Buchtitel aus zwei Begriffen, die durch ein "und" verbunden sind, enthalten oft eine Programmatik, in der es um die Kritik eines "oder" geht. Das ist auch bei dem neuen Buch des Soziologen, Wissenschaftshistorikers und Essayisten Wolf Lepenies der Fall: "Kultur und Politik". Wer den Autor kennt, wundert sich nicht über eine solche Programmatik. Dem ehemaligen Leiter des Berliner Wissenschaftskollegs, Gründer und Mitglied zahlreicher wissenschaftlichen Forschungszentren kann es um nichts anderes gehen, als jeder Form eines "oder", einer Hierarchie oder Alternative zwischen Kultur und Politik, eine Absage zu erteilen.
Denn "Kultur gegen Politik auszuspielen hat in Deutschland Tradition. ... In der deutschen Geschichte ... haben die Hochschätzung der Kultur und eine 'seltsame Indifferenz gegenüber der Politik' ... eine besonders starke Rolle gespielt. In der Kultur nicht nur einen Politik-Ersatz, sondern eine bessere Form der Politik zu sehen, ist eine deutsche Haltung, die von den glorreichen Zeiten der Weimarer Klassik bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ... wirksam bleibt.
Die These ist bekannt. Ihre beste Fassung findet sich in Helmuth Plessners Die verspätete Nation von 1959. Und diese These ist zu einem Grundtext des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik geworden. Mit ihr eröffnet Wolf Lepenies seine Diskussion dieser besonderen deutschen Tradition.
Später als die westlichen Nachbarn findet Deutschland zu seiner nationalen Identität. Sie bildet sich weniger über politische Kämpfe und soziale Konflikte heraus als über die Beschwörung kultureller Gemeinsamkeiten und den Stolz auf die großen Werke der Literatur, Philosophie und Musik. Gleichzeitig gehört das Unbehagen an der Politik zu den Dauerthemen des wissenschaftlichen Nachdenkens und des künstlerischen Nachsinnens der Deutschen über sich selbst. Und wenn es eine deutsche Ideologie gibt, so besteht sie ... darin, ... mit einem gehörigen Maß an Arroganz die Rolle des europäischen Außenseiters und Lehrmeisters zugleich zu spielen. Trotzig setzen wir die Romantik gegen die Aufklärung, ... die Kultur gegen die Zivilisation, die Innerlichkeit gegen die Außenwelt, Gemeinschaft gegen Gesellschaft und das Gemüt gegen den Intellekt. ... Dieses 'Innere Reich' verleitet zur Distanz von der Politik und dient oft als Rechtfertigung des Rückzugs aus der Gesellschaft in den schönen Schein der Kunst und in die geschützte Lebenswelt der Privatsphäre.
Lepenies steuert einen entschlossenen Kurs zwischen der These eines deutschen "Sonderwegs" und dem Vorhaben einer "Normalisierung" der deutschen Geschichte, das den Historikerstreit der achtziger Jahre auslöste. Auch in anderen Ländern ist dieses Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Politik bekannt. Und normal war wenig an der deutschen Geschichte. Doch wurde der alltags- und politikferne deutsche Kult des Geistes und der Kunst, den wir als strukturelle Anomalie sehen, selbst in den westlichen Ländern nicht immer nur als solche Anomalie verstanden und mit Verwunderung oder Abscheu zur Kenntnis genommen. Das macht Lepenies unter anderem an den Einflüssen der deutschen Romantik auf die sich von England emanzipierende US-amerikanische Kultur im frühen 19. Jahrhundert oder der Wirkung der deutschen Literatur und Philosophie auf das US-amerikanische Geistesleben in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich. Auch setzt er sich ausführlich mit den seit den Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich nicht abreißenden "Kulturkriegen" zwischen deutschem "Geist" und französischem "Rationalismus" auseinander.
Als literarische Form seiner Darstellung wählt Lepenies nicht die fortlaufende Geschichtsschreibung, sondern die essayistische und lesefreundliche Form "Deutscher Geschichten", wie es im Untertitel des Buches heißt. Diese Geschichten sind aber nicht nur bunte Perlen an einer losen Schnur. Sie sind vielmehr eingefasst von einem elliptischen Kreis mit zwei Mittelpunkten: Goethe und Thomas Mann. Den zwei Namen also, die für den Anfang und das Ende der "bürgerlichen" Hochkultur in Deutschland stehen. Goethe, der Olympier, der vorbildhaft, weil über jeden Nationalismus erhaben, über dem Gegensatz zwischen Kultur und Politik steht, und der Ironiker Thomas Mann, der sich wie kein anderer an diesem Gegensatz abmüht und sich vom "Unpolitischen" zum aktiven Verfechter der Demokratie entwickelt.
Es ist bemerkenswert, dass diese so oft missbrauchte deutsche Kulturtradition, die die ehedem herrschenden Eliten bis hin zu den Nazis und der SED als die ihre betrachtet haben, heute noch gilt, um an ihr das Verhältnis von "Kultur und Politik" in Deutschland zu demonstrieren. Denn in Lepenies' "Deutschen Geschichten" fehlen nicht nur die liberalen und linken Intellektuellen, für die die Überwindung der Politikferne der "bürgerlichen" Kultur und des elitären Kults des "deutschen Geistes" geradezu Programm war. Es fehlen auch jene Kulturvorstellungen und -begriffe, mit denen seit einigen Jahrzehnten versucht wird, Kulturgeschichte aus einem anderen Blickwinkel als dem der bürgerlichen Hochkultur zu schreiben, die Kultur der unteren Schichten einzubeziehen und Kultur- mit Sozialgeschichte zu verbinden, kurz: einen "demokratischen" Kulturbegriff einzuführen, der dem Ende der bürgerlichen Hochkultur Rechnung trägt und die Widerstände benennt, auf die diese in der Vergangenheit häufig gerade im Hinblick auf ihre politischen Folgen gestoßen ist. Diese in Soziologie und Geschichtswissenschaft breit geführte Diskussion kommt bei Wolf Lepenies nicht vor.
Unbeantwortet bleibt auch die Frage, was nach dem fälligen Ende dieser deutschen Kulturtradition an deren Stelle getreten ist und welche Rolle Kultur heute spielt, nachdem, wie es scheint, aus dem Verhältnis von Kultur und Politik das mehrdeutige "und" verschwunden und es auf Kulturpolitik geschrumpft ist.
Lepenies zieht im Hinblick auf die spezifische deutsche Kulturtradition nicht wie Helmuth Plessner ein Resümee, sondern einen Schlussstrich. Das bürgerliche Bildungsideal kann nicht mehr als "Politik-Ersatz" und Mittel einer nationalen Selbstüberhöhung behandelt werden und wird es auch nicht. Andererseits tritt Lepenies nach einer früheren Äußerung für die Notwendigkeit einer "Wertevergewisserung" und "Respiritualisierung" in einer Gesellschaft ein, die seiner Meinung nach einen fehlgelaufenen Prozess der Säkularisierung durchgemacht hat. Lepenies sieht den "kulturellen Selbstbehauptungswillen" Europas in Gefahr. An welche Werte denkt er dabei und woher kommen diese, wenn das Verhältnis von Kultur und Politik in Deutschland von kulturnationalen Anmaßungen zwar frei geworden, aber, nach seiner eigenen Darstellung, kein anderes da ist, auf das man sich beziehen kann, um dem um sich greifenden Werteverlust entgegenzuwirken? Oder erklärt Lepenies das Ende der von ihm beschriebenen Tradition, damit diese in geläuterter Form als Quelle für heute benötigte Werte und moralische Überzeugungen in Kultur, Politik und Gesellschaft zur Verfügung steht und Deutschland auf diese Weise zur "kulturellen Selbstbehauptung" Europas beitragen kann?
In dem Buch werden brillant geschriebene "Deutsche Geschichten" erzählt. Man darf gespannt sein auf ihre Fortsetzung.
Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten
Hanser Verlag 2006, 448 Seiten, Euro 29,90
Denn "Kultur gegen Politik auszuspielen hat in Deutschland Tradition. ... In der deutschen Geschichte ... haben die Hochschätzung der Kultur und eine 'seltsame Indifferenz gegenüber der Politik' ... eine besonders starke Rolle gespielt. In der Kultur nicht nur einen Politik-Ersatz, sondern eine bessere Form der Politik zu sehen, ist eine deutsche Haltung, die von den glorreichen Zeiten der Weimarer Klassik bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ... wirksam bleibt.
Die These ist bekannt. Ihre beste Fassung findet sich in Helmuth Plessners Die verspätete Nation von 1959. Und diese These ist zu einem Grundtext des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik geworden. Mit ihr eröffnet Wolf Lepenies seine Diskussion dieser besonderen deutschen Tradition.
Später als die westlichen Nachbarn findet Deutschland zu seiner nationalen Identität. Sie bildet sich weniger über politische Kämpfe und soziale Konflikte heraus als über die Beschwörung kultureller Gemeinsamkeiten und den Stolz auf die großen Werke der Literatur, Philosophie und Musik. Gleichzeitig gehört das Unbehagen an der Politik zu den Dauerthemen des wissenschaftlichen Nachdenkens und des künstlerischen Nachsinnens der Deutschen über sich selbst. Und wenn es eine deutsche Ideologie gibt, so besteht sie ... darin, ... mit einem gehörigen Maß an Arroganz die Rolle des europäischen Außenseiters und Lehrmeisters zugleich zu spielen. Trotzig setzen wir die Romantik gegen die Aufklärung, ... die Kultur gegen die Zivilisation, die Innerlichkeit gegen die Außenwelt, Gemeinschaft gegen Gesellschaft und das Gemüt gegen den Intellekt. ... Dieses 'Innere Reich' verleitet zur Distanz von der Politik und dient oft als Rechtfertigung des Rückzugs aus der Gesellschaft in den schönen Schein der Kunst und in die geschützte Lebenswelt der Privatsphäre.
Lepenies steuert einen entschlossenen Kurs zwischen der These eines deutschen "Sonderwegs" und dem Vorhaben einer "Normalisierung" der deutschen Geschichte, das den Historikerstreit der achtziger Jahre auslöste. Auch in anderen Ländern ist dieses Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Politik bekannt. Und normal war wenig an der deutschen Geschichte. Doch wurde der alltags- und politikferne deutsche Kult des Geistes und der Kunst, den wir als strukturelle Anomalie sehen, selbst in den westlichen Ländern nicht immer nur als solche Anomalie verstanden und mit Verwunderung oder Abscheu zur Kenntnis genommen. Das macht Lepenies unter anderem an den Einflüssen der deutschen Romantik auf die sich von England emanzipierende US-amerikanische Kultur im frühen 19. Jahrhundert oder der Wirkung der deutschen Literatur und Philosophie auf das US-amerikanische Geistesleben in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich. Auch setzt er sich ausführlich mit den seit den Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich nicht abreißenden "Kulturkriegen" zwischen deutschem "Geist" und französischem "Rationalismus" auseinander.
Als literarische Form seiner Darstellung wählt Lepenies nicht die fortlaufende Geschichtsschreibung, sondern die essayistische und lesefreundliche Form "Deutscher Geschichten", wie es im Untertitel des Buches heißt. Diese Geschichten sind aber nicht nur bunte Perlen an einer losen Schnur. Sie sind vielmehr eingefasst von einem elliptischen Kreis mit zwei Mittelpunkten: Goethe und Thomas Mann. Den zwei Namen also, die für den Anfang und das Ende der "bürgerlichen" Hochkultur in Deutschland stehen. Goethe, der Olympier, der vorbildhaft, weil über jeden Nationalismus erhaben, über dem Gegensatz zwischen Kultur und Politik steht, und der Ironiker Thomas Mann, der sich wie kein anderer an diesem Gegensatz abmüht und sich vom "Unpolitischen" zum aktiven Verfechter der Demokratie entwickelt.
Es ist bemerkenswert, dass diese so oft missbrauchte deutsche Kulturtradition, die die ehedem herrschenden Eliten bis hin zu den Nazis und der SED als die ihre betrachtet haben, heute noch gilt, um an ihr das Verhältnis von "Kultur und Politik" in Deutschland zu demonstrieren. Denn in Lepenies' "Deutschen Geschichten" fehlen nicht nur die liberalen und linken Intellektuellen, für die die Überwindung der Politikferne der "bürgerlichen" Kultur und des elitären Kults des "deutschen Geistes" geradezu Programm war. Es fehlen auch jene Kulturvorstellungen und -begriffe, mit denen seit einigen Jahrzehnten versucht wird, Kulturgeschichte aus einem anderen Blickwinkel als dem der bürgerlichen Hochkultur zu schreiben, die Kultur der unteren Schichten einzubeziehen und Kultur- mit Sozialgeschichte zu verbinden, kurz: einen "demokratischen" Kulturbegriff einzuführen, der dem Ende der bürgerlichen Hochkultur Rechnung trägt und die Widerstände benennt, auf die diese in der Vergangenheit häufig gerade im Hinblick auf ihre politischen Folgen gestoßen ist. Diese in Soziologie und Geschichtswissenschaft breit geführte Diskussion kommt bei Wolf Lepenies nicht vor.
Unbeantwortet bleibt auch die Frage, was nach dem fälligen Ende dieser deutschen Kulturtradition an deren Stelle getreten ist und welche Rolle Kultur heute spielt, nachdem, wie es scheint, aus dem Verhältnis von Kultur und Politik das mehrdeutige "und" verschwunden und es auf Kulturpolitik geschrumpft ist.
Lepenies zieht im Hinblick auf die spezifische deutsche Kulturtradition nicht wie Helmuth Plessner ein Resümee, sondern einen Schlussstrich. Das bürgerliche Bildungsideal kann nicht mehr als "Politik-Ersatz" und Mittel einer nationalen Selbstüberhöhung behandelt werden und wird es auch nicht. Andererseits tritt Lepenies nach einer früheren Äußerung für die Notwendigkeit einer "Wertevergewisserung" und "Respiritualisierung" in einer Gesellschaft ein, die seiner Meinung nach einen fehlgelaufenen Prozess der Säkularisierung durchgemacht hat. Lepenies sieht den "kulturellen Selbstbehauptungswillen" Europas in Gefahr. An welche Werte denkt er dabei und woher kommen diese, wenn das Verhältnis von Kultur und Politik in Deutschland von kulturnationalen Anmaßungen zwar frei geworden, aber, nach seiner eigenen Darstellung, kein anderes da ist, auf das man sich beziehen kann, um dem um sich greifenden Werteverlust entgegenzuwirken? Oder erklärt Lepenies das Ende der von ihm beschriebenen Tradition, damit diese in geläuterter Form als Quelle für heute benötigte Werte und moralische Überzeugungen in Kultur, Politik und Gesellschaft zur Verfügung steht und Deutschland auf diese Weise zur "kulturellen Selbstbehauptung" Europas beitragen kann?
In dem Buch werden brillant geschriebene "Deutsche Geschichten" erzählt. Man darf gespannt sein auf ihre Fortsetzung.
Wolf Lepenies: Kultur und Politik. Deutsche Geschichten
Hanser Verlag 2006, 448 Seiten, Euro 29,90