwa auf dem Gebiet der Außenpolitik übernimmt. Das hat er völlig der Regierung zu überlassen, die ja auch allein dem Parlament gegenüber die Verantwortung zu tragen hat."

    Über die Repräsentation hinaus soll der Bundespräsident im Lande integrierend und ausgleichend wirken und dabei parteipolitisch neutral bleiben. Und schließlich hat er sogenannte staatsnotarielle Aufgaben zu erfüllen. Etwa, wenn er Minister und Beamte ernennt oder entlässt oder Gesetze ausfertigt. Trotz dieser eng umgrenzten Befugnisse wird der Bundespräsident zuweilen zum Ärgernis für Bundestag und Bundesregierung, etwa, wenn er sich, wie dies Horst Köhler zweimal getan hat, weigert, ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz zu unterschreiben. Darf er lediglich prüfen, ob das Gesetz auf verfassungskonforme Art zustande gekommen ist? Oder darf er weitergehen und selbst beurteilen, ob auch der Inhalt eines Gesetzes verfassungskonform ist? Auch sechzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik ist dieses sogenannte materielle Prüfungsrecht des Staatsoberhauptes umstritten. Würde dieser Streit eindeutig zugunsten des Bundespräsidenten entschieden, hätte er an Macht gewonnen.
    Das Staatsoberhaupt gegenüber den anderen Institutionen zu stärken - dazu hat es eine ganze Reihe von Anläufen gegeben. Angefangen beim ersten Amtsinhaber Theodor Heuss. Der hatte verlangt, bei Beratungen des Bundeskabinetts über grundlegende Fragen mit am Tisch sitzen zu dürfen. Der erste Kanzler der Republik, Konrad Adenauer, ließ ihn abblitzen. Ob der oberste Repräsentant unseres Staates nicht dadurch gestärkt werden sollte, dass er direkt vom Volk gewählt wird - auch diese Frage wird regelmäßig aufgeworfen. Manchmal sogar vom Amtsinhaber selbst:

    "Ich glaube, dass es kein schlechtes Modell wäre, den Bundespräsidenten direkt zu wählen - vielleicht sogar nur für eine Periode von sieben oder acht Jahren, dann ist auch das Gerangel um die Wiederwahl, das immer auch politische Momente hat, ein bisschen eingegrenzt."

    Kößler: Die Direktwahl des Bundespräsidenten - Robert Leicht in Berlin - das ist ein weites Feld. Wir sollten mal darüber sprechen. Heute hat Hubert Aiwanger von den Freien Wählern für eine Direktwahl plädiert, weil, wie er sagte, Bürger eine Vertrauensperson brauchen, die den Parteienzwist überbrücken. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich entschieden dagegen ausgesprochen. Hat er gewichtige Argumente?

    Leicht: Na ja, die Frage nach der Direktwahl ist einfach ein Loch Ness und ein Unfug. Wir wollten keine doppelte Staatsspitze haben. Eine Direktwahl würde bedeuten, dass der Bundespräsident mit einem eigenen demokratischen Mandat gegen das demokratische Mandat des Bundestages und der Bundesregierung antritt. Und dann haben sie alle denkbaren Konflikte, abgesehen dass es an Kompetenzen des Bundespräsidenten fehlt. Im übrigen hat es ja andere Versuche gegeben, nämlich den Bundespräsidenten zu, ja sagen wir, zu kastrieren, indem man ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages vorsieht. Dann kann der Bundespräsident sich aus allen Fragen der Kanzler- und der Regierungsbildung völlig verabschieden. Richard von Weizsäcker hat das eben noch mit Mühe abgewehrt gehabt. Nein, daran ist einfach nichts. Und ich begreife es nicht, warum Horst Köhler in eigener Sache das Thema wieder aufrührt. Es kann daraus nichts werden, und es wird daraus nichts werden, und Gott sei Dank nicht.

    Kößler: Es gibt dazu eine Gegenthese, die ich ganz interessant finde, die lautet: Das Amt ist so ohne substantiellen politischen Einfluss, der Amtsinhaber kann in Wirklichkeit so wenig gestalten und aktiv eingreifen, dass man dieses Amt eigentlich abschaffen sollte statt es aufzuwerten. Was ist davon zu halten?

    Leicht: Das ist ebenso großer Unfug. In beiden Fällen erkennt derjenige, der die These vertritt, nicht, welche hohe Bedeutung stilvolle Repräsentation des Gemeinwesens und dessen, was es zusammenhält, wirklich darbietet. Nehmen wir unseren Richard von Weizsäcker. Der war ja nun ein exzellenter Bundespräsident und hat dies doch alles fertiggebracht. Ich fürchte, wer entweder am Wahlverfahren oder an den Kompetenzen irgendwie noch ein bisschen Butter beifügen will, ist sich nicht sicher, dass er die Repräsentationsaufgabe aus eigener Kraft zustande bringt.

    Kößler: Der neue Bundespräsident ist der alte. Horst Köhler wurde heute im Amt bestätigt. Am Abend dieses Wahltages in der Bundesversammlung waren das Anmerkungen zu Funktion und Wirkungsmacht dieses höchsten Staatsamtes, das diese Republik zu bieten hat. Ich bedanke mich bei Robert Leicht für seine Thesen und seine Orientierungshilfe - und ich wünsche Ihnen und uns einen angenehmen Abend.