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Die DDR im Gedächtnis der Gegenwart

Um die historische Dynamik des Mauerfalls in all ihren Facetten geht es dem Herausgeberteam um den Historiker Eckart Conze. Ganz anders der Zugang des Journalisten Stefan Aust. In seinem Buch präsentiert er Reportagen aus der Zeit nach dem Mauerfall.

Von Harald Kleinschmidt | 02.11.2009
    Das Herausgeberteam um Eckart Conze, Katharina Gajdukowa und Sigrid Koch-Baumgarten kommt spät mit seinem Buch über die Ereignisse des Jahres 1989. Vor einigen Monaten bereits hat Wolfgang Schuller einen Titel über die deutsche Revolution vorgelegt. Darin hat er die Ereignisse des Umbruchs 1989 weitgehend chronologisch aneinandergereiht. Dem jetzt veröffentlichten Sammelband ist schon in der Einleitung das Bemühen anzumerken, sich von Schullers Studie abzugrenzen und gleichzeitig strengeren wissenschaftlichen Kriterien gerecht zu werden.

    Die Beiträge sollen Perspektiven der Wissenschaft, der Politik und von Zeitzeugen zusammenfügen, ohne dass diese Perspektiven disparat nebeneinanderstehen.

    Es folgt ein längerer Diskurs über den Revolutionsbegriff, der zu folgender Schlussfolgerung kommt:

    In einem entscheidenden Moment in der Geschichte des kommunistischen Regimes spaltete sich die Führungselite und schreckte vor einer Eskalation der Gewalt zurück. Die Macht ging an die Straße über, wo sich Demonstranten in anhaltendem Protest versammelten. Wie in den seltenen revolutionären Augenblicken der deutschen Geschichte – März 1848 oder November 1919 – ging die Macht von der zur Masse gewordenen Öffentlichkeit aus, nicht mehr von der noch amtierenden Regierung.

    In den folgenden Kapitel des Buches befassen sich ein gutes Dutzend Autoren mit verschiedenen Aspekten dieser Revolution, von denen einige bisher noch keine so gründliche Untersuchung erfahren haben, dass sie das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit erreicht hätten. Etwa das Engagement von Amnesty International gegen Menschenrechtsverletzungen in den DDR–Gefängnissen oder die Bedeutung der Runden Tische für den Umbruch.

    Untersucht wird der Freikauf politischer Häftlinge als modernen Menschenhandel ebenso wie die Bedeutung der osteuropäischen Befreiungsbewegungen als Voraussetzung für die friedliche Revolution in der DDR. Joachim Gauck schildert die Entwicklung von der Stasi-Auflösung bis zum Stasi-Unterlagengesetz. Ein ausführliches Kapitel widmet sich der Analyse des Umgangs der bundesdeutschen Strafjustiz mit dem SED-Regime, als die von den Revolutionären erhoffte Gerechtigkeit durch den Rechtsstaat ersetzt wurde. Den Blick über den deutschen Tellerrand wagt ein Abschnitt mit der Überschrift: "Die Opfer sind unter uns – von Südafrika lernen." Aus dem Sammelband ragen die Ausführungen des in Berlin und Potsdam lehrenden Professors Martin Sabrow über "Die DDR im Gedächtnis der Gegenwart" besonders heraus. Darin wird eine bemerkenswerte Analyse der Ursachen für die noch immer verbreitete DDR-Nostalgie geliefert.

    Vieles, das die DDR und das Leben in ihr prägte, bleibt in der öffentlich tradierten Erinnerung an die DDR ausgespart, weil es gleichgültig geworden ist oder aus Mangel an Symbolen und Begriffen nicht sagbar erscheint. Viele Indizien deuten darauf hin, dass die Zäsur von 1989 im persönliche Leben verbreitet auch eine selbst verordnete Zensur geworden ist und am Arbeitsplatz wie in den Familien das Leben vor 1989 mehr beschwiegen als besprochen wird. Die staunend machenden Besucherzahlen des DDR-Museums in Berlin-Mitte und seine oft euphorischen Besuchereinträge lassen allerdings vermuten, dass sich hinter dem resignierten oder ängstlichen Schweigen ein unterdrücktes Mitteilungs– und Vergewisserungsbedürfnis von erheblicher Stärke aufstaut, das wegen seiner öffentlichen Sprachlosigkeit in die billigen Angebote der medialen Ostalgie flieht.

    Der Vorwurf der "medialen Ostalgie" trifft auf den Autor des zweiten zur Debatte stehenden Buches sicher nicht zu. Zunächst macht der Name des Autors neugierig: Stefan Aust, Ziehkind des legendären "Spiegel" – Herausgebers Rudolf Augstein, langjähriger Chefredakteur des "Spiegel", Autor des Buches "Der Baader-Meinhof-Komplex", dessen Verfilmung im Vorjahr immerhin Oscar-nominiert wurde. Da ist man schon gespannt auf den Titel den Aust nicht ganz ohne Hintersinn gewählt hat: "Deutschland, Deutschland – Expeditionen durch die Wendezeit".

    "Er steht für beide deutsche Staaten und er steht natürlich auch mit einem kleinen ironischen Seitenblick für das, was manche Leute nach der Wiedervereinigung erwartet haben, dass es wieder gesungen wird: Nämlich die erste Strophe der Nationalhymne."

    Das Buch besteht bis auf das Vorwort aus der Wiedergabe von Reportagen, die ein ambitioniertes Team unter der Schirmherrschaft des Filmemachers Alexander Kluge und mit dem Geld Rudolf Augsteins zusammentrug und die jeden Sonntagabend auf dem noch jungen Privatsender RTL von Stefan Aust im mehrfachen Sinne hemdsärmelig moderiert und präsentiert wurden. Den Begriff der Revolution hat Aust im Titel bewusst vermieden.

    "Ich hab ihn gerade deswegen vermieden, weil fast überall mit diesem Begriff hantiert wird bei den Geschichten über den Mauerfall und über das, was da vor allen Dingen vorher passiert ist. Aber ich habe ja mein Augenmerk gelegt im Grunde auf die Zeit danach. Was passiert eigentlich, wenn ein solcher Staat sich in Auflösung befindet."

    Aust nennt die Jahre 1989/90 die für ihn und die meisten seiner damaligen Kollegen "journalistisch interessanteste Zeit überhaupt". Dem ist sicherlich nichts hinzuzufügen, außer, dass Blickwinkel und Auswahl immer subjektiv bleiben, gerade unter der Prämisse der vom "Spiegel" wie auch von "Spiegel-TV" damals immer noch angestrebten Einzigartigkeit.

    "Wenn jetzt die Ossis von damals oder die Ossis von heute sagen, wir haben damals und damit ich auch heute das Bild der DDR oder der zerfallenden DDR nicht so gezeigt, wie sie es selbst erlebt haben, das nehme ich ganz bewusst in Kauf. Ich habe einfach gesagt, das war eine subjektive Entscheidung, wo wir uns hinbewegen, wo wir unsere Kamerateams hinschicken, wie wir das beobachten. Und ich will auch diesen Blickwinkel eigentlich ganz bewusst beibehalten. Und ich glaube, dass der Rückblick von vielen heute auf die DDR außerordentlich beschönigend ist und nicht mehr sozusagen diese Art von kaltem Sezierblick hat, den wir damals auf die DDR gerichtet haben."

    Dass es Stefan Aust nicht an Selbstbewusstsein mangelt, wird nicht nur in dieser Aussage deutlich. Von der Besonderheit seiner Erkenntnisse und der seiner Mitarbeiter spricht er mehrfach. Schwerer wiegt, dass Aust an der selektiven Auswahl von damals festhält – und so befassen sich viele Beiträge mit den Machenschaften der Stasi, mit IMs und Antiquitäten–Verkäufen in den Westen. Dies aufzudecken, war vor 20 Jahren notwenig, spannend und journalistisch sauber gemacht und recherchiert. Aber ist das auch heute noch relevant? Die Frage stellt sich umso mehr, als Aust gewissermaßen als Überleitung in die Zeit nach der Wiedervereinigung ein Porträt der Eiskunstläuferin Katharina Witt und für die Gegenwart dieses Jahres eine Analyse des Weges der SED über die PDS bis zur Linken Lafontaines und Gysis zur Kenntnis gibt.

    Beides sind wichtige Elemente der letzten zwanzig Jahre, aber keineswegs die entscheidenden. Die gründliche Aufarbeitung der Zeit nach dem Mauerfall, der Runden Tische, der Volkskammerwahl, der Treuhandaktivitäten und der westdeutschen Aufbauhelfer Anfang der 90er-Jahre steht trotz der Unzahl bisheriger Veröffentlichungen noch aus. Stefan Aust meint, vielleicht veröffentlicht er über diese Themen ein zweites Buch. Er sollte damit nicht der einzige bleiben.

    Eckart Conze, Katharina Gajdukowa und Sigrid Koch-Baumgarten sind die Herausgeber des Buches "Die demokratische Revolution 1989 in der DDR". Erschienen im Böhlau Verlag. 251 Seiten kosten 24 Euro 90, ISBN: 978-3-412-20462-4. Und Stefan Aust "Deutschland, Deutschland. Expedition durch die Wendezeit", bei Hoffmann und Campe erschienen, 288 Seiten für 20 Euro, ISBN: 978-3-455-50132-2. Alles gelesen und vorgestellt von Harald Kleinschmidt.