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Die Bürger von Bullet Park

Mundgeruch ist ein Makel. Er untergräbt Ehen, treibt Kinder aus dem Elternhaus, zerstört die Autorität von Pastoren und gilt als Kriegsgrund zwischen Potentaten. Mundgeruch zu bekämpfen, sollte daher als gesellschaftliche Heldentat gefeiert werden, zumindest aber die entsprechende Anerkennung erfahren. John Nailles, Vertriebsmanager einer Mundwasserfirma, leidet unter dem gegenteiligen Effekt: Er fühlt sich durch seinen Beruf diskriminiert. Allzu häufig erscheint es ihm, als hätten die Leute von Bullet Park, seiner Vorortsiedlung, einen höhnischen Zug um den Mund, wenn sie mit ihm sprächen. Mundgeruch ist ein Tabu, und wer sich der Bekämpfung tabuisierter Tatbestände hingibt, muß dies unter dem Deckmantel euphemistischer Umschreibungen tun. Gefragt, was er von Beruf sei, antwortet John Nailles: Chemiker. Und schon befindet er sich mitten in einem Gespinst von Lebenslügen. Unmerklich bildet es einen weichen Kokon, in dem sich trefflich leben läßt, solange kein Reiz von außen durch die Wattierung dringt. Auch die anderen Bewohner seiner Siedlung haben vorgesorgt; in Bullet Park kann man nicht anecken, weil jede Attacke sich in den weichen Schutzkokons verläuft. Schlimm-stenfalls deckt man den Mantel des Schweigens über einen Vorfall, und die Lebenswelt ist wieder in Ordnung.

Florian Felix Weyh |
    Man hat den Romancier und Erzähler John Cheever als "amerikanischen Anton Tschechow" bezeichnet, den Chronisten eines Vorstadtlebens, in dem die Nöte des russischen Landadels zu den Beschwernissen der amerikanischen Middleclass herabsinken. Tatsächlich ist manche Parallele nicht zu übersehen; das lähmende Gefühl der Sinnlosigkeit etwa, das sich nur durch ständig wiederholte Rituale bekämpfen läßt, durch Cocktailpartys oder exzessiven Kirchenbesuch. Wie Tschechow gelingt es Cheever, seine Figuren am Rande der Katastrophe wandeln und sie alle nur erdenklichen Fehler machen zu lassen, ohne daß sie für den Leser beschädigt werden. Mitgefühl ist hier noch eine echte empathische Kategorie, kein erzählerischer Trick; trotz satirischer Überspitzungen bleiben die Figuren auf dem Boden menschlicher Fehlbarkeiten und wachsen nicht ins unglaubhaft Groteske. Eine solche Literatur ist selten geworden, auch in den USA; gegen die grellen Reize der Unterhaltungsindustrie hätte sie heute wohl kaum noch eine Chance. Lange Zeit vergriffen, sind "Die Bürger von Bullet Park", ein spätes Werk des 1982 verstorbenen Schriftstellers, wieder auf Deutsch zu haben, und die Wiederveröffentlichung beschert uns ein kleines Juwel. Denn dieses Bullet Park vor den Toren New Yorks könnte bis auf wenige Eigenheiten auch in Köln-Delbrück oder in Hamburg-Lokstedt liegen. Selbst die dreißig Jahre Patina über dem Text schärfen seine Qualitäten noch. Deutlich treten die überzeitlichen Charakterzüge zutage, und was Ende der sechziger Jahre als vorläufige Zeitkritik ausgelegt werden mußte, hat sich inzwischen zum Signum einer Epoche gemausert. Entgegen aller Prophezeiungen dauert sie immer noch an. Weder die technologische Entwicklung, noch der wirtschaftliche Niedergang der Industriestaaten haben etwas daran geändert, daß wir in einer Middleclass-Gesellschaft leben, und unseren Tschechow brauchen wir nötiger denn je.

    Die Bürger von Bullet Park sind anständige Menschen, und ihr Soziotop ist widerstandsfähig. Ganz allmählich aber, während man die Geschichte von John Nailles, seiner Frau Nellie und seinem Sohn Tony verfolgt, ganz allmählich merkt man, daß die Selbstheilungskräfte dieses Organismus gestört sind. Je mehr aus dem Lot gerät, desto hilfloser wirken die konventionellen Beschwichtungsversuche. Tony etwa beschließt, kaum siebzehnjährig, das Bett zu hüten; die Kränkungen durch Schule und Welt sind zu mächtig geworden. Die Ärzte bleiben hilflos, die Psychiater geldgierig, die Prediger Schwätzer, nur ein seltsamer Heiler, den ausgerechnet die diebische Putzfrau empfielt, holt den Jungen wieder in die Welt zurück. Aber was heißt hier: in die Welt? Nach Bullet Park, das ohne Eingriffe von außen wie ein Kartenhaus zusammenfiele. Nailles schluckt Psychopharmaka gegen Panikattacken, die ihn unweigerlich überfallen, sobald er den Vorortzug besteigt. Sein flauschiges Glück ist allerdings ein illegales; der Arzt, der es verschrieb, verlor seine Approbation, nun muß Nailles die Tabletten beim Dealer erstehen. Hilfe von außen zieht Gefahr von außen nach; dieses Credo aller autarken Gesellschaften gilt auch für Bullet Park. Prompt kauft sich ein Fremdling namens "Hammer" in die Siedlung ein, und Nailles' durchaus intaktgebliebenes Sensorium für Unheil sagt ihm, daß der Name ein Programm verkörpere. Hier will jemand zerschlagen, was andere mühsam aufgebaut haben. Er behält nicht nur recht damit, es trifft ihn auch noch selbst. Hammer, bedrückt von schweren Depressionen, be-schließt, Nailles' Sohn auf dem Altar der Kirche zu verbrennen. Nein - Fanale sind in Bullet Park nicht vorgesehen, und kein Leser muß fürchten, seine ange-nehme Stimmung gegen Schluß des Romans einzubüßen. Mit ein paar Glückspillen vom Schwarzmarkt ist die Irritation bei Nailles schnell überwunden, und was für ihn die Pharmazie bedeutet, schenkt uns die Literatur John Cheevers. Vorteil für uns: Wir kriegen sie im Buchhandel, und statt uns einzulullen, macht sie uns ein Stückchen wacher.