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Die deutschen Denker und ihr Begriff vom Deutschen

Die deutschen Philosophen interpretierten den Gemeinschaftsbegriff im Kontext ihrer Zeit, zum Beispiel auch, was typisch deutsch sei. In seinem Buch geht der Geschichtsprofessor Ulrich Sieg diesen Fragen nach.

Von Rainer Kühn | 27.05.2013
    Ulrich Sieg legt mehr als eine Ideengeschichte vor. Er erzählt also nicht nur nach, wer welche Gedanken zwischen 1871 und 1945 verkündete; der Historiker versucht zudem auch zu beantworten, wie und was nach der Reichsgründung über deutsche Identität gedacht wurde. Als Anknüpfungspunkt. Damit wir hier und heute über unsere Identität nachdenken. Weil nämlich ...

    "... der Zusammenbruch des Sozialismus die Frage nach der Eigenart der Nationalcharaktere erneut auf die Tagesordnung gesetzt hat."

    Ulrich Sieg will also nicht nur klären, wie sich "Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus" mit Politik und Gewalt arrangierten, sondern auch herausfinden: Was haben die zunächst liberal eingestellten, sich dann aber immer national-konservativer gebärdenden Denker erdacht zum Thema "Deutschsein"? Etwas, das heutzutage abgeklärt behandelt werden könne:

    "In einem Zeitalter beschleunigter Globalisierung scheint ein gelassener Umgang mit historischen Meistererzählungen angemessen. Falls eine überzeugende Antwort auf die Frage "Was ist deutsch?" gelingen sollte, wird sie ohnehin nicht apodiktischer Natur sein."

    Was also ist es, was uns Deutsche "im Innersten zusammenhält"? Und haben wir wegen dieses ominösen Wesenskerns einen geschichtlichen "Sonderweg" zurückgelegt, der im Holocaust endete? Ulrich Sieg hat neue Quellen gesichtet. Sein Fazit:

    "Allgemein scheitert man daran, eine zwingende Verbindung zwischen den tiefer liegenden intellektuellen und mentalen Prägungen und den nach 1933 begangenen Verbrechen zu finden. Stets trat bei näherer Kenntnis die europäische Dimension des Phänomens in den Vordergrund."

    Deutschland war also nicht ganz so besonders, wie manchmal vermeldet. Und der 1960 geborene Geschichtsprofessor hat noch anderes Neues zu bieten. So musste er etwa bei seinen Forschungen zutage fördern, dass selbst große Köpfe deutscher Nation schon früh ekelhaften Unsinn von sich gaben. Wie etwa Heinrich von Treitschke, Historiker und von 1871 bis 1884 Mitglied des Reichstags:

    "Treitschke hatte seinerzeit ein ebenso dramatisches wie unzutreffendes Bild "ostjüdischer Überfremdung" gezeichnet und unter Berufung auf das Volksgewissen den verhängnisvollen Satz geprägt "Die Juden sind unser Unglück!"."

    Im Gegensatz zu einigen anderen Lesarten sind auf solch rassistischen Schwachsinn also nicht erst die Nazis gekommen. Die "Banalität des Bösen" hatte mithin nicht nur Methode, sondern auch einen geistigen Hintergrund. Um das aufzuzeigen, kann man auf zweierlei Art vorgehen: Entweder man versucht, jedes Gedankenstück an seinen Platz in der historischen Abfolge einzuordnen. Oder man geht auswählend exemplarisch vor. Ulrich Sieg hat den zweiten Weg gewählt. Zwei Attentate im Jahr 1878 auf Wilhelm I. nutzt der Autor, um sowohl den politischen Rechtsschwenk im Kaiserreich als auch die Anpassung der Denker an diese Wende zu beschreiben. Anschließend zeichnet er nach, wie sich der Philosoph Rudolf Eucken - erfolgreich - einem schwedischen Gremiumsmitglied anpries, um den Literaturnobelpreis zu erhalten; für Ulrich Sieg ein Symbol dafür, dass sich damals deutsches Denken auf dem Höhepunkt seiner internationalen Wertschätzung befand:

    "Das Bürgertum erntete um 1900 die Früchte seiner wirtschaftlichen Anstrengungen und stand im Zenit seines Ruhms. Junge Westeuropäer und Amerikaner studierten an deutschen Universitäten und publizierten als angesehene Wissenschaftler in der Sprache Humboldts. Selbst die Bedingungen des Literaturnobelpreises schienen für Vertreter des deutschen Neoidealismus wie geschaffen. Eucken wurde 1908 in Stockholm geehrt. Der Jenaer Ordinarius bot jene Synthese nationaler und universaler Werte, die sich im Bürgertum großer Beliebtheit erfreute und eine bessere Zukunft zu verbürgen schien."

    Mit der internationalen Wertschätzung war es dann allerdings schnell vorbei. Der Marburger Historiker stellt die Verteidigung, oder besser doppeldeutig gesagt, die "Behauptung deutscher Kultur" zu Beginn des Ersten Weltkriegs durch Philosophie-Professoren dar:

    "Die stolzen Bekenntnisse zum Deutschtum, die seit 1914 an den Universitäten üblich waren, sollten den Krieg legitimieren, offenbarten aber primär innere Leere."

    Obwohl eigentlich absehbar seit dem sogenannten "Steckrübenwinter" 1916/17, kam die Niederlage auch für große Geister überraschend. Und musste, psychologisch gesagt, rationalisiert, anders ausgedrückt, gedanklich-begrifflich verarbeitet werden. Was die Geistesgrößen denn auch versuchten:

    "Neben der "Dolchstoßlegende" wäre an die Bedeutungsaufladung des Gemeinschaftsbegriffs zu erinnern. In teleologisch konzipierten Darstellungen ordnet man die Überhöhung der Gemeinschaft gern der Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu. Tatsächlich stritten in der Weimarer Republik beinahe alle politischen und weltanschaulichen Lager darum, den Gemeinschaftsbegriff in ihrem Sinn zu fassen."

    Was dazu führte, dass sich, so Ulrich Siegs nächstes Beispiel, der Soziologe Helmuth Plessner, dazu genötigt sah, die "Grenzen der Gemeinschaft" aufzuzeigen. Kurz nach Beginn ihrer Verbrechensherrschaft vertrieben dann die Nazis viele Angehörige der geistigen Elite aus ihren Positionen. Nachrücken konnten minderbemittelte Köpfe – was der Autor am Beispiel des "Experimentalpsychologen" Erich Rudolf Jaensch demonstriert. Dieser "tolle Mensch" war der Meinung, dass ...

    "das Haushuhn zum Vergleich mit dem Menschen bestens geeignet sei, da es die Welt primär durch das Auge wahrnehme und zudem eine lange Phase der Domestizierung hinter sich habe. 1939 veröffentlichte Jaensch eine Broschüre "Der Hühnerhof als Forschungs- und Aufklärungsmittel in menschlichen Rassefragen", die beredt darlegte, wie viel sich vom Federvieh für das menschliche Verhalten lernen lasse."

    Wüsste man nicht, wohin dieser Blödsinn letztlich führte, man hätte gern laut gelacht über dieses Exempel einer Nazi-Rassen-Grundlagenforschung.

    Ulrich Sieg hat eine absolut lesenswerte Studie vorgelegt. Einige Auslassungen, wie etwa, dass er nicht noch einmal den Fall Heidegger durchkaut, sind ihm hoch anzurechnen. Andere Lücken müssten noch geschlossen werden: Dass er den Gegenbegriff zur "deutschen Kultur" hoffentlich kennt, aber nicht nennt, nämlich: "angelsächsische Zivilisation", ist misslich. Und warum sich viele Philosophen in der Nazi-Zeit auf elfenbeinturmartige Grundlagentheorie zurückzogen? Hier gälte es, sich der Frage der "Inneren Emigration" zu widmen. Sei es drum: Allein, dass Ulrich Sieg es sich verkneift, auf seine Ausgangsfrage: "Was ist deutsch?" eine abschließende Antwort zu geben, krönt diese hervorragende Studie.

    Buchinfos:
    Ulrich Sieg: "Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus", ISBN: 978-3-446-24143-5, Carl Hanser Verlag, 320 Seiten, Preis: 27,90 Euro