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Die deutsche Osteuropa-Forschung liegt am Boden

Als die Welt noch in West- und Ostblock eingeteilt wurde, war die Bundesrepublik nicht nur die "Nahtstelle zwischen den Systemen". Der Osteuropaforschung hierzulande kam auch, lange vor der Brandtschen Ostpolitik, eine Vermittlerrolle zwischen den Systemen zu. Die Bundesregierung leistete sich ein eigenes Institut für ostwissenschaftliche Studien, und an vielen Universitäten waren die Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte Lieferanten für Politikberatung oder brachten den Ost-West-Hochschulaustausch voran. Doch kurz vor der sogenannten "Osterweiterung" der EU wird dieses Potential abgebaut.

    Ein Beitrag von Tobias Müller

    An der Gießener Justus-Liebig-Universität gehörte das Institut für Osteuropäische Geschichte in den vergangenen fünfzig Jahren zu den Vorzeige-Einrichtungen der Osteuropakunde. Wissenschaftler wie Herbert Ludat, Klaus Zernack oder Klaus Heller standen für eine Forschung, die sich besonders den wirtschaftlichen Aspekten ost- und westeuropäischer Geschichte verschrieben hatte. Zum Institut gehört auch eine einmalige Fachbibliothek mit mehr als 200.000 Titeln. Groß war deshalb für den letzten Lehrstuhlinhaber Klaus Heller das Entsetzen, als er jetzt von den Fachbereichsplänen erfuhr, die C 4-Stelle in eine C 3-Professur umzuwandeln, um in der Zeitgeschichte eine zweite C 4-Professur zu schaffen.

    Das bedeutet eben auch im Augenblick, dass das Fach nicht vertreten wird. Also, im Sommersemester und – wie ich gehört habe – wohl auch im Wintersemester wird es noch nicht einmal eine Vertretung für osteuropäische Geschichte geben.

    Die in Gießen geplante Lehrstuhlumwandlung hätte Folgen für die Ausstattung: Drittmittel würden zukünftig ebenso wie ein Sekretariat und Assistenzstellen wegfallen, mit der personellen Einsparung auch die Qualität leiden - und letztlich die Attraktivität. Auf sein Nachfragen hin erhielt der emeritierte Professor eine erstaunliche Begründung:

    Das Argument, es ist eine Art Totschlagsargument, was man auch in anderen - zum Beispiel bei der Abschaffung der C 4-Professur in Frankfurt am Main, gibt es ja auch nicht mehr, in Kassel übrigens auch nicht mehr ... was immer angeführt wurde: Ja, der Kalte Krieg ist ja zu Ende. Und da, in diesen Instituten, hat man eigentlich nur kalten Krieg geführt. Das waren sozusagen diejenigen, die da also mit beigetragen haben. – Das Gegenteil war ja der Fall.

    In einem Brief an den Gießener Uni-Präsidenten haben 250 Slawistik- und Geschichtsstudenten gegen das Vorhaben protestiert. Schützenhilfe bekommen sie von der IOS, der bundesweiten "Initiative Osteuropastudierender". Und von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. DGO-Präsidentin Rita Süssmuth warnt vor dem drohenden Qualitätsverlust einer angesehenen Wissenschaftssparte in Deutschland.

    Wir haben zur Zeit noch ein hohes Niveau in der Osteuropa-Forschung, müssen aber nicht nur fürchten, sondern können absehen aufgrund der Entwicklung, dass es bergab gehen wird. Denn Gießen ist nicht der einzige Ort, wo abgebaut wird, sondern davon sind viele andere Orte betroffen. Ob wir Freiburg nehmen, ob wir Tübingen nehmen, ob wir Mannheim nehmen. Und mit der Ausdünnung des Forschungsfeldes werden auch die Analysen nicht mehr verfügbar sein, das geht bis hinein in die Politikberatung.

    Auch in der Wirtschaft gibt es angesichts des größer werdenden Marktes Bedarf an Fachleuten für Osteuropa. Dittmar Dahlmann vom Seminar für Osteuropäische Geschichte der Uni Bonn hat viele Absolventen, die mit der Kombination Jura oder BWL und Osteuropäischer Geschichte schon lange vor dem Diplom wussten, wo sie nach dem Studium arbeiten werden.

    Von daher ist es politisch einfach kurzsichtig, diese Fächer zu reduzieren. Wir brauchen diese Leute, denn ohne die werden wir in der EU nicht die Rolle spielen können, die wir bisher dort gespielt haben. Wenn uns die Experten dafür fehlen, wie sollen wir dann sozusagen eine vernünftige Politik gegenüber diesen Ländern, die uns ja dann immer näher rücken, betreiben können?

    DGO-Präsidentin Rita Süssmuth weiß aus eigener Erfahrung als Politikerin, wie sehr Beratung durch Spezialisten das politische Handeln beeinflusst.

    Als es um das Kosovo ging, die Einbindung Russlands in diesen Konflikt, da brauchen Sie auch Kenner der serbisch-russischen Beziehungen, also sowohl historisch wie aktuell. Und zu meinen, das können wir alles mal eben so machen ohne Expertenwissen, das geht nicht. Der Experte ersetzt nicht den Politiker, aber er ist ganz entscheidend, um Orientierung fürs Handeln zu haben, Hintergrundwissen, und seinem Partner auch adäquat begegnen zu können.