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Die doppelten "Bakchen"

Die großen Sprechtheater in München liegen auf unterschiedlichen Seiten der Maximilianstraße: Das Residenztheater und die Kammerspiele. Die Rivalität der beiden Häuser ist legendär. In dieser Spielzeit in beiden Häusern zu sehen ist "Die Bakchen" des Euripides. Regisseur Jossi Wieler nahm die Doppelung gelassen: Warum soll ein so wichtiges Stück über den Zusammenbruch der Athener Zivilgesellschaft nicht von mehreren bearbeitet werden?

Von Cornelie Ueding |
    Auf leisen Sohlen, die Schuhe in der Hand, schleichen sich zwei alte Zausel wie Schattenwesen in den kaum erleuchteten, designartig weiß gestylten Bühnen-Wohnschlafkloküchenbad-Saal. Was der Seher Teiresias und der alte König Kadmos da zu bemurmeln haben, bleibt ebenso unscharf. Nur eines wird deutlich: sie wollen, wie die Bakchen, tanzen gehen. Auftritt Pentheus, der jetzige König, mit Diener. Schuhe ausziehen, lernt man, scheint in diesem Raume Pflicht, denn Pentheus ist schrecklich verklemmt, ein Zwangsneurotiker und Bilderbuch-autoritärer Charakter. Seine Jacketts und Hosen hängt er, sorgfältig gerade gezupft, eigenhändig in den Schrank und schnuppert dauernd an seinen Fingern herum, gefällt sich in immer wieder aufblitzenden sadistischen Gewaltphantasien, wozu er kurz und gackernd voller Vorfreude auflacht, denn seine Phantasien haben ein greifbares Ziel: den neuen Gott Dionysos und seine Anhänger, zu denen nicht nur seine Mutter, sondern mittlerweile auch schon sein Vater und der alte Seher übergelaufen sind.

    Als Dionysos selber als "der Fremde" den Raum betritt, erkennt er ihn nicht. Das Drama nimmt seinen Lauf und das Dilemma dieser Inszenierung beginnt. Denn Dionysos ist in Gestalt des notorisch von einem Hauch Oblomov- Dekadenz und Dandytum umwehten Robert Hunger-Bühler ein blasiert- langweilender Guru, kein faszinierender Verführer. Sein Auftreten im Stück hat gravierende Folgen. In Jossi Wielers Inszenierung kommen sie einer dramaturgischen Havarie auf Raten gleich. Denn wer sollte diesem Typen auf den Leim gehen? Antwort: Niemand. Er und sein Kult sind nichts als die Projektionsfläche für das unterdrückte libidinöse Begehren der Figuren. Ekstase - das bedeutet Kontrollverlust, Machtverlust, Bewußtlosigkeit; alles, was man sich verbietet, alles, was der sterile Bühnenraum von Jens Kilian ausschließt. Also lässt ein Erdbeben, die erste Strafe des Gottes Dionysos, das Licht flackern und die Wände wackeln. Aus der Kloschüssel quillt eine üble Brühe und aus den aufspringenden Schranktüren purzeln Pentheus vormals wohlsortierte Anzüge. Also dringen zuerst zwei in hautfarbenen Kunststoff eingenähte Steril-Hostessen in Schlangenlederstiefeln, die beiden einzigen Bakchen dieser Aufführung, in den Raum, dann kommen Boten von drauß' - von dem an die Hinterwand projizierten - Walde herein und berichten von den keuschen, naturnahen Lustbarkeiten der Mänaden, der Frauen, die andererseits mit bloßen Händen wilde Tiere zerreißen, wenn ihre Idylle bedroht erscheint. Der letzte Bote schließlich erzählt, selber blutüberströmt, wie Agaue ihren Sohn Pentheus zerfleischt habe, im Wahn, es sei ein Löwe. Erst ihr Vater Kadmos öffnet ihr die Augen:

    "Je grausamer die berichteten Details, je vehementer sich der Bote in einen Zustand des Entsetzens hineinredet - umso eifriger legen die beiden Servicedamen Hand an. Zunächst winkt sie der Guru selber herbei, auf dass sie ihm an die Hose gehen, dann beglücken sie Pentheus, dass die - extraweiten - Hosenbeine nur so flattern, schließlich, während sie begierig dem Bericht von der Zerstückelung des Pentheus lauschen, genügen sie sich selbst, wovon fleißige Hände und bebende Rücken Zeugnis ablegen. Dieses halbherzige Bühnen-Sex- Getändel will wohl die Zuschauer als Voyeure entlarven, ist aber leider nur genauso verklemmt wie das Geschnüffel des Spießers Pentheus. Die Botschaft allerdings ist furchtbar eindeutig: Gewalt macht geil."

    An dem vertrackten Stück ist Wieler ebenso gescheitert wie - auf andere Weise - vor ein paar Wochen Dieter Dorn. Unscharfe Figuren und unscharfe Sympathien im Bühnennebeldämmer statt der von Euripides entfalteten und vom Übersetzer Kurt Steinmann im Programmheft beschworenen spannungsreichen Widersprüchlichkeit widerstreitender Kräfte. Sex, Blut und Tränen - aber keine Affekte und noch nicht mal Gedanken über das Verhältnis zu Religion, Kult und Ritualen, über die Zusammenhänge von nüchternem Zweckrationalismus und Massenhysterie. Das Ende ist fürchterlich: ein Chargieren ohne Ende und allen aktualisierenden Textzutaten zum Trotz ohne jede politische Dimension. Heftiges Buhkonzert und knapper Applaus.