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Die Deutschen wussten vom Holocaust

Nicht allein der Terror von Gestapo und SS scharte die Deutschen bis zum Untergang hinter ihre Regierung. Was sonst noch dazu beitrug analysiert der zuletzt erschienene Band der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Reihe "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg". Das Werk räumt außerdem mit der Legende auf, man habe erst nach dem Krieg vom Holocaust erfahren.

Von Bernd Boll |
    Vor 25 Jahren betraten die Militärhistoriker um Manfred Messerschmidt Neuland: Mit ihrem auf zehn Bände angelegten Publikationsprojekt beschränkten sie sich nicht auf die militärischen Operationen des Zweiten Weltkriegs, sondern griffen weiter aus: Es sollte eine "Geschichte der Gesellschaft im Krieg" werden, wie damals die programmatische Formulierung lautete. Das bedeutete, die Frage nach den ökonomischen, sozialen und ideologischen Bedingungen für Hitlers Eroberungs- und Vernichtungskrieg gleichberechtigt mit den militärischen Ereignissen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken.

    Der zuletzt erschienene Band 9 versucht nun, unter Berücksichtigung des heute viel umfassenderen Forschungsstandes, die Frage zu beantworten: Wie war es möglich, dass sich nicht nur das Militär, sondern die gesamte Gesellschaft fast sechs Jahre lang Hitlers ebenso verbrecherischen wie selbstzerstörerischen militärischen und politischen Zielen unterwarfen? Auf mehr als 2000 Druckseiten untersuchen 23 Autoren diese Fragen unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten und mit einem Methodenspektrum, das die Militärgeschichte durch sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze erweitert.

    Eine der wichtigsten Säulen für Hitlers Herrschaft war ein weit verbreiteter Nationalismus. Volk und Nation waren attraktive Ordnungsmodelle, die Schutz und Geborgenheit versprachen und die Grenze zwischen äußeren und inneren Feinden zogen. Die militärischen Erfolge bis 1941 schienen diesen Glauben zu rechtfertigen, selbst für viele, die sich nicht als ausgesprochene Nationalsozialisten verstanden. In der Konfrontation mit der Bevölkerung besetzter Staaten schien sich die Wahrheit der NS-Propaganda zu bestätigen und setzte das Gewaltpotential frei, das dem Regime die Durchsetzung seiner verbrecherischen Politik ermöglichte.

    Diese punktuelle Übereinstimmung zwischen Bevölkerung und Regime machten sich die NSDAP und ihre Organisationen während des Krieges zunutze. Sie rekrutierten immer neue Mitglieder, bis "Partei und Gesellschaft nahezu deckungsgleich" waren. Millionen ehrenamtlicher Funktionäre waren während des Krieges tätig. Es griffe aber zu kurz, sie ausschließlich für Spitzel zu halten, die abweichendes Verhalten denunzierten. Vielmehr spielten sie im Krieg eine wichtige Rolle bei der Erledigung kriegsbedingter Aufgaben und bei der kurzfristigen Krisenbewältigung. Truppenbetreuung, Fürsorge für die Soldaten, Hilfsmaßnahmen nach Bombenangriffen, Erhaltung des Friedenskonsums, zivile Reichsverteidigung und schließlich die Aufstellung des "Volkssturms" waren Felder, auf denen die Partei die Bevölkerung als ganz reale Volksgemeinschaft organisierte.

    Dagegen hatte die NS-Propaganda mit einem zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlust zu kämpfen, je länger sich der Krieg hinzog. Zum Ende hin blieb dem Regime nur die Flucht in die "negative Integration": die Beschwörung der Angst vor dem Bolschewismus. Statt von "totalem Sieg" war jetzt von "totalem Krieg" die Rede. Aber der Krieg, ursprünglich zur Durchsetzung von Großmachtplanungen begonnen, konnte der Bevölkerung von den Medien spätestens seit 1943 nur noch als "Gegenangriff", "Vergeltung" oder gar als "Rache" präsentiert werden. Und der absehbare "Endkampf" erforderte "heldenhafte Verteidigung und selbstlose Opfer".

    Der Band räumt auch mit der Legende auf, man habe in Deutschland erst durch die Kriegsverbrecherprozesse vom Holocaust erfahren. In mehreren, auch in Funk und Presse verbreiteten Reden zwischen 1941 und 1943 machte Goebbels keinen Hehl daraus, dass die Juden - so wörtlich - "einen allmählichen Vernichtungsprozess" erleiden, weil sie den Krieg angezettelt hätten. Auch wenn er die Details des Massenmords verschwieg, war das System der Konzentrations- und Vernichtungslager dennoch kein dunkler Kontinent, der vor der Bevölkerung systematisch verborgen wurde.

    Im gesamten Reich griffen Stadtverwaltungen und Unternehmen gerne auf die Sklavenarbeiter der SS zurück, um die Trümmer des Luftkrieges beseitigen zu lassen. So kam es zu einem Konsens zwischen "Volksgemeinschaft" und SS-Staat, das Lagersystem zum Nutzen beider einzusetzen.

    Seit 1945 suchen Historiker nach einer Erklärung, was die Soldaten der Wehrmacht antrieb, bis zum "bitteren Ende" zu kämpfen. Inwiefern die ideologische Indoktrination in der Wehrmacht sich auf die Motivation der Soldaten auswirkte, vermag der ansonsten sorgfältig nach den militärischen Akten gearbeitete Beitrag über die damals so genannte "Weltanschauliche Erziehung" in der Wehrmacht nicht zu bestimmen. Auch die Analyse von Feldpostbriefen ist dafür wenig aufschlussreich.

    Ein schärferes Bild zeichnen dagegen erstmals ausgewertete Protokolle der Vernehmungen deutscher Kriegsgefangener durch die Westalliierten. Die Verhöroffiziere, häufig deutsche Emigranten jüdischer Herkunft, duldeten keine Ausflüchte und zwangen die gefangenen Landser, eindeutig Stellung zu beziehen. Viele von ihnen ließen eine weitgehende Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Argumentationen erkennen.

    Und noch etwas wird deutlich: Die Soldaten wussten in ihrer Mehrheit um den Holocaust und die Massenmorde an anderen Bevölkerungsgruppen in den besetzten Ländern. Es ist ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie, dass bei vielen durchaus ein Bewusstsein ihrer Schuld vorhanden war. Den Kampf ungeachtet der völligen Aussichtslosigkeit fortzusetzen, galt vielen daher als einzige Chance, der zu erwartenden Rache der Alliierten doch noch zu entgehen.

    Am Beispiel einer Division des Ostheeres wird erstmals empirisch nachgewiesen, dass die von der Wehrmacht gezielt aufgestellten Primärgruppen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Kampfmoral spielten. Mit dem Eintritt in das Heer fanden die Rekruten ein regionales, soziales und religiöses Umfeld vor, das ihnen aus dem zivilen Leben vertraut war. Die homogenen Kampfgruppen erzeugten ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das den einzelnen Soldaten nicht in erster Linie für Führer oder Vaterland, sondern für seine Kameraden kämpfen ließ.

    Verluste der kämpfenden Truppe waren niedriger, als bislang angenommen wurde, da viele Verwundete zu ihren Einheiten zurückkehrten. Deshalb blieb selbst an der Ostfront bis 1944 die Zusammensetzung der Division relativ stabil. Dazu trug bei, dass sich auch der Personalersatz aus demselben Umfeld rekrutierte, aus dem die Division ursprünglich aufgestellt worden war. Diese Kontinuität schuf die Voraussetzungen mit dafür, dass die Soldaten bereitwillig der zunehmend radikalen Kriegführung der Wehrmacht folgten und sich entsprechend brutalisieren ließen.

    Band 9 von "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" ist kein Werkstattbericht aus der aktuellen Tätigkeit der Potsdamer Forschungseinrichtung. Dass die offizielle Militärgeschichtsschreibung sich neuen Ansätzen und Fragestellungen öffnet, ist eine begrüßenswerte Entwicklung. Allerdings werden die innovativen Ideen von Mitarbeitern anderer Institutionen eingeführt.

    Nur fünf der mehr als zwanzig Autoren sind oder waren Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Das ist umso bedenklicher, als dort rund zwei Dutzend Historiker beschäftigt sind. Es bleibt deshalb abschließend zu wünschen, dass künftig auch im Amt selbst mehr Anstrengungen unternommen werden, um aus eigener Kraft den Anschluss an die benachbarten Felder der zeitgeschichtlichen Forschung zu finden.

    Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945.
    Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamts.
    Hrsg. von Jörg Echternkamp.
    München: DVA.