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"Die Demenz ist eine Familienkrankheit"

Die Zahl der Demenzkranken steigt in Deutschland stetig. Meist ist die Demenz "Teil vieler anderer Krankheiten", sagt Cornel Sieber, einer der führenden Geriater im Land. Er betont, dass Hausärzte die zentrale Anlaufstelle für die Patienten sein sollten.

Cornel Sieber im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 06.04.2013
    Auch für Angehörige und Freunde der Demenzkranken ist die Krankheit eine große Belastung.
    Auch für Angehörige und Freunde der Demenzkranken ist die Krankheit eine große Belastung. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Jürgen Zurheide: Die Zahl der Demenzkranken in Deutschland steigt. Insgesamt gibt es im Moment 1,4 Millionen Menschen, die an dieser schwierigen Krankheit, an Alzheimer oder anderen Formen von Demenz leiden, und jedes Jahr kommen 40.000 neue hinzu. Das ist schwierig für die Betroffenen, für die Angehörigen, aber auch für die Medizin und das gesamte System, was damit umgehen muss. Über dieses Thema wollen wir reden mit einem, der sich auskennt, der als führender Geriater in Deutschland tätig ist. Ich begrüße Professor Cornel Sieber von der Universität Erlangen-Nürnberg. Schönen guten Morgen, Herr Sieber!

    Cornel Sieber: Guten Morgen, Herr Zurheide, schön, Sie zu hören!

    Zurheide: Herr Sieber, zunächst einmal ordnen Sie uns das ein: Wir hören, dass 300.000 Ersterkrankungen in Deutschland in den nächsten Jahren auf uns zukommen werden, dass es eine wahre Welle ist. Dass das erhebliche Zahlen sind, ist keine Frage, aber ordnen Sie uns das ein, was rollt da auf die Gesellschaft zu?

    Sieber: Ja, diese Zahl ist natürlich auf der einen Seite nicht nur eindrücklich, sondern für viele Menschen auch beängstigend. Sie hat natürlich damit zu tun, dass wir in einem Land mit einem klaren demografischen Wandel leben. Wir haben immer mehr betagte und hochbetagte Menschen. Die Demenz ist eine typische Alterserkrankung, meist nicht nur die Demenz, sondern als Teil vieler anderer chronischer Krankheiten. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass auch viele Menschen hochbetagt werden und keine Demenz haben. Aber die Zahl natürlich insgesamt mit 300.000 ist eine Herausforderung und eben vorab auch innerhalb der Medizin, weil sie nicht einzeln, sondern als Teil vieler anderer Krankheiten auftritt.

    Zurheide: Wir werden gleich noch darüber reden, was sich an den verschiedenen Stellen verändern muss. Ich würde von Ihnen zunächst mal wissen wollen, manchmal gibt es die Hoffnung, na ja, es wird dann irgendein Medikament geben, um das einzudämmen. Ist das eine trügerische Hoffnung oder sagen Sie, na ja, da kann man auch drüber nachdenken?

    Sieber: Kann man sicher darüber nachdenken, insgesamt muss man trotzdem sagen, dass natürlich die Entwicklungen der letzten Jahre uns etwas desillusioniert haben, dass rasch was kommen könnte. Es ist vermutlich auch zu einfach zu denken, dass ein komplexes Organ wie das Hirn nur mit einer kleinen Stellschraube, sprich mit der Beeinflussung einer Pathologie oder anders gesagt einer Veränderung in einem Stoff die Demenz gerade umgekehrt werden könnte. Die Hoffnung, dass die Impfung etwas bringen könnte gegen Alzheimer, hat ja auch nicht ganz genau den Durchbruch gebracht, den wir uns erhofft haben.

    Zurheide: Dann konzentrieren wir uns darauf, was sich möglicherweise verändern muss im System, im Gesundheitswesen – das ist ein anonymes, ein großes System. Ich bring mal ein Stichwort: Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen müsste eigentlich gefördert werden. Jetzt wissen wir beide, das ist schon häufig auf vielen Konferenzen beschworen worden, in der Praxis ist das schwierig. Warum ist aus Ihrer Sicht Zusammenarbeit auch unterschiedlicher Mediziner so wichtig bei diesem Punkt?

    Sieber: Ja, ganz eine wichtige Frage. Sie erreichen mich jetzt gerade hier in Wiesbaden, heute beginnt der Internistenkongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, und ich sag Ihnen das deshalb, weil hier werden ja Tausende von Kolleginnen und Kollegen kommen, die eben in der Basis, im niedergelassenen Bereich betagte Menschen betreuen, und der Hausarzt, sei das, in welcher Grundkonstellation er auch arbeitet, ist sicher der integrale wichtige Teil in der Behandlung auch von Demenzkranken und sollte, ich sage immer ein bisschen eine Art Reisebegleiter sein dieser betagten Menschen, dass sie nicht in den verschiedenen Subspezialitäten verloren gehen.

    Zurheide: Dann haben wir ein anderes Problem, dass gerade ältere und betagte Menschen – Sie haben es vorhin angesprochen – an vielen Krankheiten leiden, und dann sieht man diese Sortimente von Tabletten, die dann da aufgefahren werden, zehn, manchmal bis zu 15 Tabletten, die sich zum Teil aber eigentlich in den Wechselwirkungen gegenseitig ja katastrophal ergänzen. Da muss doch auch irgendetwas passieren, da müsste man sich doch konzentrieren, oder was schlägt der Geriater vor?

    Sieber: Ja, ich glaube, hier ist eine Fachlichkeit der Geriater, dass sie eben etwas mehr diese Interaktionen kennen und häufig mit der Besprechung des Patienten und seiner Angehörigen eine Priorisierung vor sich nehmen. Priorisierung heißt nicht irgendwie Rationierung, aber für einen betagten Menschen ist es wirklich wichtig, was braucht er, damit er seine Selbstständigkeit und damit Unabhängigkeit behalten kann. Und da kann man auch manchmal gewisse Krankheiten etwas weniger prioritär behandeln und kann auch Medikamente wegnehmen. Aber gerade weil eben diese Medikamente [...] – hier kommt wiederum den internistischen Kolleginnen und Kollegen eine ganz wichtige Rolle zu, da nämlich die Demenz ja nicht nur die Alzheimersche Demenz ist, sondern mindestens oder sehr häufig auch eine vaskuläre Demenz, und da haben wir Risikofaktoren – hoher Blutdruck, Zuckerkrankheit, zum Beispiel hohe Blutfette –, und hier haben wir ja sehr effiziente, auch medikamentöse Therapiemöglichkeiten.

    Zurheide: Was heißt das für die Familien, wie kann man sich darauf einstellen, wenn man feststellt, ja, erstens, wie stellt man es überhaupt fest, und was kann man dann tun?

    Sieber: Ja, also ich sag immer, die Demenz ist eine Familienkrankheit, riesige Herausforderungen für die Partner, für die Familien, für die Kinder. Ich glaube, wichtig ist, sagen wir mal, dass man initial einmal eine saubere Diagnose macht. Viele Leute kommen zu mir in die Sprechstunde und sagen, ich glaube, ich werde dement, meine kognitive Leistung ist etwas ab. Es gibt auch im Gehirn so etwas, das ist normales Altern, da kann man sehr, sehr viele Menschen beruhigen. Ist dann die Diagnose wirklich gestellt, dann, glaube ich, muss man die Leute über längere Zeit begleiten. Die Demenz per se verläuft auch nicht immer gleich, meistens nach Diagnosestellung etwa über sieben bis neun Jahre, und man kann natürlich auch im nicht pharmakologischen, im nicht medikamentösen Bereich auch sehr viel machen, sprich verhaltenstherapeutisch.

    Zurheide: Da ist also unter dem Strich noch ziemlich viel zu tun. Ich bedanke mich sehr. Das war Professor Cornel Sieber vom Lehrstuhl für Geriatrie der Universität Erlangen-Nürnberg, der uns geholfen hat, diese Krankheit, die zunehmen wird, besser zu verstehen. Herr Sieber, ich bedanke mich für das Gespräch! Auf Wiederhören!

    Sieber: Ich bedanke mich auch, schönen Tag!


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