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Die Bundesregierung schließt die Prager Botschaft

Bevor 1989 die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten fiel, versuchten ausreisewillige DDR-Bürger auf den unterschiedlichsten Wegen in die Bundesrepublik zu gelangen. Wer aber weder eine riskante Flucht über die innerdeutsche Grenze wagen noch auf die Bewilligung eines Ausreisantrags vertrauen wollte, der suchte Zuflucht in einer bundesrepublikanischen Botschaft. Da sich dieser Fluchtweg in den 80er Jahren als "Geheimtipp" herumgesprochen hatte, warteten im Oktober 1984 150 Menschen in der Prager Botschaft auf ihre Ausreise in die BRD. Um die chaotischen Zustände zu beenden, sah sich die Bundesregierung dazu gezwungen, die Botschaft vorübergehend zu schließen.

Von Doris Liebermann |
    Dieter Möller/ Korrespondentenbericht: … es hängen zwei Zettel aus, an den beiden Türen, die in das Botschaftsgelände hineinführen, die aber heute früh hermetisch verschlossen sind. Auf deutsch und tschechisch steht darauf: Der Publikumsverkehr ist eingestellt bis zum Sonntagabend.

    "Hotel Leipziger Hof" wird das barocke Palais Lobkowitz in der Prager Vlašska-Straße 19 im Herbst 1984 im Volksmund ironisch genannt. Seit 1973 befindet sich hier, auf der Prager Kleinseite, der Sitz der bundesdeutschen Botschaft. Im Jahre 1984 wurde das Palais immer wieder Zufluchtsort von Ostdeutschen, die in den Westen ausreisen wollten. Nachdem im Frühjahr die Nichte des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph auf diese Weise ihre Ausreise in den Westen erreicht hatte - samt Familie und Hab und Gut - sprach sich der "Geheimtipp" in der DDR herum. Im Juli 1984 erzwangen 55 DDR-Bürger ihre Ausreise über die Ständige Vertretung in Ost-Berlin. Obwohl die DDR wie auch die Bundesregierung erklärten, dass dieser Weg künftig nicht mehr beschritten werden könne, suchten immer wieder Ausreisewillige Zuflucht in bundesdeutschen Botschaften und harrten zum Teil wochenlang aus:

    DDR-Bürger: Was sollen wir denn nun machen? Zurück geht’s nicht mehr. Wir bleiben jetzt hier. Sie wollen jetzt hier bleiben. Zurück geht’s nicht mehr, da haben wir keine Chance mehr, da werden wir gleich eingesperrt. Zurück: da wissen wir ja, was rauskommt.

    Nachdem sich schon dutzende Menschen in der Prager Botschaft aufhalten, sieht sich die Bundesregierung am 4. Oktober 1984 nach einem erneuten Ansturm von 43 ausreisewilligen DDR-Bürgern gezwungen, die Botschaft in Prag zu schließen. Regierungssprecher Peter Boenisch:

    Boenisch: Wir sind dabei, uns zu bemühen, alles zu tun, um diese Frage in der Art zu lösen, in der sie bisher immer gelöst werden konnte: wir wissen aber, dass es sehr schwierige Verhandlungen sein werden.

    Etwa 150 DDR-Bürger, ein Viertel davon Kinder, befinden sich inzwischen in der Botschaft in Prag. Auch eine hochschwangere Frau ist dabei. Die sanitären Einrichtungen und die Küche sind so vielen Personen nicht gewachsen. Das Botschaftspersonal ist überfordert und erschöpft. Normalerweise wird der Zugang von zwei Polizisten bewacht. Viele DDR-Bürger sind über einen Zaun an der Rückseite des Gebäudes dennoch auf das Gelände gelangt. Dann zieht Bundesgrenzschutz auf, so dass niemand mehr die Botschaft betreten kann. Es spielen sich erschütternde Szenen ab, denn immer mehr Menschen reisen an. ARD-Korrespondent Dieter Möller spricht mit ihnen:

    Korrespondentenbericht: Und warum wollen Sie die DDR verlassen? Aus politischen und menschlichen Gründen. Wir haben einen Ausreiseantrag schon ewig zu laufen. Wird ja ignoriert. Abgelehnt worden. Man wird total ignoriert, egal wo man hingeht. Was erwarten Sie, wenn Sie zurückgehen in die DDR? Auf alle Fälle eine Haftstrafe. Wahrscheinlich, ja. Und die Kinder kommen ins Heim.

    In den folgenden Wochen spitzte sich die Lage in der Botschaft dramatisch zu. Anfang November schickte die Bundesregierung Psychologen und Mediziner nach Prag. Die DDR-Behörden sagten den Ausharrenden Straffreiheit bei Rückkehr zu, garantierten aber keine Ausreise in den Westen. Im November kehrten einige DDR-Bürger zurück - unter großer Angst, verhaftet zu werden. Mitte Dezember traten die Verbleibenden in den Hungerstreik. Auch Staatssekretär Ludwig Rehlinger und der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel konnten sie nicht davon abhalten. Immer wieder erklärten die beiden Unterhändler, dass der einzig mögliche Weg für eine Übersiedlung in den Westen die vorherige Rückkehr in die DDR sei. Auch Außenminister Genscher besuchte kurz vor Weihnachten 1984 die Flüchtlinge in Prag:

    Hans-Dietrich Genscher: Ich habe mit Bürgern aus der DDR gesprochen und wir haben ein wirklich sehr offenes und menschliches Gespräch gehabt, in dem ich noch einmal das zum Ausdruck gebracht habe, was die Bundesregierung, der Bundeskanzler bei verschiedenen Gelegenheiten auch öffentlich gesagt haben. Wie war die Reaktion der DDR-Bürger auf die Mitteilung? Dass es wohl alle abwägen werden und ich denke, dass es richtig ist, dass jeder seine Entscheidung für sich trifft.

    Nach langen Verhandlungen kehrte erst Mitte Januar 1985 die letzte Gruppe in die DDR zurück. Ost-Berlin hatte zugesagt, dass die Ausreiseanträge geprüft würden. In der Regel wurde in solchen Fällen die Ausreise später gestattet.
    Die bundesdeutsche Botschaft in Prag öffnete erst am 21. Februar 1985 wieder - nachdem das Gebäude renoviert worden war.