Denn um sich klarmachen, dass das Eigene ganz und gar nicht normal ist, auch wenn man es gewohnt ist, dass die eigenen Sitten und Gebräuche, mit denen man ja schleichend mitgeht und sich an sie anpasst, dass all das auch ganz und gar unsittlich sein kann, dass all das, was den bundesrepublikanischen Allta somit ausmacht, auch äußerst fragwürdig sein kann, das macht Coulmas' Buch deutlich. Denn: Coulmas vergleicht Deutschland mit Japan. Ein Beispiel: In Japan übernimmt die Speditionsfirma den gesamten Umzug. Die Firma macht sich Gedanken Ober möglich Hindernisse und Unannehmlichkeiten, kümmert sich um das Nachsenden der Post genauso wie um die Absperrung der Ausladezone oder gibt Tage voraus bei den Nachbarn den freundlichen Hinweis ab, dass bald ein großes Fahrzeug die Straße behindern werde. Ob das störe? In Deutschland undenkbar?! Überall Freundlichkeit, Höflichkeit, Rücksichtnahme und Pünktlichkeit in Japan, während Coulmas in Deutschland fast immer nur dem Gegenteil begegnet ist. Die Erzieherinnen im deutschen Kindergarten findet er unprofessionell, weil sie den Kindern keine Grenzen vorgeben, sondern die Kinder diese Grenzen selbst finden lassen (was dann schwierig und fragwürdig wird, wenn diese Grenze in der unterschiedlich ausgeprägten Geduld der Erzieherinnen liegt); und auch das Menschenbild verwirrt den jüngst Zurückgekehrten, denn auf die Frage, warum sie ein kleines Kind mit Worten scharf angefahren habe, erwidert die Erzieherin: "Ich bin auch nur ein Mensch!". In Tokyo hätte man lächelnd gesagt, dass man es das nächste Mal besser machen werde, Ansporn zur Verbesserung statt Nachsichtigkeit mit einem Mangel herrscht hier vor- allein in diesem kleinen Beispiel sieht Florian Coulmas einen Unterschied in der Kultur. Deutschland banal und brachial, Japan feinsinnig und freundlich - sicherlich ließen sich auch Beispiele finden, in denen es anders herum ist. Doch sei's drum!
Florian Coulmas Buch ist dennoch voll treffsicherer, nachdenklich machender Beobachtungen. Sie sind allesamt in den ersten Wochen in der neuen Heimat Deutschland entstanden, und sie haben Coulmas dazu angeregt, dieses Buch zu schreiben. Alltagserfahrungen eines Heimkehrers, die uns hier Lebenden einen lohnenswerten Spiegel vorhalten: Die ganze Physiognomie unserer Kultur wird darin sichtbar! Die in diesem Land so geläufigen Fäkaf Vokabeln; Unterhchtsausfall an den Schulen; Titelsucht unter Gebildeten; PC-Mangel an der Universität; Moralsucht und doppelte Buchführung; Heiliges Wochenende, Konsumkiller- die Liste der Themen, die Florian Coulmas, angeregt von seinen eigenen Erfahrungen macht, ist lang. Sein Bild von Deutschland ist düster, er ist enttäuscht über mangelnde Freundlichkeit und fehlende Leitbilder- dass man das alles auch ganz anders sehen kann, ist klar. Nicht umsonst haben solche Bücher Konjunktur und nicht umsonst liefern Coulmas Klagen genau den Stoff für jene Ethik- und Soziologentagungen, die landauf landab stattfinden, Artisten in der Zirkuskuppel der Selbstaufklärung, ratlos, Ansichtssachen eben!
Einen schönen Hinweis verdanken wir dann doch noch dem Zurückgekehrten: Wie in einer Nussschale sieht Coulmas den deutschen Charakter in einer Hinweistafel am Rhein vereint: "Fußweg am Rhein. Kein Winterdienst. Der Oberbürgermeister" heißt es da wie in einer Art Haiku - wahrlich kein Wintermärchen, unser Land!