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Die Dunkelkammer des Damokles

Romane zu schreiben, heißt Wissenschaft zu betreiben ohne Beweis.' Willem Frederik Hermans, Schriftsteller und Physiker, sagte dies 1958. Den Beweis dazu erbrachte er im selben Jahr mit seinem Roman ,Die Dunkelkammer des Damokles', der nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Er ist streng logisch aufgebaut, nur dass es am Ende nicht heißen muss: So ist es in Wirklichkeit, wie bei einer Formel in der Physik etwa. Und doch handelt dieser Roman von nichts anderem, als dass jemand den Nachweis erbringen will, wie es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Er scheitert damit. Henri Osewoudt, so sein Name, gerät zwischen die Fronten jener, die bestimmen, was wahr und falsch ist - zunächst bestimmen es die deutschen Besatzer, welche in die Niederlande eingefallen sind, 1940, und nach der Befreiung die eigenen Landsleute und Alliierten. Wähnte sich Osewoudt im Krieg noch als Widerstandskämpfer, nach dem Krieg wird er als Vaterlandsverräter inhaftiert. Frans Janssen, der mit Hermans befreundet war, ein Buch über .Die Dunkelkammer des Damokles' geschrieben hat und in Amsterdam Literaturwissenschaft lehrt, sagt zu der Geschichte:

Volkmar Mühleis |
    "Osewoudt ist den anderen ausgeliefert, und jeder hat seine eigenen Interessen. Da ist die niederländische Polizei, die sagt: Du bist ein Verräter. Der englische Geheimdienst will einiges von ihm wissen, sagt aber nicht wozu. Die deutsche Polizei sagt nach dem Krieg: Der war eine Marionette von uns. Dann steht darüber ein Stück in der Zeitung; reine Satire von Hermans über die Berichterstattung halber Wahrheiten. Der Psychiater Lichtenau sagt wiederum: Osewoudt meint Befehle von einem Leutnant im Widerstand erhalten zu haben, natürlich reine Phantasie sowas, der Leutnant ist einfach eine Wunschvorstellung von ihm. Jeder hat seine Sichtweise, und keine ist allgemein gültig. Auch nicht die von Osewoudt selbst; er ist kein unschuldiger Held, er macht Fehler. Und dass das Ganze im Krieg spielt, macht die existenzielle Not nur noch deutlicher. Hermans selbst war damals 18, 19 Jahre alt, er lief durch Amsterdam, hoffte, dass ihn die Deutschen nicht aufgriffen und zum Arbeiten verschickten, er konnte nicht studieren, etc. Der Krieg war eine einzige große Barriere. Wem konnte man vertrauen? Wer kollaboriert? Und auch die Widerstandskämpfer dachten nicht nur ans Vaterland: Osewoudt zum Beispiel denkt an sein bislang geführtes, graues Leben und will sich selbst etwas beweisen."

    Die Geschichte beginnt damit, dass Henri Osewoudt den niederländischen Leutnant Dorbeck trifft, im Mai 1940. Dorbeck sieht ihm verblüffend ähnlich, ist jedoch charakterlich sein Gegenteil: willensstark, zielstrebig, während Osewoudt sein Dasein im Tabakgeschäft des Vaters fristet. Der Leutnant zieht ihn mit in den Untergrund und gibt ihm fortan Anweisungen zu mehreren Attentaten, mitunter von England aus. Nach dem Krieg ist er jedoch spurlos verschwunden, und Osewoudt kann seine Verbindungen im Widerstand nicht eindeutig erklären, um die Anschuldigungen - er habe Landsleute an den Feind verraten - zu entkräften. Der Autor bezieht sich hierbei auf das sogenannte ,EnglandspieF des deutschen Geheimdienstes in den Niederlanden: Die Kommunikation zwischen dem holländischen Widerstand und London wurde zwischen 1942 und -vierundvierzig weitestgehend von den Nazis kontrolliert, durch gefangene englische Agenten, die als Lockvögel für die Deutschen weiter Dienst taten. Im Roman könnten Dorbeck und Osewoudt solche Lockvögel gewesen sein, belegbar ist es jedoch nicht. Willem Frederik Hermans sagte selbst über die Zeit der deutschen Besatzung, 1989, sechs Jahre vor seinem Tod:

    "Es herrschte große Panik. Im Radio zum Beispiel wurde gewarnt: Wer Wein im Haus hat, sollte ihn besser wegschütten, denn wenn deutsche Soldaten kommen und den Wein trinken, besoffen werden, dann bringen sie jeden wahllos um. Das war natürlich Unsinn. Denn wenn sie keinen Befehl dazu hatten, ,die Sau raus zu lassen', waren die Deutschen ganz nett. Die rührten sich nur auf Befehl so auf. Ein eigenartiges Volk."

    Am ersten Tag, als sie kamen, bin ich in Amsterdam umhergelaufen. Meine Zigaretten waren auf, und ich ging in einen Tabakladen direkt neben einer Post, wo viele deutschen Soldaten standen. Ich kaufte ,Dr. Dushkind', amerikanische Zigaretten. Und einer der Deutschen kam mir nach und kaufte ebenfalls ,Dr. Dushkind'! Kurios, nicht?"

    Die ,Dr. Dushkind' werden auch in der Dunkelkammer des Damokles gerne geraucht. Was hat es nun mit dieser Dunkelkammer auf sich? Osewoudt soll für Dorbeck geheime Filme entwickeln. Da er keine Erfahrung darin hat, mißlingt ihm der erste Versuch, doch einige Fotos kann er retten. Dorbeck nutzt die Fotos nicht nur zur Information, sondern auch zur Kontaktaufnahme: Er gibt untergetauchten Verbindungsleuten die Bilder, wenn sie sich Osewoudt gegenüber zu erkennen geben sollen. Osewoudt gerät so in immer neue Kreise von Widerständlern, die jedoch fast alle durch die Gestapo im Verlauf der Geschichte aufgespürt werden - ist er schuld daran? Er streitet es ab. Unter den illegalen Fotos, die er später dann selbst gemacht hat, ist eines von Dorbeck und ihm vor dem Spiegel. Um nach dem Krieg zu beweisen, dass der Leutnant - der große Mann im Hintergrund -, kein Hirngespinst von ihm war, entwickelt er diesen letzten Film unter den Augen seiner Bewacher. Das Ergebnis spricht in unerwartetem Maße gegen ihn. Ein mitgefangener Niederländer, der in die SS eingetreten war, erinnert Osewoudt an Shakespeares König Richard, dem die von ihm Ermordeten aus dem Jenseits zurufen: 'Verzweifel und stirb!' Hermans eigene Sichtweise kommt in dieser Figur des niederländischen SS-Gefangenen am deutlichsten heraus, der sagt:

    "Krieg wird es immer geben; das ist für uns vielleicht jetzt unvorstellbar, doch morgen schon wieder alltäglich. Denken Sie nur an Jugoslawien! Von manchen wurde er für diese Haltung nach dem Krieg als Faschist beschimpft. Auch dafür, dass er den Widerstand nicht gerade glorifiziert - eine Widerstandskämpferin wird gegenüber einer großen, blonden, holländischen Kollaborateurin als nicht besonders attraktiv geschildert. Das hat viel böses Blut gegeben, als das Buch herauskam. Inzwischen wird der Widerstand in den Niederlanden sehr viel selbstkritischer gesehen."

    Die historische Sicht auf das Buch ist eine, die philosophische eine andere. Doch nicht zu vergessen ist: Hermans erzählt ungemein spannend. Schreiben ist eine Technik für ihn: Die Sprache ist exakt, die Komposition in sich geschlossen, man folgt seinem Blick durch die Linse, mit immer neuen Überblendungen, Einstellungen, Scharfstellungen. Literatur und Film liegen bei ihm nicht weit auseinander:

    "Mir geht es darum, den maximalen Effekt mit den einfachsten Mitteln zu erreichen. Eines meiner Bücher handelt von einem Mann, der in Louise Brooks verliebt ist. Gestern noch habe ich im Kino einen Film mit ihr gesehen: ,Lulu', aus dem Jahr '28, von G.W. Pabst. Ein Stummfilm, mit erklärenden Texten zwischendurch, die Kopie war sehr alt, das Kino stockfinster, die Kontraste waren hart, usw. Das war ein Minimum an Mitteln. Aber es war doch völlig ausreichend!"

    Die Dunkelkammer des Damokles' ist ein Schlüsselroman in Hermans' ,sadistischem Universum', so seine Weltsicht, wie er sie in seinen Essays beschrieb. Sisyphos könnte er sich keineswegs glücklich vorstellen, so wie es Albert Camus tat. Mit schwarzem Humor nur ertragen die Figuren in seinen Büchern ihr sinnloses Tun. Die Deutschen fallen ein? Henri Osewoudt läuft mit einem Helm aus dem Ersten Weltkrieg auf die Straße. Es ist ein deutscher Helm, bemerkt er plötzlich. Hoffentlich haben die Deutschen selbst inzwischen andere Helme, sonst kann er schlecht gegen sie kämpfen! Aber nein, Sisyphos steht lächerlich da: Die Deutschen haben noch die gleichen Helme...