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Die dunkle Seite der Sexualität

In der Schweiz sorgt derzeit eine Fotoausstellung für Wirbel. Zu sehen ist sie in einem der wichtigsten Fotomuseen Europas, und das steht ausgerechnet in der beschaulichen Kleinstadt Winterthur. Zu sehen sind Fotografien, die sich mit dem Thema "Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität" auseinandersetzt. Schmal ist der Grat hin zur Pornografie - in Winterthur aber gelingt es, die Balance zu halten.

Von Christian Gampert |
    Ende der 1960iger Jahre konnte man mit schwülen Tönen und ein bisschen Lustgestöhne noch Skandal und Karriere machen, heute ist das schon viel schwieriger. Jeff Koons gelang 1991 noch einmal ein Coup, als er sich ejakulierend über seiner damaligen Lebensgefährtin zeigte, dem italienischen Porno-Star Cicciolina, und damit ins Museum kam.

    Aber: im Windschatten von APO und Hippietum hat die Porno-Industrie das sexuell erregende Bild so gründlich kommerzialisiert, dass heute jeder Zwölfjährige an der Tankstelle in einschlägigen Heften blättert, und im Internet bekommt man sowieso alles frei Haus. Was also ist die spezifische Qualität der Kunst, wenn es um die Darstellung von Sexualität geht, gar um deren dunkelste Seiten?

    Die Winterthurer Ausstellung macht zunächst einmal klar: Pornografie ist ein Erregungsmuster zum sofortigen Gebrauch, und auch wenn wir nicht wissen, was die Sammler mit ihren Werken so treiben, so steht in der Kunstfotografie doch der formale Aspekt im Vordergrund, die reflektierende Gestaltung einer möglicherweise auch verstörenden Realität.

    Wer immer sich über die zum Teil kruden Darstellungen sexueller Praktiken und Posen in diesen Bildern aufregt, der sei auf die Vielfalt künstlerischer Techniken verwiesen, mit der dieser zentrale Lebensbereich hier umkreist wird. 150 Fotografen sind - trotz schwierigster Exponat-Beschaffung - vertreten, vom verzweifelten Hedonismus der Nan Goldin bis zu Robert Mapplethorpes schwuler Klassik, von Man Rays surrealem Frauenhintern bis zu Annika von Hauswolffs leblos am Straßenrand liegendem Vergewaltigungsopfer.

    Neben der ausgeklügelten Inszenierung steht der halbdokumentarische Zugang, der freilich das voyeuristische Moment, das in der Fotografie immer mitschwingt, auch nicht ganz vermeiden kann. Die rührende Verschränkung alter Körper - bei Donigan Cummings - steht da gleichberechtigt neben den oft anonymen Aufnahmen, die das "Kinsey Institute for Research in Sex" gesammelt hat.

    Der Kurator Urs Stahel beginnt mit dem Dunkel und seinen Verlockungen, den verhangenen Beschreibungen der nächtlichen Stadt - meist ist es das Paris von Brassai - mit ihren Prostituierten und Bars, geht dann über zu den Momenten der Wollust und Ekstase - am eindrucksvollsten und seltsamerweise auch respektvollsten sind die lakonischen "Hard Shots" der Aura Rosenberg, Männergesichter im Moment des Orgasmus - und bewegt sich fort zu idealischen oder ins Groteske gezogenen Körper-Inszenierungen, also etwa der Monte-Verità-Freikörperkultur oder Hans Bellmers Puppen.

    Dann: Fetischismus, Voyeurismus, die feministische Revolte, Sex und Geld. Die eher verstörenden Bilder sind in Kabinetten untergebracht, Miron Zownirs Toiletten-Quickie oder Wolfgang Tillmanns "Stiefelknecht".

    Als Gustave Courbet 1866 unter dem Titel "L'Origine du Monde", der Anfang der Welt, die wollüstig gespreizten Schenkel einer Frau malte, galt das den Sittenwächtern als pervers - aber es war nur der Traum eines Malers von Sex und Schönheit. Heutige Künstler, zumal Fotografen, haben ungleich mehr Freiheiten - und doch zeigen ihre bizarren Inszenierungen, dass Sexualität jetzt vor allem als Leiden empfunden wird, als wüste Technik, um sich selbst zu spüren; quasi-chirurgisch aufgeklappte Schamlippen bei Nobuyoshi Araki, schmerzhaft abgeklammerte Körperteile bei Francesca Woodman, Transvestitentum und Fetischismus bei Pierre Molinier.

    Am bösesten treibt es ein Video der israelischen Künstlerin Sigalit Landau, das die Abteilung "Sexualität und Macht" einleitet: sie lässt minutenlang eine riesige Stacheldraht-Krone um ihre nackten Hüften kreisen, wie einen Hoola-Hoop-Reifen; aber das hat auch einen politischen Subtext.

    Unschärfe und Verfremdungen, übergroß inszenierte Details wie Münder oder Schamhaare, perspektivische Verzerrungen, schwarzweiße Lakonie oder grelle Buntheit: auch formal ist das eine vielfältige Ausstellung. Und doch: die hier gezeigten Bilder aus der Sado-Maso-Kultur dürften ein eher harmloser Einblick sein in eine Welt, die weitaus brutaler ist als die hier präsentierte.

    Infos:

    fotomuseum.ch