Die eindrucksvolle Doppelkirche entstand um 1250. Mit Unter- und Oberkirche verbindet sie Romanik und Gotik in einem Gebäude. Sie hatte 700 Jahre weitgehend unbeschadet überstanden, als das Erdbeben sie traf. Das Wissen um die Zerstörung legt sich wie eine zusätzliche Linse übers Auge und schärft den Blick für die Bilder. Abgebildet sind im wesentlichen die Fresken der Innenfassade und der Gewölbe. Eines davon wurde um 1280 von Cenni di Pepo, genannt Cimabue, ausgemalt, ein anderes fast ein Jahrzehnt später von Giotto di Bondone. Sie folgen einem gemeinsamen ikonographischen Programm: Von den Kirchenvätern über die Fürsprecher der Menschen vor Gott bis hin zu den Evangelisten als Zeugen der Lehren Christi.
Giotto di Bondone war möglicherweise ein Schüler von Cimabue; er setzte dessen Arbeit an den Fresken in der Oberkirche von San Francesco fort. Cimabue gilt als die zentrale Künstlerpersönlichkeit des ausgehenden 13. Jahrhunderts in Italien. Obwohl seine Malerei sich noch an der byzantinischen Kunst orientiert, zeugen Plastizität und Ausdruck der Figuren bereits von einem neuen Interesse am Menschen. Die Fresken in Assisi - im Querhaus und im Vierungsgewölbe - gelten als sein Hauptwerk. Das Gewölbe zeigt die vier Evangelisten. Sie sitzen an einem Pult und schreiben ihre Botschaft nieder. Zu ihren Füßen kauern ihre jeweiligen Symbolfiguren: Löwe, Stier, Engel und Adler. Cimabue stellte ihnen ihren Wirkungsort - in Form einer Stadt - gegenüber. Dabei entstand die erste annähernd realistische Darstellung der sichtbaren Umgebung seit der Antike: "Italia" zeigt bekannte römische Bauten wie das Castel Sant’ Angelo, das Pantheon und San Giovanni in Laterano.
Mit Giotto beginnt die Moderne. Seine Figuren sind keine Ikonen oder Ideale fern der Realität des Betrachters. In einem individuellen Stil schuf er Menschen mit nachvollziehbaren Emotionen. Sein Gewölbe in San Francesco zeigt die vier Kirchenväter: Hieronymus, den heiligen Augustinus, Papst Gregor den Großen und den heiligen Ambrosius, Bischof von Mailand. Begleitet von einem Diakon oder einem Mönch sind sie mit ihren Schriften beschäftigt, die insgesamt die Kirchendoktrin bilden. Es liegt eine Weichheit in den fein gezeichneten Gesichtern, die mit dem fast monumentalen Eindruck der Figuren kontrastiert: wie gebildhaut sitzen sie da und sinnieren ernst über ihre Lehren. Für das Betrachten der zerstörten Fresken sind wir jetzt auf die Fotografien angewiesen. Zwei Gewölbekappen stürzten bei den Erdbeben hinab: eine mit Giottos und eine mit Cimabues Fresken. Außerdem ging ein Teil der Fresken der Bogenlaibung an der Innenfassade verloren. Giorgio Bonsanti erläutert: "Die ehrwürdige Basilika, die alljährlich von Millionen von Pilgern und Kunstfreunden besucht wird, wurde in ihren Grundfesten erschüttert und erlitt schwere Schäden an ihrer Bausubstanz und ihrem kostbaren Freskenbestand. Unser Bewußtsein will diesen Gewaltakt der Natur, dem auch Menschenleben zum Opfer fielen, nicht akzeptieren. Die Kunst ist für uns alle ein Phänomen, das über das Individuum hinausweist, ein humanitäres Erbe, das uns alle betrifft. Assisi steht für die unauflösliche Verbindung von Religion und Kunst. Das Erdbeben hat uns alle an die Ohnmacht und die Vergänglichkeit gemahnt, der nicht nur der Mensch, sondern auch seine Werke unterworfen sind."
Naturgewalt versus Kunst: Die bleibende Schönheit der Fotos von Ghigo Roli wird unwirklich angesichts seines Erlebnisberichts. Das kleine Wörtchen "zerstört", in Klammern vielen Bilduntertiteln hinzugefügt, erschüttert noch nachträglich. Dieser Rahmen gibt dem Bildband sein eigentliches Gewicht. Zum Glück, sagt sich da der Kunstliebhaber, gibt es Bücher. Die Originale ersetzen sie nicht.