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Die Doppelnatur eines Menschheitsverbrechers

Es ist noch nicht alles gesagt über Adolf Hitler, meint der Historiker Volker Ullrich. Der erste Band seiner Hitler-Biografie liefert mit sorgsam recherchierten und gut komponierten Analysen gleichsam ein Bild des Menschen hinter dem Unmenschen – und entdeckt dort viel Normalität und Inszenierung.

Von Niels Beintker | 14.10.2013
    Anfang September 1919, ein knappes Jahr nach Kriegsende und Revolution, bekommt Karl Mayr, Chef der Nachrichtenabteilung eines bayerischen Reichswehrkommandos, Post aus Ulm. Der Verfasser, Adolf Gemlich, will wissen, ob die Juden eine – Zitat – "nationale Gefahr" - darstellen. Hauptmann Mayr leitet den Brief weiter an einen Mitarbeiter, auf den er große Stücke hält: Adolf Hitler, Gefreiter und nun als Angehöriger eines Infanterieregiments mit der politischen Erziehung von Reichswehrangehörigen in Bayern betraut. Er antwortet am 16. September 1919 ausführlich auf Gemlichs Brief. Und verfasst ein Dokument, das als eines der ersten überhaupt seinen fanatischen Antisemitismus belegt. In den Wirren der Revolution in Bayern hat der Kriegsheimkehrer Hitler den Judenhass der Zeit förmlich in sich aufgesogen, schreibt Volker Ullrich in seiner Biografie.

    Er trat von Anfang an als radikaler Antisemit auf, und er erfüllte gerade darin die Erwartungen seines Publikums. Der Antisemitismus, der im Herbst 1919 in München bis zur Siedehitze gesteigert war, bot ihm einen geradezu idealen Resonanzboden.

    Und der Brief an Adolf Gemlich wird, so Volker Ullrich ein Schlüsseldokument in der Biografie eines Menschheitsverbrechers.

    "Hier sind alle antisemitischen Stereotypen versammelt. Und hier wird auch das Ziel beschrieben, an dem Hitler unverrückbar, wie es auch heißt in diesem Brief, nämlich die Entfernung der Juden."

    Die Gemlich-Episode illustriert, wie Volker Ullrich das Leben Adolf Hitlers neu vermisst und beschreibt: Er greift wichtige Detailfragen der Forschung auf und stellt sie in das Gerüst einer chronologischen Lebenserzählung, die im Grunde weithin Bekanntes wiedergibt. Als langjähriger Ressortleiter für das "Politische Buch" bei der Zeit hat Ullrich die zahlreichen Darstellungen zum "Dritten Reich" und seinen Protagonisten intensiv verfolgt. Seine Biografie spiegelt insofern die vielen jüngeren Diskussionen um den Aufstieg Hitlers und die Genese der braunen Diktatur wider, erzählt die Lebensgeschichte des Diktators also auf der Grundlage vieler wichtiger Studien wie etwa denen von Hans-Ulrich Wehler, Brigitte Hamann oder Saul Friedländer. Das Mammut-Werk des britischen Historikers Ian Kershaw, die maßgebende zweibändige Hitler-Biografie, will Ullrich nur in einigen Punkten erweitern, nicht aber grundsätzlich in Frage stellen – alles andere wäre auch vermessen. Ein Beispiel ist der Herrschaftsstil Hitlers, der Blick auf das Verhältnis von Führerabsolutismus und die Rivalität der Untergebenen, die sogenannte Polykratie. Ian Kershaw fand dafür das Bild von den Untergebenen Hitlers, die ihm, im vorauseilenden Gehorsam, eifrig entgegenarbeiteten.

    "Das ist eine sehr richtige Beschreibung. Allerdings betone ich stärker als Kershaw dann doch die ausschlaggebende Rolle Hitlers in diesem Prozess. Es gibt also keine Entscheidung von irgendeiner Bedeutung, die nicht von Hitler selbst abgesegnet wird, also von Führerwillen gedeckt ist. Er war letztlich doch die entscheidende Instanz. Ohne seine Zustimmung lief dann wirklich nichts."

    Eine Leerstelle in den bisherigen Biografien will Volker Ullrich mit Blick auf den konkreten Menschen Adolf Hitler gefunden haben. Hier versucht er, neue Perspektiven zu eröffnen, etwa wenn er die Persönlichkeit des NSDAP-Führers und Diktators untersucht, seinen krankhaften Ehrgeiz, sein politisches Talent, seine Fähigkeit, Gesprächspartnern mit so viel Charme zu begegnen, dass diese ihm schließlich nur noch gewogen sein konnten. Ullrich spricht von der Doppelnatur Hitlers, ein Bild, das ein Leitmotiv seiner Biografie wird. Man könnte auch sagen: Er zeigt, wie sich der Wolf im Schafspelz versteckt, etwa am Beispiel der Außenpolitik des "Dritten Reiches" nach 1933. Einerseits stilisierte sich Hitler mehrfach zum Mann des Friedens und des Ausgleichs in Europa. Andererseits brach er ein sicherheitspolitisches Tabu nach dem anderen: die Aufrüstung der Reichswehr, die Remilitarisierung des Rheinlandes, der sogenannte Anschluss Österreichs, schließlich der Einmarsch in das Sudetenland. Doch auch am Beispiel der Lebensumstände will Ullrich diese Doppelnatur verdeutlichen. Ein langes Kapitel widmet sich dem Menschen Adolf Hitler und den Mythen um seine Person:

    In seiner persönlichen Lebensführung sei Hitler "denkbar einfach, fast asketisch" gewesen, haben die Männer aus seiner Umgebung überliefert. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Hitlers vermeintliche Anspruchslosigkeit war zu einem guten Teil inszeniert, täuschender Schein seiner Selbststilisierung zum "schlichten Mann aus dem Volk". Schon die Vorliebe für teure und schnelle Autos, aber auch die Wahl des Palais Barlow zum Parteihaus und seine große Wohnung in der Prinzregentenstraße entsprachen diesem Bilde keineswegs.

    Die Frage ist freilich: Trägt ein genauerer Blick auf den Menschen Adolf Hitler dazu bei, die Mechanismen seiner totalitären, menschenverachtenden Herrschaft besser zu verstehen? Ja und nein. Einerseits ist es natürlich wichtig, in Hitler nicht ein perverses, abnormales Monstrum zu sehen, vielmehr einen politischen Akteur, der aufgrund seiner Talente und einer latenten Krisensituation der Zeit derart mächtig werden konnte. Andererseits scheint es gelegentlich, als wolle Volker Ullrich den Satz des Simplicissimus-Zeichners Thomas Theodor Heine, Hitler sei kein Individuum, sondern ein Zustand, auf Teufel komm raus widerlegen. Das wirkt, bei allem Respekt vor dieser Biografie, dann doch gelegentlich rührstückhaft. Hat es einen Wert, wenn wir wissen, dass die Hitler-Verehrerin Elsa Bruckmann dem in Landsberg inhaftierten Putschisten Kuchen mit Schlagsahne in die Zelle brachte? Bringt es uns weiter, über Hitlers Vorliebe für Lederhosen nachzudenken – oder darüber, dass zur Filmothek auf dem Obersalzberg eine Sammlung mit 18 Micky-Maus-Filmen gehörte? Volker Ullrich rechtfertigt seine Perspektive:

    "Meine Vermutung geht dahin, dass die Biografen Opfer der Rolle geworden sind, die Hitler am perfektesten spielen konnte: nämlich sein Privatleben zu verhüllen und sich als ein Politiker zu inszenieren, der ganz mit seiner Rolle als Führer identisch sei und daher auch allen privaten Freuden, allen privaten Bindungen entsagt habe, um sich ganz seiner politischen Mission zum angeblichen Wohl des deutschen Volkes verschreiben können. Und deshalb versuche ich, hinter die Kulisse zu schauen, die die Rolle des Führers von der wirklichen Person trennt."

    Nun beschäftigt sich Volker Ullrich auf den über Tausend Seiten des ersten Bandes seiner Hitler-Biografie zum Glück nicht vorrangig mit Hitlers Verhältnis zu den Frauen oder seiner Vorliebe für Erdbeer-Törtchen. Im Zentrum stehen auf der Grundlage neuester Forschungen sorgsam recherchierte und stilistisch gut komponierte Analysen von Aufstieg, Machtentfaltung, Innen- und Außenpolitik in der Diktatur. Ian Kershaws Biografie bleibt dennoch der Maßstab für die Auseinandersetzung mit dem Leben Hitlers. Volker Ullrichs Buch stellt sich dazu, und das ohne im Schatten dieses Monumentalwerks zu verschwinden. Es ist gewissermaßen eine Fortschreibung. Auch das muss erst einmal gelingen.


    Volker Ullrich: "Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs."
    S. Fischer Verlag, 1088 Seiten, 28,00 Euro