Freitag, 26. April 2024

Archiv


Die Chancen gegen das Vertraute

Den Menschen immer wieder neu zu lesen, im Bewusstsein, dass er vielleicht völlig anders ist - dies ist das philosophische Credo von Simone Weil, die vor hundert Jahren geboren wurde. Sie befasste sich mit Fragen der religiösen Mystik und schrieb Texte zur politischen Aktion und zur Aktualisierung der Antike.

Von Judith Klein | 15.02.2009
    Unter dem Titel "Die Chancen gegen das Vertraute" erinnert Judith Klein an Simone Weil, die 1943 nach aktiver Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und in der Résistance-Bewegung starb.

    Judith Klein lehrte Romanistik, Sozialwissenschaften und Judaistik an den Universitäten Marburg, Poitiers in Frankreich, Heidelberg und Paris. Seit 1998 ist sie freie Publizistin und Übersetzerin.



    Die Chancen gegen das Vertraute
    Zum Denken der Philosophin Simone Weil
    "Ständig zu der Annahme bereit sein, dass ein anderer etwas anderes ist als das, was man in ihm liest, wenn er zugegen ist (oder wenn man an ihn denkt). Oder vielmehr: in ihm auch (und ständig) lesen, dass er gewiss etwas anderes, vielleicht etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest. (...) Jedes Wesen ist ein stummer Schrei danach, anders gelesen zu werden."

    Diese Sätze der Philosophin und Schriftstellerin Simone Weil sagen uns nicht nur etwas über Bedingungen des Erkennens, sondern enthüllen auch ein ethisches Prinzip, das in der modernen Philosophie und Psychologie noch Bedeutung erlangen sollte: Es gilt, den Anderen nicht mit einem abschließenden Vokabular zu belegen, ihn nicht in der eigenen Sicht einzuschließen, sondern ihn immer wieder anders, immer wieder neu zu "lesen" - und dies im Bewusstsein, dass er vielleicht völlig anders ist und dass es eine einzige dauernde Wahrheit über ihn nicht gibt. War jener stumme Schrei auch der Schrei Simone Weils? Wurde er vernommen?

    Die Pluralität der Stimmen, die sie in sich zuließ, ist eindrucksvoll : revolutionäre und reformistische, engagierte und kontemplative, rationale und mystische, politische und religiöse. Der intellektuelle Reichtum und die Vielfalt der Texte, die sie hinterließ, ist erstaunlich: Gedichte, Essays, wissenschaftliche Forschungen, Polemiken, Tagebücher, Briefe. Die Gegensätzlichkeit der Welten, in denen sie lebte, ist verblüffend: Bürgertum und Proletariat; Wohlstand und Armut; Philosophie und Fabrik; Pazifismus und Spanischer Bürgerkrieg; Kunst und Barbarei.

    Und ab Januar 1943: Aufenthalt in London, dicht am Puls der Zeit, mit Kontakt zur Résistance-Organisation France libre (Freies Frankreich) - und dann doch Rückzug aus der Zeit ...

    Weniger bekannt als die vielfältigen Stationen ihres Lebens sind Simone Weils Gedanken zur "Vielfalt der Lesarten" - Lesarten, nicht Meinungen oder Überzeugungen -, über die sie im Frühjahr 1941 notierte:

    "Welt. Verschiedene gleichzeitige Lesarten, Partitur. (...) seine eigene und die des anderen als gleichwertig ansehen. (...) Ein Mittelpunkt, von dem aus man die verschiedenen möglichen Lesarten sieht - sowie ihre Beziehungen - und die eigene nur als eine von ihnen."

    Sie spitzte die Theorie der Lesarten zu einer Methode zu, die sie "Probe des Gegensatzes" oder auch "Umkehrung" nannte und über die sie schrieb:

    "Untersuchungsmethode: sobald man etwas gedacht hat, nachprüfen, in welchem Sinne das Gegenteil wahr ist."

    Simone Weils Werk kann als Versuch gelesen werden, über die verschiedenen Gegensatzkonstellationen - die unlösbare Verbundenheit von Gegensätzen, die Wechselbeziehung und der Übergang zwischen ihnen sowie die "Zerreißung im Widerspruch" - nachzudenken.

    "Und woran erkennt man die einander widersprechenden Begriffe, die zusammen wahr sind, im Vergleich zu denen, die einander ausschließen?"

    fragt sie und nennt - für den ersten Fall - ein Beispiel, das erstaunen mag:

    "Gott existiert; Gott existiert nicht."

    Oder Begegnung und Trennung, die in einer bestimmten Konstellation als gleich gut erscheinen:

    "Es gibt zwei Formen der Freundschaft, die Begegnung und die Trennung. Sie sind unlösbar verbunden. In beiden liegt das gleiche Gut, das einzige Gut beschlossen: die Freundschaft. Denn wenn zwei Wesen, die keine Freunde sind, einander nahe sind, so findet doch keine Begegnung statt. Und wenn sie voneinander entfernt sind, findet doch keine Trennung statt. Da diese beiden Formen das gleiche Gut einschließen, sind sie beide gleich gut."

    Sie wurde am 3. Februar 1909 als Tochter agnostischer Eltern jüdischer Herkunft in Paris geboren. Sie war ein zartes und zugleich willensstarkes Kind. Wie ihr älterer Bruder André, der später ein berühmter Mathematiker werden sollte, erlebte sie den ersten Weltkrieg bewusst mit, schon damals mit den Frontsoldaten leidend. Die häusliche Atmosphäre war liebevoll, die Eltern - der Vater war Arzt - hatten selbst für verwegene Einfälle der beiden Kinder Verständnis.

    Ab Oktober 1925 studierte Simone Weil in Paris Philosophie, zunächst in der Vorbereitungsklasse für die École Normale Supérieure, vor allem bei Alain. Dieser radikal pazifistisch eingestellte Philosoph, ein Freund von Gleichheit und Gerechtigkeit, der die ausgetretenen akademischen Pfade und die geschlossenen Systeme hinter sich ließ und das Partikulare und Konkrete dem Allgemeinen und Abstrakten vorzog, übte auf Simone Weil einen dauerhaften Einfluss aus.

    1931 erhielt sie nach bestandener Agrégation ihre erste Stelle als Philosophielehrerin: in der Bergarbeiterstadt Le Puy. Der stellvertretende Direktor der École Normale soll gesagt haben:

    "Wir schicken die rote Jungfrau möglichst weit weg, damit wir von ihr nichts mehr hören."

    Simone Weil engagierte sich zwischen 1931 und 1934 an der Seite der "Revolutionären Syndikalisten", die ihren Kampf innerhalb der Fabriken und außerhalb der bürokratisierten Parteiapparate führten. Sie gab Arbeiterbildungskurse, schrieb unablässig für linke Zeitschriften, nahm an Delegationen der Arbeitslosen und an Streiks und Demonstrationen teil, was in der lokalen Presse zu Verleumdungskampagnen führte. Im Jahre 1932 wurde sie nach Auxerre versetzt.

    Hing sie zunächst dem Marxismus und der Revolutionstheorie an, so ging sie seit 1933 mehr und mehr auf Abstand. In ihrer Schrift: "Überlegungen zu den Ursachen von Freiheit und Unterdrückung" unterzog sie den Begriff "Revolution" und alles, was in der Arbeiterbewegung zum Dogma erstarrt war, einer kritischen Analyse.

    Sie gelangte zu dem Schluss, zunächst habe eine "unsichtbare", "stille", graduelle Revolution in den Fabrikhallen und in der Kultur stattzufinden: die Arbeitsbedingungen müssten der methodischen Reflexion der Arbeitenden unterstellt, die soziale Notwendigkeit jeder Arbeit reflektiert und Wissenschaft und Technik verändert werden; so könnte die Arbeitsteilung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit - Inbegriff von Unterdrückung - eingeschränkt und sogar aufgehoben werden.

    Im Jahre 1934 ließ sie sich vom Schuldienst beurlauben, um - trotz schwacher Gesundheit - ihren alten Traum wahr zu machen, in einer Fabrik zu arbeiten. Das Experiment, in dessen Verlauf sie in verschiedenen Elektro- und Metallbetrieben arbeitete, dauerte mit Unterbrechungen von Dezember 1934 bis August ´35.

    Sie hinterließ ein Fabriktagebuch, das, wie Hannah Arendt schrieb,

    "einzigartig in der ungeheuren Literatur über Arbeitsfragen ist, weil es ohne Vorurteile, ohne Sentimentalitäten und ohne Glorifizierungen einfach Erfahrungen beschreibt und interpretiert". "

    Dabei hatte Simone Weil entdeckt, dass Unterdrückung von einem bestimmten Punkt an "nicht Revolte, sondern Unterwerfung hervorruft":

    " "Man ist allein mit seiner Arbeit, man könnte nur gegen sie rebellieren - oder mit Ärger arbeiten, das hieße schlecht arbeiten, folglich hungern. (...) Das Erwachen des Denkens ist schmerzhaft. (...) Ich hätte daran zerbrechen können. Es kam beinahe so weit. (...) In Angst erhob ich mich morgens, mit Furcht ging ich in die Fabrik. Ich arbeitete wie eine Sklavin; die Mittagspause war ein zerreißender Schmerz (...). Eine offenkundig unerbittliche und unbezwingbare Unterdrückung bringt als unmittelbare Reaktion keine Revolte hervor, sondern Unterwerfung."

    Simone Weil - sich immer der unvermeidbaren natürlichen und sozialen Zwänge bewusst - glaubte nicht an die Befreiung von der Arbeit, an die "verrückte Idee, dass Arbeiten eines Tages überflüssig sein könnte", sondern an die Notwendigkeit, die Arbeit von Unterdrückung zu befreien: und zwar dadurch, dass in jede Arbeit die geistigen Elemente - Verstehen und Organisieren, Entwerfen und Gestalten - ebenso wieder eingeführt würden wie die emotionalen der Freude und Freundschaft, der Poesie und der Schönheit. Bemüht, die Alternative "Reform oder Revolution" zu überschreiten, begann sie, mit Fabrikdirektoren und Gewerkschaftlern über die Möglichkeit zu korrespondieren, die "industrielle Sklaverei" zu beseitigen.

    Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat festgestellt,

    "dass der wichtigste Beitrag moderner Intellektueller zum moralischen Fortschritt nicht in philosophischen oder religiösen Traktaten bestehe, sondern in genauen Beschreibungen (...) bestimmter Formen von Schmerz und Demütigung". "

    Simone Weil war eine der ersten modernen Intellektuellen, die solche genauen Beschreibungen aufgrund von Erfahrung, Forschung und Vorstellungskraft geliefert haben.

    Sie schrieb unzählige Texte über den Kolonialismus, von denen der persönlichste der posthum veröffentlichte "Brief an die Indochinesen" ist:

    " "Ich sah vor mir, wie man die Kulis anwarb, wie man sie schlug, wie weiße Vorarbeiter vietnamesische Arbeiter verstümmelten oder mit Fußtritten töteten - in Gegenwart ihrer Kameraden, die zu verängstigt waren, um zu reagieren. (...) Tränen der Scham erstickten mich, ich konnte nicht weiteressen."

    In diesen wenigen Sätzen kommt eine Haltung zum Ausdruck, die Simone Weil eigen war: Mitgefühl und Solidarität mit konkreten, leidenden Anderen, mochten sie noch so fern sein.
    Als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, fuhr sie kurzentschlossen nach Barcelona, um sich einer internationalen Gruppe der anarchistischen Kolonne Durruti anzuschließen. Aufgrund einer Verbrühung mit siedendem Öl - vielleicht auch aus Abscheu vor den auf beiden Seiten begangenen Verbrechen - kehrte sie bald nach Hause zurück, begleitet von ihren Eltern, die ihr zu Hilfe geeilt waren.

    Aufgrund der schlecht heilenden Brandwunden an Bein und Fuß wurde sie vom Schuldienst beurlaubt. Von Januar 1938 bis Juli ´40 folgten weitere Beurlaubungen mit viel freier Zeit zum Lesen, Forschen, Reisen und Schreiben.

    In zahlreichen Aufsätzen nahm sie zur Frage des Krieges Stellung, die sie in diesen Jahren unablässig beschäftigte. Sie verabscheute Krieg in einem so hohen Maße, dass sie bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei dem Kampf für die Erhaltung des Friedens, selbst um den Preis der Unterwerfung, absoluten Vorrang gab - eine Haltung, die sie später bitter bereuen sollte.

    Am Vorabend des Einmarschs der deutschen Truppen in Paris verließ Simone Weil - gegen ihren ursprünglichen Vorsatz - mit ihren Eltern die Stadt. Sie ließen alles zurück: Arbeit, Wohnung, Freunde, Bücher... Über einige Umwege gelangten sie im September 1940 nach Marseille.

    Dort setzte Simone ihre Studien der griechischen und der indischen Philosophie fort, lernte Sanskrit, studierte den Taoismus und die gnostischen Strömungen der Spätantike und interessierte sich für die Gleichklänge zwischen europäischem und orientalischem Denken.

    Sie knüpfte Kontakte zu verschiedenen Résistance-Gruppen und verbreitete illegale Schriften. Sie kümmerte sich um die bei Kriegsbeginn internierten Ausländer und unterstützte vietnamesische Arbeiter, die bei Marseille in Lagern vegetierten. Im Herbst 1941 versuchte sie sich als Landarbeiterin und als Traubenpflückerin bei der Weinernte.

    Sie spielte mit dem Gedanken, zusammen mit ihren Eltern - zumindest für die Zeit des Krieges - Gemüse anzubauen. An einen Bekannten schrieb sie:

    "Der Gedanke, meine körperliche und seelische Erschöpfung unter einem Volk von Hungernden in Kartoffeln oder dergleichen zu verwandeln, ist - von etwas anderem abgesehen - das Einzige, was mich im Augenblick anspornen kann."

    Jenes "andere" könnte ihr beharrlich verfolgter Plan gewesen sein, eine Truppe von Frontkrankenschwestern zu bilden und selbst Mitglied dieser Truppe zu werden. Es könnte aber auch das Christentum gewesen sein, dem sie sich in jenen schweren Tagen annäherte. An den Dominikanerpater Jean-Marie Perrin schrieb sie damals einen Brief, den sie "geistige Autobiografie" nannte:

    "Seit meiner Jugend war ich der Ansicht, dass das Gottesproblem ein Problem ist, dessen Voraussetzungen uns hienieden fehlen, und dass die einzige sichere Methode, eine falsche Lösung zu vermeiden (...), darin besteht, es nicht zu stellen. Also stellte ich es nicht. (...) Es schien mir unnütz, dieses Problem zu lösen, denn ich dachte, da wir nun einmal in dieser Welt sind, sei es unsere Aufgabe, die beste Haltung gegenüber den Problemen dieser Welt einzunehmen, und diese Haltung hänge nicht von der Lösung des Gottesproblems ab." ) "

    Ein Wandel sei jedoch eingetreten, als ihr drei "wirkliche Berührungen" mit Gott zuteil wurden: 1935, ´37 und ´38. Das erste mystische Erlebnis überwältigte sie - sie, die nach ihrer Fabrikerfahrung das Gefühl hatte, der "Stempel der Sklaverei" sei ihr für immer aufgeprägt worden - in einem armen nordportugiesischen Fischerdorf, in dem bei Vollmond das Patronatsfest gefeiert wurde:

    " "Es war am Ufer des Meeres. Die Frauen der Fischer zogen, mit Kerzen in den Händen, in einer Prozession um die Boote und sangen gewiss sehr altüberlieferte Gesänge, von einer herzzerreißenden Traurigkeit. (...) Dort hatte ich plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist und dass die Sklaven nicht anders können, als ihm anhängen, und ich mit ihnen."

    Dem Christentum anhängen, das hieß nicht unbedingt, der Kirche anzugehören. Simone Weil blieb außerhalb der Kirche. Im Jahre 1942 schrieb sie an eine Bekannte:

    "Während ich die Arbeit über die Pythagoreer beendete, fühlte ich mit einer - soweit einem Menschenwesen diese Worte verstattet sind - endgültigen Gewissheit, dass meine Berufung mir auferlegt, außerhalb der Kirche zu bleiben und sogar ohne eine, sei es auch nur implizite, Bindung an sie oder das christliche Dogma; (...). Der Grad intellektueller Redlichkeit, der mir um meiner besonderen Berufung willen zur Pflicht gemacht ist, fordert, dass mein Denken ausnahmslos alle Ideen gleichmütig gelten lasse, mit einbegriffen zum Beispiel den Materialismus und Atheismus; dass es allen gegenüber gleicherweise aufnahmebereit und gleicherweise zurückhaltend sei."

    Und doch gab es Phasen, in denen Simone Weil Antworten auf die Frage nach Gott andeutete - ungewöhnliche Antworten, die der Beschäftigung mit religiösen Strömungen der Spätantike und des Mittelalters und wohl auch der bewährten "Probe des Gegensatzes" entsprangen. Ähnlich den Gnostikern rebellierte sie gegen die Vorstellung eines über die Welt herrschenden oder wachenden Schöpfergottes; es war ein Protest gegen das Böse und das Unglück in der Welt, das mit Gott in eine Gedankenverbindung zu bringen ihr widerstrebte. Jedoch ging sie - anders als die Gnostiker - nicht von der Existenz eines zweiten weltlosen Gottes aus, sondern von der Abwesenheit des Schöpfergottes in der Schöpfung:

    "Von seiten Gottes ist die Schöpfung nicht ein Akt der Selbstausdehnung, sondern des Zurückweichens, des Verzichtes. Gott und alle Geschöpfe, das ist weniger als Gott allein. Gott hat in diese Minderung eingewilligt. Er hat einen Teil des Seins seiner entleert. (...) Gott hat anderen Dingen, die nicht er sind und die unendlich geringeren Wertes als er sind, erlaubt, dass sie ein Dasein hätten. Er hat durch den Schöpfungsakt sich selbst verleugnet."

    Der Gedanke des Zurückweichens Gottes könnte auch von der jüdischen Kabbala inspiriert sein, kennt diese doch den Zimzum, die Selbstbeschränkung Gottes im Urakt der Schöpfung. Wie dem auch sei, Simone Weils Gedanken zu religiösen Dingen sind keine kategorischen Antworten auf letzte Fragen, schrieb sie doch:

    "Im Bereich der heiligen Dinge behaupte ich nichts kategorisch. Auch diejenigen meiner Ansichten, die mit den Lehren der Kirche übereinstimmen, sind in meinem Geist mit einem Fragezeichen versehen."

    In jener Zeit wuchsen ihre Zweifel an den Ansprüchen, Wünschen, Zielen des "Ichs". In ihren Tagebüchern finden sich folgende Notizen:

    "Nur Aufmerksamkeit ist von mir gefordert, eine Aufmerksamkeit, die so vollständig ist, dass das ‚Ich' verschwindet. Sich der Welt entleeren. Das Wesen eines Sklaven überziehen. Sich auf den Punkt reduzieren, den man in Raum und Zeit einnimmt. Auf nichts."

    Irgendwann - vielleicht zwischen November 1941 und Mai 1942 - fanden die Gedanken der Auslöschung des "Ichs" und des Rückzugs Gottes zusammen: Wenn Gott, um die Welt zu erschaffen, abgedankt hat, so gibt es nur einen Weg, um ihm seinen Platz zurückzugeben: der eigene Rückzug, die Ent-schaffung, die "décréation" - ein Weg, der dem von der Kabbala gewiesenen entgegengesetzt ist, denn diese verlangt von den Menschen, die Schöpfung zu vollenden.

    "Verzicht. Nachahmung des Verzichtes Gottes in der Schöpfung. Gott verzichtet - in einem gewissen Sinne - darauf, alles zu sein. Darin liegt der Ursprung des Bösen. Wir müssen darauf verzichten, etwas zu sein. Das ist unser einziges Gut. (...).(...) Je mehr ich verschwinde, desto stärker ist Gott in dieser Welt gegenwärtig. (...) Ich muss mich zurückziehen, damit Gott mit den Menschen, die der Zufall mir über den Weg führt und die er liebt, in Berührung treten kann. Meine Gegenwart ist aufdringlich, so als ob ich zwischen zwei Liebenden oder zwei Freunden stünde."

    "Und es ist mein innigster Wunsch, nicht nur jeden Willen, sondern jedes Eigensein zu verlieren."

    Nichts werden - ein moralischer, ein symbolischer Tod scheint gemeint. Doch in Simone Weils Gedankenexperimenten rückt manchmal eine andere Version in den Vordergrund: die Auslöschung des physischen Ichs. Das Ich aufgeben, heißt dann: Sterben ...

    Am Ursprung der spätantiken Gnosis kann eine Katastrophe - das Fehlschlagen apokalyptischer Hoffnungen - gestanden haben. Auch bei Simone Weil mag sich die existentielle Situation ausgewirkt haben: Keine einzige ihrer Hoffnungen - die Revolution, die sozialen Bewegungen zur Zeit der Volksfront, die spanische Republik, das pazifistische Engagement - erfüllte sich. Schon 1936 hatte sie von ihrem "wachsenden Schmerz" darüber gesprochen, dass die Gesellschaftsstruktur unverändert geblieben war und sich in Frankreich antidemokratische und totalitäre Kräfte formierten.

    In der Vorstellung von der "Abdankung Gottes" und der Ent-schaffung der Geschöpfe, fand sie vielleicht eine Antwort, mit der sich nicht nur das Böse in der Welt erklären und aufheben, sondern zugleich ein Ausweg finden ließ, eine "Endform als letzte Konsequenz eines bestimmten Anfangens und Weiterlebens", wie Hans Jonas über die Gnosis schrieb.

    Der Schriftsteller Wladimir Rabi gibt eine weitere Deutung der Katastrophe, die über Simone Weil hereingebrochen war:

    "Mit dem Erlass des Judenstatuts im Oktober 1940", durch welches das Vichy-Regime die Juden aus dem kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes ausschloss und zu Bürgern zweiter Klasse machte, "spitzte sich bei ihr alles zu." Ein Dokument scheint dies zu belegen. Kurz vor dem Ende der Weinernte im Herbst 1941 schrieb sie, die durch das Judenstatut ihre Beamtenstelle im Unterrichtswesen verloren hatte, an Xavier Vallat, Vichys antisemitischen "Generalkommissar für Judenfragen", einen ironischen, ja sarkastischen Dankesbrief, in dem sie - so scheint es - die Methode der "Probe des Gegenteils" anwandte:

    "Monsieur, ich muss Sie, wie ich annehme, gewissermaßen als meinen Chef betrachten (...). Ich halte das Judenstatut - von einem allgemeinen Blickwinkel aus betrachtet - für ungerecht und absurd ; wie ist es möglich zu glauben, dass ein Mathematiklehrer, der Kindern Geometrie beibringen soll, diesen allein aus dem Grund schaden kann, dass drei seiner Großeltern zur Synagoge gingen?

    Doch in meinem persönlichen Fall lege ich Wert darauf, Ihnen meinen aufrichtigen Dank dafür auszudrücken, dass mich die Regierung aus der sozialen Kategorie der Intellektuellen ausgeschlossen und mir die Erde und damit die ganze Natur gegeben hat. (...) Die Regierung, die Sie mir gegenüber vertreten, hat mir all das gegeben. Sie - und die anderen Führer - (...) haben mir das gegeben, was Sie selbst nicht besitzen. Durch Sie habe ich auch das unendlich wertvolle Geschenk der Armut erhalten, die Sie ebenfalls nicht besitzen."

    Der Brief zeigt, dass Simone Weil weit davon entfernt war, sich vom Judenstatut Vichys "persönlich nicht betroffen" zu fühlen, wie es in einer deutschsprachigen Einleitung heißt. Wenn sie im Übrigen immer wieder versicherte, nicht zu wissen, wie ein Jude oder wie das Judentum zu definieren sei, ist das keineswegs ein Zeichen von Selbsthass oder Antisemitismus, wie manche Biografen behauptet haben. Und wenn sie die verfolgten Juden selten erwähnte, vom Gedanken an das Leiden ihrer Landsleute aber geradezu besessen war, so desolidarisierte sie sich keineswegs von jenen.

    Etwas anderes war am Werk: Vorbehalt gegen das Definieren, das Zurechnen und das Zugehören. Die Sätze, die sie an den Pater Perrin über ihr Verhältnis zur Kirche schrieb, mögen auch ihr Verhältnis zum Judentum kennzeichnen:

    "Ich will nicht in einem Milieu wohnen, wo man ‚wir' sagt, und ein Teil dieses ‚wir' sein; ich will in keinem menschlichen Milieu, gleichviel welchem, zuhause sein. Wenn ich sage, ich will nicht, so drücke ich mich ungeschickt aus (...). Ich fühle, dass es für mich notwendig ist, dass es mir vorgeschrieben ist, einsam zu bleiben, eine Fremde und Verbannte hinsichtlich jedes beliebigen menschlichen Milieus ohne Ausnahme."

    Simone Weils Bruder André war bereits Anfang 1941 nach Amerika emigriert. Die Eltern Weil, die weitere Verfolgungen auf sich zukommen sahen, erwogen ebenfalls die Emigration, wollten das Land aber nicht ohne ihre Tochter verlassen. Simone widerstrebte es, sich selbst in Sicherheit zu bringen, während andere in Todesgefahr schwebten.

    Im Frühsommer 1942 begleitete sie ihre Eltern jedoch nach Amerika - in der Hoffnung, von dort nach Europa zurückkehren und sich dem Kampf gegen die Naziherrschaft anschließen zu können.

    In Amerika angekommen, war sie unermüdlich damit beschäftigt, Politikern und Persönlichkeiten ihre Pläne - Bildung einer Truppe von Frontkrankenschwestern und Übernahme einer geheimen Mission im besetzten Frankreich - nahe zu bringen. An ihren früheren Studienkollegen Maurice Schumann, Sprecher der Résistance-Organisation France libre, schrieb sie:

    "Das Unglück, das sich über den Globus ausbreitet, nimmt mein Denken gefangen und bedrückt mich in einem solchen Maß, dass alle meine Fähigkeiten zunichte werden; ich werde sie erst zurückerlangen und erst von dieser Obsession befreit sein, wenn ich einen Teil der Gefahren und Leiden auf mich nehmen kann."

    Es gibt Menschen, deren Sensibilität für das Leiden anderer so unendlich groß ist, dass sie sich lieber in Todesgefahr begeben, um jene anderen zu retten oder ihnen beizustehen, als tatenlos zuzuschauen. Menschen auch, die für sich das Glück verweigern, so lange andere im Unglück leben. Simone Weil war - wie auch Antoine de Saint-Exupéry - einer von diesen Menschen.

    Sie erhielt schließlich die Möglichkeit, Amerika zu verlassen und kam Ende des Jahres 1942 in Liverpool an. Anfang Januar 1943 zog sie nach London. Es gelang ihr jedoch nicht, die Verantwortlichen von France libre für ihre Vorhaben zu gewinnen.

    Sie bekam lediglich eine Stelle als Redakteurin mit dem Auftrag, in London eintreffende Vorschläge französischer Widerstandsorganisationen für die Nachkriegsordnung zu sichten, Gutachten zu verfassen und eigene Vorstellungen zu entwickeln.

    So entstand das umfangreiche Manuskript, das posthum unter dem Titel L'enracinement (Die Einwurzelung) veröffentlicht werden sollte. Es endet mit Worten, die umso subversiver erscheinen, als sie der körperlichen Arbeit schlechthin eine zentrale geistige Bedeutung zusprechen - vielleicht Voraussetzung dafür, dass jene beschworene "stille" Revolution in Gang kommen kann:

    "alle (...) menschlichen Tätigkeiten - die Menschenführung, die Ausarbeitung technischer Pläne, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und so fort - [sind] der körperlichen Arbeit an geistiger Bedeutung sämtlich unterlegen. Es ist ein leichtes, die Stelle zu bestimmen, die die körperliche Arbeit in einem wohlgeordneten Sozialleben einnehmen soll. Sie soll dessen geistige Mitte sein."

    Während Simone Weil über die gesellschaftliche Neuordnung nachdachte, war ihre Enttäuschung darüber grenzenlos, dass es ihr versagt blieb, aktiv am Kampf zur Befreiung ihrer Landsleute teilzunehmen und den Leidenden Hilfe zu bringen. Wider Willen den Gefahren des Krieges und der Verfolgung entkommen, setzte sie sich nun willentlich anderen Gefahren aus: Sie arbeitete nächtelang und hungerte... Von Woche zu Woche wuchsen ihre Empörung und ihre Verzweiflung; im Juli 1943 sagte sie sich von France libre und der gaullistischen Politik los, der sie bloß "provisorische Legitimität" zusprach und deren Machtstreben sie ablehnte. Sie reichte ihren Rücktritt ein.

    Sie starb am 24. August 1943. Auf dem amtlichen Totenschein heißt es:

    "Herzversagen aufgrund von Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch Unterernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, indem sie sich in einer Phase geistiger Verwirrtheit weigerte zu essen."

    "Muss denn der Überlebenstrieb immer die Oberhand behalten?", fragt Michele Murray in einem biografischen Essay über Simone Weil.

    Andere ziehen Parallelen zur "Endura", dem selbstgewählten Hungertod der von Simone Weil bewunderten Katharer, die sich sterben ließen, um die Befreiung der Seele, Gefangene der Materie, zu beschleunigen.

    Wieder andere sprechen von Heiligkeit oder von Hysterie. Vielleicht ermöglicht Kafkas Erzählung "Der Hungerkünstler" eine Art "Probe des Gegensatzes": Am Ende gesteht der Hungerkünstler, er habe gefastet, weil er "nicht die Speise finden konnte, die [ihm] schmeckt".