Nun gehört aber das polemische Talent unverlierbar zu Hermans, und auch sein großer Roman "Die Dunkelkammer von Damokles" bezeugt das. Er schlug bei seinem Erscheinen 1958 wie eine Bombe ein. Hermans nahm darin alle gesellschaftlichen und politischen Selbstverständigungen aufs Korn, und das war schwer zu verkraften. Die soziale Einheit der Niederlande, wofern davon die Rede sein kann, war mühsam und uneigentlich genug - im Widerstand gegen den deutschen Besetzer - errungen worden, und die Nachkriegszeit hatte alles dafür übrig, die Versäulung der Gesellschaft weiter abzubauen. Darunter verstand man die soziale Trennung in ideologische Zugehörigkeiten mit starkem Gruppengefühl. Das basierte zumeist auf Abgrenzung und Ausschließung. So war es in der Tat ein Sprengsatz, den Hermans legte, wenn er seinen Helden als ein Nichts darstellt, das um jeden Preis Anschluss sucht - ein Widerstandskämpfer aus Versehen, aus Mangel an anderen Bewährungsmöglichkeiten.
Die Niederlande haben sich bis heute als ein tapferes, unbeugsames, fortschrittlichpragmatisches Land und Volk darzustellen gewusst. Das entspricht auch der Meinung, die der Niederländer von sich und seinem Staatswesen, seiner Gesellschaft hat. Regelmäßig haben die Schriftsteller dieses Selbstverständnis untergraben, Multatuli und seine Kolonialkritik im Roman Max Havelaar ist ein großes Beispiel hierfür. An kritischer Wahrnehmung des eigenen Landes lassen sich die niederländischen Autoren allenfalls mit den österreichischen vergleichen. Auch Hermans war alles andere als staatsfromm, einen "Mandarin mit Schwefelsäure" hat man ihn, seinen Polemiken folgend, genannt. Damokles war ein Höfling in Syrakus, im 4. Jahrhundert v.Chr., und das Lexikon weiß zu berichten:
Als er das Glück eines Herrschers allzu überschwenglich pries, forderte der Tyrann Dionysios ihn auf, seine eigenen Erfahrungen damit zu machen. Er setzte Damokles an eine reich gedeckte Tafel, wo dieser ein blankes Schwert bemerkte, das an einem einzigen Haar über ihm hing - ein Symbol für die im Glück stets drohende Gefahr.
Diese Bedrohung fühlt auch der Held des Romans, Henri Osewoudt. Er ist kein Held im klassischen Sinne, ein geringer Mann, der durch die Kriegsumstände ein besonderes Schicksal bekommt. Wir kennen dieses Modell von Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz". Osewoud ist klein von Statur. Auch will ihm kein Bart wachsen, so dass er ein weibisches Aussehen behält. Zur Kompensation übt er Judo und erlangt darin eine gefährliche Fertigkeit:
Seine Füße verformten sich entsprechend, es schien als würden sie zu Saugnäpfen, er stand auf ihnen so fest und unerschütterlich, als wären sie aus Blei. Ein kleines Ungeheuer, ein aufrecht stehender Frosch. - Er hatte keine Nase, sondern ein Naschen. Sein Mund erinnerte an die Öffnung, mit der primitive Tiere die Nahrung aufnehmen, es war kein Mund, der auch lachen und reden konnte. Und dann noch die Pausbacken und das helle, seidige Haar, das einfach nicht vom Kopf abstehen wollte, obwohl er es so kurz wie möglich schneiden ließ.
Hermans hat viel Kunst an die Entwicklung seiner Hauptfigur gewendet. Osewoudt ist ein Typus: der Kleinbürger mit wenig aufregenden/anregenden Lebensaussichten, mit einer problematischen Herkunft - die Mutter hatte in einem Anfall ihren Mann, Henris Vater, ermordet - und mit einer engen Zukunft vor sich. Kein Wunder, dass Osewoudt nicht imstande ist, so etwas wie eine bürgerliche Identität zu entwickeln. Dieses Motiv wird von Hermans knapp, aber genau ausgeformt, es ist die Grundlage der Erzählung. Die führt schnurstracks in den Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen besetzen 1940 die Niederlande. In Osewoudts Laden erscheint ein niederländischer Offizier, der sich Dorbeck nennt, und vertraut ihm einen Film zum Entwickeln an. Er ähnelt Henri Osewoudt wie ein Ei dem anderen. Osewoudt legt das freilich zu seinen Ungunsten aus:
Sie sind genau so groß wie ich, sagte Osewoudt, und mich haben sie bei der Musterung für untauglich erklärt.
Mich beinahe auch. Aber ich habe mich gereckt.
Dorbeck lachte. Seine weißen Zähne waren so gerade und lückenlos, dass es den Anschein hatte, sein Gebiss bestünde aus zwei Elfenbeinklingen. Er hatte schwarzes Haar, und um sein Kinn lag ein blauer Schatten aus Bartstoppeln. Die Haut seiner Wangen wirkte dadurch um so weißer, doch unter den Backenknochen glühte es rötlich. Seine Stimme klang wie der Schlag einer Bronzeglocke.
Osewoudts Frau Ria bemerkt die Ähnlichkeit zwischen den beiden und stellt nicht eben liebevoll fest:
Er sah genauso aus wie du, es war wie das Negativ und das Positiv von einem Foto. () Du ähnelst ihm, wie ein misslungener Pudding einem ... was weiß ich ... einem gelungenen Pudding ähnelt. Zum Totlachen.
Das letzte Wort ist von Hermans gewiss mit Bedacht gesetzt. Osewoudt wird seine Frau später umbringen, als sie ihn belügt und verrät. Offenbar hat Dorbeck, der sofort nach der Besetzung des Landes in den Widerstand geht, gleich gesehen, dass er Osewoudt, seine schwächere Ausgabe, zu einem Werkzeug machen kann. Dorbeck wird als rücksichtsloser Patriot gezeigt, der sich allen Gesetzen entrückt weiß. In Rotterdam lässt er zwei deutsche Soldaten erschießen und wird daraufhin gesucht. Bezeichnend für die Darstellung ist nun, dass wir nicht "die" Wahrheit erfahren, die ist in einem Krieg nicht zu haben: Dorbeck meint, die beiden als Brandstifter identifiziert zu haben; für die Zeitung, also für die andere Seite, war es ein völkerrechtswidriges Verbrechen. In dieser Ambivalenz werden fast alle Geschehnisse dieses Romans gehalten. Legitimer Widerstand paart sich mit der Kleine-Jungenslust am Heimlichen, am Gefährlichen, am Destruktiven.- Dorbeck verlangt von Osewoudt, dass er eine Dunkelkammer einrichtet und für ihn Filme entwickelt. Drei Aufnahmen gelingen, sie spielen eine Rolle als Erkennungszeichen im Untergrund. Später erfahren wir, dass auch der deutsche Geheimdienst mit ihnen arbeitete. Mit einem der Fotos meldet sich eine junge Niederländerin, Elly aus England, bei Osewoudt. Sie ist schlecht informiert, nachlässig ausgestattet, naiv - ein harter Seitenhieb gegen den nach 1945 hochtönenden Widerstand. Ihr Auftrag: Informationen bei einem Bahndirektor in Utrecht einzuholen. Der verrät sie prompt an die Deutschen, und sie wird liquidiert, ein erstes Opfer auf dem Widerstandsweg von Henri Osewoudt. - Inzwischen ist es, erst auf Seite 50, schon 1944 geworden, eine höchst gekonnte Raffung. Osewoudt kehrt von einem konspirativen Ausflug zu seinem Haus, dem fast leeren Laden, zurück und sinniert:
Ganz vom, direkt hinter der Gisscheibe, stand das Schild:
AUSSTELLUNGSMATERIAL OHNE INHALT
Als ob ich einen Laden für Ausstellungsmaterial hätte, dachte er, alles, was ich zur Schau stelle, ist leer, ohne Inhalt. Ein Tabakwarenhändler, eine hässliche und geizige Frau, sieben Jahre älter als er, die Frau betrügt ihn, die Mutter ist geisteskrank, der Vater wurde ermordet, zum Glück. Ich habe es nicht getan. Schade. Was bleibt für mich zu tun? Unter der Ladentheke liegen eine Leica und eine Pistole. Aber ich weiß nicht, was ich fotografieren soll, und keiner sagt mir mehr, wen ich erschießen soll. Alles geht wie von selbst, alles ist schon geschehen. Alles, was ich unternehme, bleibt folgenlos. Vier Jahre hat Dorbeck nichts mehr von sich hören lassen, und auch jetzt bleibt er unsichtbar.
Immerhin meldet sich Dorbeck bald nach dieser Klage. Osewoudt bekommt Aufträge, er wird daraufhin gesucht und muss untertauchen. Seine Frau und seine kranke Mutter werden verhaftet. Er lässt sich von einer Friseuse Marianne die Haare färben, und zwar schwarz:
Plötzlich sah er es: Dorbeck! Er war von Dorbeck nicht mehr zu unterscheiden! Die gleichen schwarzen Haare, das gleiche blasse Gesicht mit rosigen Wangen. Hätte ich immer schwarzes Haar gehabt, wäre mein Leben anders verlaufen, auch ohne Bart, dachte er. Ein Mann, der erscheint und verschwindet, wann es ihm passt, nur dem eigenen Willen verpflichtet, ein Mann, vor dem die Welt sich verneigt.
Jedenfalls stellt Osewoudt fest: "Dorbeck hat einen anderen Menschen aus mir gemacht." Hermans spielt hier das Thema weiter, das in der gesellschaftskritischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, etwa bei Balzac oder Brecht, von zentraler Bedeutung war: die Disponibilität des Menschen. Charakter als "eingeritzte", konstante Mitgift des Subjekts ist hiernach kein zureichendes Denkmodell. So war im Entfremdungsbegriff die Nichtübereinstimmung des Subjekts und seines Handelns gedacht: "Denn das Ich ist ein anderer", hieß es bei Rimbaud. Hermans dreht die Schraube etwas weiter: Das 20. Jahrhundert ist für ihn nicht zu erklären, ohne dass wir den Hunger nach Fremdbestimmung mitdenken, der es charakterisiert. Gleichwohl legt er seinen Osewoudt komplexer an. Er stattet ihn mit einem anarchischen Freiheitswillen aus, was der Figur doch ein gewisses Relief gibt. Osewoudt erklärt sich gegenüber seiner Geliebten, der Friseuse:
Wer weiß schon genau, warum er gegen die Deutschen arbeitet. Die Pfarrer in London, die sicher hinter dem Mikrophon sitzen, die wissen es genau. Für das Recht und die Religion und das Vaterland und die Königin. Aber das sind alles Dinge, die mir nichts sagen. Ich bin nur gegen die Deutschen, weil es unsere Feinde sind, weil ich mich weigere, mich einem Feind zu ergeben. () Das einzige, was ich nicht will, ist ausgebeutet werden, ich will nicht tun, was ein anderer sagt, den ich nicht um Rat gebeten habe. Ich habe die Deutschen um überhaupt nichts gebeten. Deshalb müssen sie vernichtet werden. So einfach ist das.
Die Verschränkung der beiden Motive, des ehrbaren (= patriotischer Wider-Stand gegen die 'Motten') und des anrüchigen (= endlich bekommt man einen Ausweg aus seiner Gewöhnlichkeit gewiesen), die Verknüpfung dieser beiden Motive ist höchst brisant. Hermans legt so die Lunte an den niederländischen 'Heroismus' und zeigt, wie sich das Gewaltprinzip verselbständigen kann, ja sogar überall die Tendenz hat, sich aus seinen Begründungen zu lösen.
Die Ideologien, so Hermans, werden verwechselbar, wo sie an die Bestie Mensch appellieren. Osewoudt ermordet - immer im Auftrag, den er gelegentlich auch ausdehnt, kaltblütig, gedankenlos wie eine Maschine, jeden der ihm als Ziel bezeichnet wird bzw. sich ihm entgegenstellt. Ein paar Beispiele. Ein Kollaborateur, Lagendaal, soll umgelegt werden; zuvor wird der Sohn abgeholt. Als eine Jugendführerin des NSB, der niederländischen Nationalsozialisten, dabei auftaucht, reagiert Osewoudt blitzschnell:
Zuerst sah er sie lächeln, dann öffnete sie den Mund, aber ehe sie schreien konnte, hatte er die Hände schon um ihren Hals gelegt. Es ging so schnell, dass ihre Köpfe zusammenstießen und sie fast gleichzeitig stürzten. Beim Fallen griff er ihr am Hinterkopf ins Haar. Er war ein Stückchen an ihr vorbeigeschossen, so dass sie auf ihn fiel, aber seine Füße, dicht nebeneinander, stemmten sich bereits gegen ihren Bauch. Er streckte die Beine und hielt ihren Kopf noch immer fest. Sie flog durch die Luft und prallte hinter ihm auf den Boden. Die Mütze saß fest auf ihren Haaren. Ihre Augen starrten halb zugekniffen nach oben, die Zunge hing ihr aus dem Mund. Am Wegrand lag ihre Tasche.
Als Osewoudt ins Haus kommt, erledigt er (anders kann man es nicht nennen) erst einmal die Frau, dann den Mann, der ihm von Dorbeck als Verräter bezeichnet war:
Als er eintrat, schien es in der Küche dunkel zu sein, er sah nur die Flamme eines Petroleumkochers, und eine Frau drehte sich zu ihm um. Ehe sie einen Laut von sich geben konnte, kniete sie bereits auf dem Boden. Er hielt ihren Hinterkopf an den Haaren fest und brach ihr an der Spülsteinkante das Genick. Dann ließ er sie zu Boden fallen. Eine Tür stand offen. Er trat in einen dunklen Flur.
Kurz darauf wird der Mann erschossen, um den es ja eigentlich ging, ebenso eine sehr genau beschriebene Szene, in der vor allem auf die Einzelheiten geachtet wird. Mit dem Rad des Opfers fährt Osewoudt davon:
Er blickte wieder nach vom. Er sah, dass die Telefonleitungen plötzlich aufhörten und wieder anringen. Er hätte nicht einmal mehr genau gewusst, wo die ermordete Jugendführerin lag. Wenn er kräftig in die Pedalen trat, kam er trotz allem einigermaßen schnell voran. Dort war bereits die Asphaltstraße. Behaglich ließ er sich auf den Sattel fallen und nahm eine Hand vom Lenker. Er schaute sich nach allen Richtungen um und pfiff Mit dir war es immer so schön.
Es dauert nicht lange, und Osewoudt wird von den Deutschen gefangen und verhört. Das beginnt pseudo-freundlich, man will ihn zur Mitarbeit bewegen:
Über uns wird alles mögliche verbreitet, Meneer Osewoudt, aber Sie verstehen sicherlich, dass wir nicht das geringste Interesse daran haben, als Henker und Barbaren aufzutreten! Wem sollte das nützen? Wir respektieren Sie, wie man einen Feind auf dem Schlachtfeld respektiert! Allerdings müssen Sie sich darüber im klaren sein, dass der Kampf in Ihrem Fall vorbei ist. Sie und ich, wir müssen jetzt miteinander ins Gespräch kommen! Ein ganz normales Gespräch von Mensch zu Mensch! Gibt es etwas Schöneres auf dieser Welt als das Gespräch? () Lassen Sie uns doch menschlich sein! Bei uns ist es nicht das unabwendbare Schicksal des Verlierers, aufgefressen zu werden.
Als Osewoudt alles leugnet, verändert sich die Situation. Der so menschliche Kommissar beginnt zu drohen und zu schlagen. Recht demoliert landet Osewoudt in seiner Zelle, hat aber nichts preisgegeben. Irgendwann darf er, als Verbindungsmann, über den man an Dorbeck herankommen möchte, ins Krankenhaus. Die Bilanz aus den Verhören ist für Osewoudt trist:
Wem kann man noch trauen, wem nicht? Jeder betrügt jeden." Aber gilt das nicht auch für Osewoudt, der so gern in die Rolle von Dorbeck schlüpft und dann zur Hyäne wird? Seiner Freundin bekennt er:
Wirklich, Dorbeck könnte mein Zwillingsbruder sein. Es ist unfassbar, wie zwei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, sich so ähneln können, aber es ist so. - Als ich ihn zum erstenmal sah, dachte ich: So wie dieser Mann ist, so müsste ich sein. Verstehst du, es ist gar nicht so leicht, das auszudrücken, aber ich meine so ungefähr wie in einer Fabrik, wo ein bestimmter Gegenstand hergestellt wird: Hin und wieder misslingt einer, ein zweiter wird gemacht, der in Ordnung ist, und das misslungene Exemplar wird weggeworfen. () Ich habe nie gewusst, dass ich das misslungene Exemplar bin, bis ich Dorbeck begegnet bin. Von da an wusste ich es. Von da an wusste ich, dass ich im Vergleich mit diesem Mann keine Existenzberechtigung hatte, dass ich mich nur zu einem annehmbaren Menschen entwickeln konnte, indem ich genau das tat, was er wollte. Ich habe alles getan, was er von mir verlangt hat, und das ist nicht wenig ... nein, nicht wenig...
Eine Psychologisierung wird erst später stattfinden, als Osewoudt von den Alliierten, dann den Niederländern gefangengehalten und verhört wird. Vorher findet Osewoudt immerhin die Liebe einer untergetauchten Jüdin, das gemeinsame Kind stirbt bei der Geburt, noch am 4. April 1945. Osewoudt rächt sich auf die ihm eigene Art. Er ist als Krankenschwester verkleidet; ein deutscher Offizier nimmt ihn im Wagen mit und macht, angetrunken, einen Annäherungsversuch bei der vermeintlichen Schwester, wird kurzerhand erstochen. Osewoudt selbst betrachtet sich gleichwohl nicht als Held, sondern als Opfer. Es beginnt ein höchst spannend erzähltes Hin und Her von Festnahmen und Fluchten, dazu eine Reihe von Verhören, die je nach Kommissar sehr verschieden ausfallen. Jedenfalls scheinen die Deutschen seine Beteuerung, dass er nicht für alle zur Last gelegten Taten verantwortlich ist, ernst zu nehmen. Sie gehen von der Existenz des Doppelgängers als Tatsache aus. Für die Erzählung ist es wichtig, dass wir das auch tun. Sonst bekommt man die kritisch-sarkastische Pointe des Schlusses nicht mit, der darauf hinausläuft, dass Osewoudt seine skandalöse Kriegswirklichkeit ausgeredet werden soll.
Die letzten hundert Seiten des Romans sind den Monaten nach der Befreiung gewidmet. Es gibt wenig Autoren, die so raffiniert und souverän wie Hermans mit Zeitraffungen und Zeitdehnung umgehen können. Osewoudt wird verhaftet, gilt nun als Spion der Deutschen, der den Widerstand verraten haben soll. Und in dem konzentrierten Rückblick, den die neuen Verhöre erbringen, erscheint das fast als eine mögliche Lesart. Wie Osewoudt selbst schon früher festgestellt hat, sind beinahe alle, mit denen er in Berührung kam, umgekommen. Das gilt auch für mögliche Entlastungszeugen, das gilt sogar für Häuser und Gegenstände. "Es kommt mir so vor", klagt er, "als ob ich in einer anderen Welt leben würde, in der mir niemand glauben kann." Alles hängt für Osewoudt daran, dass Dorbeck gefunden wird, den man für eine Schutzbehauptung ansieht. Schließlich hat man nicht nur eine Leiche gefunden, die Dorbeck sein könnte, sondern auch seinen Zahnarzt Selderhorst; der hatte Dorbeck, der eigentlich Jagtman hieß, früh behandelt und verfügte noch über dessen Kartei. Wie es sich versteht, scheitert die Identifizierung:
Ganz hinten lag die Leiche, die der Leutnant meinte. Ein Kreuz aus roter Mennige war auf dem hellblauen, aufgedunsenen Bauch. Die Augen waren geöffnet, aber die Augäpfel verschwunden. An den Wangen klebte ein dünner, schwarzer Bart. Auch das Kopihaar war schwarz.
Ist das Dorbeck? fragte Selderhorst.
Osewoudt zögerte.
Der Zahnarzt ging in die Hocke, setzte den Spatel zwischen die geschlossenen Kiefer des Toten und stemmte den Mund auf. In der anderen Hand hielt er die Taschenlampe.
Das reicht schon! rief er und richtete sich wieder auf. Er hat keinen einzigen Zahn mehr im Mund!
Es sind hart ausgeleuchtete Szenen, die Hermans uns liefert. Entsprechend dem Thema fehlt jede Gemütlichkeit. Indem er seinen Helden von vornherein als einen Antihelden präsentiert, können wir auch nichts anderes erwarten. Dafür belohnt uns der Roman mit einer atemberaubend interessanten Konstruktion, einem spannenden Verlauf, wie ihn kein Krimi-Autor genauer entwickeln kann, einer Unzahl von genau ausgeleuchteten Bildern (Hermans war auch als Fotograf bedeutend) und einem philosophisch-sarkastischen Blick auf Kriegsund frühe Nachkriegszeit in den Niederlanden.
Indem Dorbeck unfindbar bzw. nicht identifizierbar ist, geht Osewoudts Wahrheit - ironisch genug - ein weiteres Mal in Erfüllung: "Ohne Dorbeck bin ich nichts." Hermans zeigt satirisch, wie man in der Nachkriegszeit mit so einem Fall umgeht. Die Psychiatrie wird aufgerufen, Osewoudt seine 'Einbildung' Dorbeck auszureden. Ein Pater wird aufgeboten, er soll Osewoudt dazu bringen, seinen Frieden mit der Gegenwart zu machen, der aber bricht aus:
...sie halten mich ja nicht fest, weil Dorbeck unauffindbar ist, sondern weil ich eine hohe Stimme habe wie ein Kastrat, ein Gesicht wie ein Mädchen und keinen Bart. In meinem Aussehen war ich mein Leben lang gefangen, mein Aussehen hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Das ist die Lösung des Rätsels.
Der Pater kann damit nicht umgehen, Osewoudts Selbst-Kritik stellt ja auch einiges an seiner Gottesordnung in Frage. Der geistliche Vorschlag: sich auf die Gnade Gottes zu verlassen. Osewoudt setzt sozusagen eine existentialistische Argumentation dagegen, und wir erkennen die frühe Nachkriegszeit, für diese Auseinandersetzungen typisch waren: Wolfgang Borchert und Camus etwa gegen Bergengruen und Thornton Wilders "Brücke von San Luis Rey": die Unüberbietbarkeit der individuellen Erfahrung gegen den Versuch einer Beschwichtigung mit Glaubenstraditionen. Hermans setzt ganz zentral die Individualität, die spezielle Verfassung seines befremdlichen Helden ein, weil daran alle Normalisierungskampagnen scheitern müssen. Die Schlussszene, seine von Osewoudt selbst provozierte Erschießung und sein Verenden im Krankenhaus, gehört zu den grandiosesten Szenen der niederländischen Literatur. Cees Nooteboom hat in seinem Nachwort die Weltanschauung und Poetik von Hermans in den Sätzen von Graa Boomsma zusammengefasst gefunden:
Der Krieg ist die dankbare Kulisse, vor der Hermans seinem Hauptthema - die Welt, die Geschichte und der Mensch sind unerkennbar - immer wieder Gestalt verleiht. Alles beruht auf Zufall, Mutwillen oder Missverstand, es gibt keine regulierende Moral, die zu guter Letzt eine humanistische Weltordnung herbeiführt. Chaos ist und bleibt das einzige wahre Wort, die Betrüger sind gleichzeitig die Betrogenen, Gutgläubigkeit und Arglosigkeit stehen Argwohn, Misstrauen und Paranoia gegenüber. Der Krieg zwischen den Menschen, die sich gegenseitig einfach nicht ergründen können und wollen, hört nie auf.
Das war nicht die Botschaft, die man 1958 hören wollte. Vielmehr sollte eine möglichst heroische Darstellung des Widerstandes von der recht massenhaft betriebenen Kollaboration und den sog. Polizeiaktionen, den Völkerrechtsverletzungen in Indochina ablenken. Die Niederlande verstanden sich als Musterbild eines antifaschistischen Staates, dachten z.B. auch kaum über die Herausgabe konfiszierten jüdischen Besitzes nach. So wirkte das Buch von Hermans wie ein Pfahl im Fleische. Es gab sehr bald wirksame Entmächtigungsstrategien - es wurde zum Klassiker erklärt, ungerecht im Ansatz, aber glänzend geschrieben. Immerhin sind so ja auch Böll und Andersch bei uns zum Schullesestoff geworden. Für die kritische Intelligenz in den Niederlanden und für die Stimulierung vergleichbar der Wirkung des frühen Gerard Reve oder der Bewegung der Vijftiger, die in den fünfziger und sechziger Jahren eine kleine Literaturrevolution zustande brachten; die hatte auch gesellschaftliche Auswirkungen, die Niederlande wurden nachdrücklich angeschubst, sich kulturell in die Moderne zu begeben. - Für uns als Hermans-Leser sind diese Zusammenhänge freilich weniger wichtig, ist es doch ein ungeheuer gut geschriebenes, ingeniös konstruiertes Buch (Leon de Winter hat daraus gelernt), das man nicht schnell aus der Hand legt. Wie kein anderes macht es den Anspruch von Hermans wahr, der Schriftsteller habe prinzipiell nonkonformistisch zu sein.