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Die dunkle Seite der Musik

Musik hat auch eine zerstörerische Seite. So wurden im US-Gefangenenlager in Guantanamo Bay Häftlinge mit Liedern stundenlang und in extremer Lautstärke beschallt. Auch in KZs diente Musik der Folter. In Göttingen diskutierten Forscher über die Rolle von Musik in Gefangenschaft.

Von Jakob Epler | 21.03.2013
    Musik hat eine dunkle und zerstörerische Seite. Das bekannteste Beispiel jüngerer Zeit stammt aus dem US-amerikanischen "Krieg gegen den Terror". Unter anderem im US-Gefangenenlager in Guantanamo Bay wurden Häftlinge mit Rock- und Popsongs stundenlang und in extremer Lautstärke beschallt. Diese Musikfolter gehört zum Repertoire der sogenannten no-touch-torture, einer berührungslosen Folter. Schmerzen und psychisches Leid sollen entstehen, ohne dass das Opfer angefasst werden muss. Dazu werden Menschen in schmerzhafte Körperhaltungen gezwungen, dürfen tagelang nicht schlafen oder werden eben mit lauter Musik beschallt. Das alles soll sie dazu bringen, Informationen preiszugeben.

    Wer stundenlang lauter Musik ausgesetzt ist, fühle sich absolut machtlos und gerate in psychischen Stress, sagt Suzanne Cusick. Sie ist Professorin für Musikwissenschaften an der New York University und hat für ihre Forschung mit ehemaligen Guantanamo-Häftlingen gesprochen.

    "Ich sagte einem Mann, den ich interviewte, ich sei interessiert am Einsatz von Musik als psychologischer Folter. Er sprang daraufhin geradezu über den Tisch und meinte: 'Es ist auch physisch! Wenn es vorbei ist, fühlt es sich so an als sei man mit einem Hammer geschlagen worden!' Und natürlich stimmt das. Musik kann man nicht entrinnen. Sogar wenn man taub ist, fühlt man sie. Wenn sie laut genug ist, fühlt man sie im Gesicht, auf der Haut und in den Knochen. Diese Folter hat etwas bösartig Geniales: Wenn wir diese Menschen laut genug mit Musik oder Klang beschallen, dann schlagen sie sich selbst mit ihren Knochen, die im Einklang mit der Luft schwingen."

    Gefoltert wurde in Guantanamo mit Songs von Künstlern und Bands wie Christina Aguillera, David Grey oder Metallica. Die Bandbreite ist groß. Die Auswahl war in vielen Fällen willkürlich. Es wurde eben das durch die Boxen gejagt, was Soldaten oder Verhörspezialisten gerade auf ihren mobilen Musikabspielgeräten dabei hatten, vermutet Suzanne Cusick. Ein zentrales Motiv gibt es aber dennoch, meint Juniorprofessorin Morag Josephine Grant, die in Göttingen die Forschergruppe Musik, Konflikt und Staat leitet. Sie glaubt, …

    "… dass die amerikanische Popularmusik, die in ihrer gesamten Bandbreite in dem Fall eingesetzt war, quasi wie der Feind erscheint. Also, das ist eben die westliche Kultur, also alles, wogegen diese Menschen vermeintlich dann auch gekämpft haben. Und so, in der Situation ist es eben nicht nur als bloßer Klang oder Rauschen zu verstehen, sondern tatsächlich auch als eine weitere Methode, um die kulturelle Überlegenheit der US-Kräfte in dieser Situation zu zeigen."

    Zu dieser Erniedrigung gehörte auch, dass in Guantanamo Bay vermeintlich fundamentalistischen Moslems Musik mit sexualisierten Texten vorgesetzt wurde.

    Dass mit Musik gefoltert, bestraft und erniedrigt wird, ist keine neue Entwicklung. Morag Josephine Grant vermutet, dass Menschen bereits seit Jahrtausenden Musik auch destruktiv einsetzen.

    Für ein besonders dunkles Kapitel der Musikfolter ist das nationalsozialistische Deutschland verantwortlich. In Konzentrations- und Vernichtungslagern hat Musik generell eine wichtige Rolle gespielt. Am Bekanntesten sind wohl die Häftlingsorchester von Auschwitz. Dr. Katarzyna Naliwajek-Mazurek forscht an der Universität Warschau dazu, wie Musik in den Lagern eingesetzt wurde.

    "Die Nazis benutzten Musik vor allem zu ihrer eigenen Unterhaltung und um Häftlinge zu foltern und zu degradieren. Unter den grauenhaften Bedingungen der Vernichtungslager wie Treblinka oder Sobibor mussten sie dann singen oder ein Musikinstrument spielen."

    Stundenlanges Singen oder Musizieren ist körperlich anstrengend, besonders für Menschen, die mangelernährt und entsprechend schwach sind. In den Konzentrationslagern wurden Menschen aber nicht nur zum Singen gezwungen. Es habe auch einen "musikalischen Sadismus" gegeben, sagt Barbara Milewski vom Swarthmore College in Pennsylvania. Das heißt, dass Musik auf grausame Art und Weise benutzt wurde, um den Tätern Vergnügen zu verschaffen. Zur körperlichen Gewalt kam dann die Erniedrigung durch die Lieder. Barbara Milewski schildert den besonders perfiden Fall eines Klezmermusikers, der von der SS massiv missbraucht wurde.

    "Die SS-Befehlshaber wollten eine Party feiern. Sie ließen ihn drei Tage lang hungern. Am vierten Tag sollte er in den Partyraum kommen. Er musste sich auf einen Tisch stellen, dann drückten sie ihm ein Akkordeon in die Hand. Er war ein ausgebildeter Akkordeonspieler. Und dann zwangen sie ihn, den deutschen Durchhalteschlager 'Es geht alles vorüber' zu spielen. Als er mit seinem Akkordeon dieses und andere Lieder spielte, zwangen sie ihn, sich vorn über zu beugen und missbrauchten ihn, indem sie ihm eine Kerze in sein Rektum einführten. Daran zündeten sie sich dann ihre Zigaretten an."

    Barbara Milewski hat diese Grausamkeit in einem Text des polnischen Journalisten und Musikers Aleksander Kulisiewicz gefunden. Kulisiewicz wurde selbst 1939 von der Gestapo verhaftet und später in das KZ Sachsenhausen nahe Berlin verschleppt. Er führte nach Kriegsende Interviews mit überlebenden KZ-Häftlingen. Dabei stieß er auf viele Fälle wie den des Akkordeonspielers.

    Kulisiewicz sammelte aber nicht nur Beweise für den musikalischen Sadismus der Lagerbesatzung. Bekannt wurde er vor allem, weil er Lieder dokumentierte, die seine Mitgefangenen geschrieben hatten. Musik war im KZ auch ein Versuch, sich vor dem Wahnsinn zu retten. Sie hatte also nicht nur die brutale und zerstörerische Seite. Aber es kam darauf an, wer sie wann, in welcher Situation und wie einsetzte. Katarzyna Naliwajek-Mazurek.

    "Auf der anderen Seite hatte Musik eine eigene Bedeutung für die Häftlinge, die war völlig anders. Musik war für sie ein Mittel, an der eigenen Identität festzuhalten, der Identität, die dazu bestimmt war, von den Wächtern ausgelöscht zu werden. Aber die Häftlinge schafften es, ihre Identität zu behalten oder wieder zu erschaffen, indem sie sich gegenseitig Lieder vorspielten."

    Geduldet war diese Form des Widerstands allerdings nicht. Wenn KZ-Häftlinge ihre eigene Musik spielten, mussten sie bei Entdeckung damit rechnen, hart bestraft zu werden.