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Die chronische Glücklosigkeit der besseren Gesellschaft

Heidemarie Schumachers Debüt ist ein chabrolesker Gesellschaftsroman über die typische Südstadt-Bourgousie. Der Erstling der Bonner Medienwissenschaftlerin und Autorin überzeugt neben authentischen Lokalkolorit durch seine entlarvenden Milieuschilderungen und die überzeugend dargestellten psychologischen Figurenskizzen.

Ein Beitrag von Michaela Schmitz | 04.07.2011
    Im Villenviertel der gediegenen Akademiker- und Beamtenstadt am Rhein ist die dunkle Fassade von Katharina Rautenbergs verfallenem Altbau ein Schandfleck. Genauso wie die offensichtlich verwirrte Bewohnerin selbst. Nachts liest die alte Dame einzelne Blätter vom Bürgersteig, sammelt Unrat in ihrem ungepflegten, feuchten Haus oder entleert den Müll auf fremden parkenden Autos. Nur sie selbst weiß, warum. Denn sie lebt in ihrer eigenen dunklen Welt, eingeschüchtert von seltsamen Befehlen ihrer längst verstorbenen Mutter und verängstigt von der ihr übelwollenden Welt vor ihrer Haustür. Nur die Bewohnerin des hellen Hauses gegenüber scheint ihr freundlich gesonnen.

    Tatsächlich sorgt sich Kristin um die heruntergekommene einsame Nachbarin. Die Fotografin lebt in einer gut funktionierenden Partnerschaft und hat einen kleinen Sohn. Als Zentrum ihrer Familie und eines intakten Freundeskreises ist ihr Haus Treffpunkt einer kleinen erlesenen Gruppe von Akademikern und Künstlern. Doch auch hier hinter dem "diskreten Charme der Bourgeoisie" lauert dunkles unerfülltes Begehren - das weiß man nicht erst seit den Filmen von Luis Buňuel oder Claude Chabrol.
    Da ist zum Beispiel Kristines Freundin Gesine, eine klassische Südstadt-Existenz: selbstständige Übersetzerin, kulturinteressierter Single, vielleicht ein bisschen überspannt. In Wirklichkeit ist sie so einsam, dass sie sich beim morgendlichen Warten vor der Bahnschranke blindlings in einen neben ihr stehenden Motorrollerfahrer verliebt. In ihrer Fantasie beginnt sie mit ihm eine Affäre, von der ihr Geliebter jedoch nie etwas erfährt. Bis sie nach lust- und qualvollen Wochen beschließt, ihren eingebildeten Liebhaber für eine andere fiktive Beziehung zu verlassen. Mitten auf der Straße erklärt sie dem völlig konsternierten Mann das Ende ihrer Partnerschaft, von der sie allein Kristine etwas verraten hat.

    Um Kristine dreht sich wie um eine geheime Achse ein Reigen ähnlich verrückter, meist unerfüllter Begehren. Während Kristine selbst immer noch an ihrem Ex-Freund Karl hängt, verliebt sich der frustrierte Ehemann und Familienvater in seine Fußreflexzonentherapeutin Klara. Als Expertin für das "Auslösen von Gefühlen" ist sie das krasse Gegenteil seiner Frau Silke, die ihn wiederum mit dem Kölner Künstler Knud betrügt. Erst unter Klaras sanft massierenden Händen in ihrer von Kräuterduft durchzogenen und vom Kamin erwärmten Altbauwohnung merkt Karl, was ihm in seinem in kühlem Blau und Weiß gehaltenen High-Tech-Bungalow bisher gefehlt hat.

    Auch Kristine selbst wird von ihrem Ehemann Lars betrogen. Ausgerechnet mit ihrer älteren Schwester Caia. Deren Mann Wolf fühlt sich hingegen zu ihrem jüngeren Bruder Christian hingezogen. Der depressive Student der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte leidet unter der Trennung seiner zurzeit in New York studierenden Freundin Li. Trost findet er in seinen Fantasien mit Rita, der Steuerfrau der Rheinfähre und in den Freizeit-Unternehmungen mit seinem Schwager Wolf. Der Dozent für Neuere Geschichte vertraut Christian sein Romanprojekt über Kurfürst Clemens an. In der Überzeugung, Geschichte sei nichts anderes als Erzählung, nimmt seine schriftstellerische Tätigkeit neben der homoerotischen Leidenschaft für Christian immer mehr Raum ein. In seiner literarischen Deutung der symbiotischen Beziehung von Clemens zu seinem Freund Johann Baptist Freiherr von Roll spiegelt sich seine eigene unausgelebte Passion.

    Nach einer durch zahllose amouröse Verwicklungen merklich getrübten Weihnachts- und Silvesterzeit beginnt die Situation an allen Fronten gleichzeitig zu eskalieren. Erst entgeht Caia knapp einem Anschlag der verrückten Katharina Rautenberg. Als die erfolgshungrige Architektin bei ihr eindringen will, weil sie in dem renovierungsbedürftigen Altbau einen Rohdiamanten wittert, lässt Katharina den baufälligen Balkon über ihr zusammenstürzen. Als Caia dann vom Selbstmordversuch ihres Bruders Christian erfährt, bricht sie vollends zusammen. Beide müssen in psychiatrische Behandlung. Auch Kristins Familienglück scheint irreparabel. Selbst wenn ihr nach Köln gezogener Mann Lars es sich zurückwünscht. Karl dagegen hat sich für ein Leben mit Klara entschieden. Er zieht mit der Fußreflexzonentherapeutin für einige Zeit nach Kanada. Allein Katharina Rautenbergs verrückte Welt bleibt von alledem unberührt. Sie lebt weiter einsam in ihrer dunklen Wohnhöhle und schaut bei ihren nächtlichen Ausflügen in die hell erleuchteten Wohnungen der sogenannten heilen Welt.

    Heidemarie Schumachers Debüt ist ein chabrolesker Gesellschaftsroman über die typische Südstadt-Bourgousie. Der Erstling der Bonner Medienwissenschaftlerin und Autorin überzeugt neben dem authentischen Lokalkolorit durch seine entlarvenden Milieuschilderungen und die im Perspektivwechsel überzeugend dargestellten psychologischen Figurenskizzen. Die chronische Glücklosigkeit der besseren Gesellschaft spiegelt sich in der Parallelerzählung von der dekadenten Welt des kurfürstlichen Hofes. Hinter hellen, prunkvollen Fassaden wohnt eben nicht automatisch auch das Glück.

    Heidemarie Schumacher: Ein helles und ein dunkles Haus. Berlin University Press 2011. 186 Seiten, 19,90 EUR.