Rainer Burchardt: Rudolf Scharping, geboren am 2. Dezember 1947 in Niederelbert, Westerwald. Von 1991 bis 1994 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. SPD-Vorsitzender von 1993 bis 1995. Kanzlerkandidat 1994. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion von 1994 bis 1998. Von 1998 bis 2002 Bundesverteidigungsminister. Jetzt Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR). Rudolf Scharping ist in zweiter Ehe verheiratet und hat drei Töchter aus erster Ehe.
Rudolf Scharping: Mein Vater war keiner, der darüber viel geredet hätte.
Burchardt: Das Nachkriegskind.
Rainer Burchardt: Herr Scharping, Sie sind 1947 geboren, wenn man das so sagen darf, im tiefsten Westerwald aufgewachsen, dann nach Lahnstein gezogen, Sie haben sieben Geschwister, eine große Familie.
Scharping: Sechs Geschwister.
Burchardt: Sechs Geschwister. Was sozialisiert einen eigentlich in so einer auch landschaftlich doch eher konservativen Gegend für die SPD oder für die Arbeiterschaft? Sie sind unter anderem ja auch Mitglied der Arbeiterwohlfahrt.
Scharping: Das sind so Kindheitserfahrungen, die haben aber nichts mit Landschaft zu tun, sondern mit Aufstiegshoffnungen, mit Ungerechtigkeiten, nur sehr begrenzt mit dem Elternhaus, viel mehr mit dem Freundeskreis. Und manchmal ist das ja ganz einfach und banal. Also in der Mitte der 60er Jahre, ich war 15, als John F. Kennedy ermordet wurde, dann wurde kurz darauf Willy Brandt Außenminister und der, wie viele andere in der SPD, über die heute kaum noch jemand redet, weil es war eine faszinierende Mannschaft mit einem sehr überzeugenden Vorsitzenden. Und ob die jetzt Möller oder Schiller oder Adolf Arndt oder Gustav Heinemann heißen, also die SPD hatte damals eine sehr überzeugende, sehr starke Mannschaft, und Frauschaft. Ich kam ins Gymnasium, da gab es Schulgeld. Und damals war ich der Meinung, das ist bitter ungerecht, weil du musst jetzt hier Noten bringen, sonst wird das Schulgeld nicht erlassen. Wird es nicht erlassen, werden dich deine Eltern von der Schule nehmen, weil sie es nicht bezahlen können. Das heißt, das ist, die prägende Kindheitserfahrung ist nicht die Schönheit einer Landschaft oder die Annehmlichkeiten einer Kleinstadt, sondern die ungewöhnlich bedrängten wirtschaftlichen Verhältnisse in einer so großen Familie. Andererseits, die Fähigkeit und der Wille, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Burchardt: Konrad Adenauer, der 1957 die absolute Mehrheit für die Union in Deutschland holte, residierte auch in Ihrem Bundesland, in Rheinland-Pfalz, Sie waren damals zehn Jahre alt. War Adenauer nicht auch irgendwie für Sie faszinierend?
Scharping: Ja natürlich. Überhaupt Politik war viel faszinierender, als sie manchmal heute daherkommt. Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Nachkriegszeit und diese Barbarei des Hitlerismus eben doch Charaktere hervorgebracht hat, die für sich standen, die nichts, oder jedenfalls nicht viel, erklären mussten. Und andere sind umgekommen, wie Stauffenberg und Goerdeler und Julius Leber, und so weiter. Also viele, viele Menschen, die Deutschland in einem überzeugenden Wiederaufbau auch gut hätte gebrauchen können. Aber das ist das Ergebnis dieser millionenfachen Barbarei. Und deswegen, um das zu sagen, war es mir später auch so wichtig, den 20. Juli in Berlin im Bendlerblock, an dem Ort, an dem Stauffenberg und andere erschossen wurden, zum Tag und zum Ort eines öffentlichen Gelöbnisses von Soldaten der Bundeswehr zu machen, um zu verdeutlichen, dass diese beiden Dinge zusammengehören: Die Tradition des Widerstands, die Rettung der Würde unseres Landes, und die Bundeswehr mit ihren heutigen Aufgaben in einer völlig veränderten Welt.
Burchardt: Sie haben einen riesen Sprung gemacht, aber ich nehme den gerne an. Wir kommen auch wieder zurück auf Ihre Jugend. Gerade jetzt gab es ein öffentliches Gelöbnis vor dem Reichstag. Haben Sie das für richtig platziert gehalten, vor der Tradition dessen, was Sie gerade erwähnt haben?
Scharping: Ja, ich habe mich auch sehr dafür eingesetzt. Der Spannungsbogen heutzutage, nach zehn Jahren öffentlicher Gelöbnisse im Bendlerblock, also dort, wo Stauffenberg erschossen wurde, das ist heute eine andere Umwelt. Wir haben den Kosovokrieg hinter uns, das Balkanengagement, vielfältige andere Friedenseinsätze, nicht zu vergessen das Horn von Afrika oder Afghanistan. Die Bundeswehr ist Parlamentsarmee. Und die Tradition der preußischen Heeresreform hat die Tradition des Widerstands durch den 20. Juli am Ort des Parlamentssitzes. Das halte ich für einen angemessenen Ausdruck dessen, was Streitkräfte heutzutage bedeuten und von denen Helmut Schmidt, mit Blick auf unsere Demokratie, auf unseren Rechtsstaat gesagt hat, "Ihr, die jungen Soldaten, ihr könnt sicher sein, dieser Staat wird euch nicht missbrauchen". Das war eine sehr bewegende, weil auch sehr persönliche Rede.
Burchardt: Sie sind ja nun wahrlich ein Nachkriegskind. Hat in Ihrem Elternhaus die Erinnerung an die Nazizeit noch eine Rolle gespielt, wurde das auch diskutiert am Tisch und hat das auch Ihr Bewusstsein damals schon in diese Richtung geprägt, wie Sie es eben in Richtung Stauffenberg erwähnt haben?
Scharping: Ja, es war aber mehr eine Diskussion in der Schule, manchmal auch mit Eltern anderer Schulkameraden. Mein Vater selbst hatte auch wegen seiner ersten Ehe mit einer Nichte von Nelly Sachs bestimmte, nennen wir es mal, Unannehmlichkeiten zu ertragen. Und zu den lebensgefährlichen Unannehmlichkeiten gehörte vom ersten bis zum letzten Tag, Soldat zu sein. Und mein Vater war keiner, der darüber viel geredet hätte. Ein Umstand, mit dem sich ja viele in meiner Generation oder in meinem Alter herumschlagen mussten, weil dieses Beschweigen ja nichts erklärt, nichts an Zukünftigem offen lässt oder ermöglicht. Und von daher war das kein großes Thema im Elternhaus. Hier und da schon, aber eher so am Rande.
Scharping: Man will provozieren. Das ist uns auch gelungen, sonst wäre ich ja nicht rausgeflogen.
Burchardt: Ausschluss aus der SPD.
Burchardt: Kurz darauf hatten Sie auch Funktionen in der SPD bereits. Und eben haben Sie rekurriert auf die Zeit der Großen Koalition mit Willy Brandt als Außenminister. Ausgerechnet in dieser Zeit, nämlich im Jahre 1968, sind Sie mal vorübergehend aus der SPD ausgeschlossen worden. Was war denn da der Grund und war das nicht für Sie dann auch ein Anlass, der Partei den Rücken zu kehren? Sie waren damals sowieso Vorsitzender.
Scharping: Nein, im Gegenteil, ich war Vorsitzender der Jungsozialisten in meiner Heimatstadt und im Heimatkreis und man spielte bei uns das Heeresmusikkorps Nr. 5. Ich glaube, ich habe die Zahl richtig im Kopf, aber egal. Wir dachten, warum verlangen die für ein Konzert zugunsten einer wohltätigen Einrichtung einen Eintritt? Es wäre doch besser, sie beschafften die Starfighter nicht oder legten sie still, das würde allen helfen. Die Musik wäre umsonst, die Wohlfahrt hätte mehr Geld und die Frauen müssten nicht tote Piloten beklagen. Das war der, ich will mal sagen, das war der Auslöser. Dann kommt natürlich, sagen wir mal, jugendlicher Überschwang, Unerfahrenheit und anderes dazu. Man will provozieren. Das ist uns auch gelungen, sonst wäre ich ja nicht rausgeflogen.
Burchardt: Wieso sind Sie wieder aufgenommen worden?
Scharping: Ich war 1969 im Wahlkampf bei Wilhelm Dröscher an der Nahe. Der war für mich schon deswegen faszinierend, wegen seiner politischen Überzeugung, auch, weil er sich wirklich um Menschen gekümmert hat, jeden Samstag eine völlig überlaufene Sprechstunde durchführte, und weil er, sagen wir mal, diesen Weg hinter sich gebracht hatte, Soldat und dann Kommunist und am Ende der 40er Jahre, wenn ich das recht erinnere, dann in die Sozialdemokratie eingetreten, weil er sehr früh sah, wohin das führen würde mit dem Kommunismus und diesem totalitären Anspruch. Insofern war das eine sehr stark orientierende Figur für mich und ich habe in ihm dann auch einen Mentor und Freund gefunden.
Burchardt: Würden Sie Ihn als, wie man so schön sagt, als Ziehvater, als politischen Ziehvater bezeichnen? Er galt ja auch immer als der, in Anführungsstrichen, gute Mensch von kirren.
Scharping: Ja, ihn und Hugo Brandt, den leider fast vergessenen Vorsitzenden der SPD in Rheinland-Pfalz. Aber später in ganz, ganz anderen Zusammenhängen, auch in einem ganz anderen Lebensalter, auch eine sehr große Nähe zu Willy Brandt.
Burchardt: Willy Brandt hat Sie dann ja relativ frühzeitig auch schon zu einem der drei Enkel erkoren, oder vielleicht waren es vorübergehend auch mal fünf. Hans-Jochen Vogel gehörte sogar dazu, der eigentlich doch schon im Alter schon maßgeblich fortgeschritten war.
Scharping: Eine ein bisschen lustige Vorstellung. Nein, die Erfinderin war ja eigentlich Anke Fuchs, die, ja, so, sagen wir mal, manchmal ein durchaus, heute würde man salopp sagen, loses Mundwerk hatte, und die dann auf die schmucke Riege der Enkel hinwies, und da gehörte ich dann auch dazu, obwohl ich das ziemlich lustig fand. Ich habe dann auch immer hier und da öffentlich darüber gespottet, dass ja dann meine Großmutter jünger sei, als ich selbst. Aber gut. Es war ja der Anspruch, zu sagen, die SPD hat eine sehr starke Nachwuchsriege. Das war ja auch so. Schade, dass sie dann in allerlei Umständen immer mehr auseinanderfiel und zerbröselte.
Scharping: Das alles hat die Bundesrepublik Deutschland dahin geführt, wo wir heute stehen. Ein unglaublich glückliches, ein schönes, ein Land voller reicher Möglichkeiten. Und vor allen Dingen ein in Frieden und Freiheit vereintes Land.
Burchardt: Historische Leistungen.
Burchardt: Sie haben ungeachtet Ihres vorübergehenden Parteiausschlusses, wie Sie sagten, ja auch Wahlkampf für die SPD 1969 gemacht. Da ging es auch um Willy wählen. Und letztendlich kam es dann zur ersten sozialdemokratischen Kanzlerschaft, zur sozialliberalen Koalition. Wie haben Sie die selbst empfunden, noch als eher doch Beobachter?
Scharping: Wir sind in dieser Septembernacht durch Kirn und durch Baumholder und andere und haben begeistert die Mandate herausgeschrien, die wir Vorsprung hatten …
Burchardt: Aber einen Fackelzug haben Sie nicht gemacht?
Scharping: Fackelzug nicht, aber ein schönes Fest gefeiert, eine prima Party organisiert, da habe ich meine erste Frau kennengelernt. Also, das war ein toller Abend in vielerlei Hinsicht. Und einer der, sagen wir mal für die Bundesrepublik Deutschland, man darf das ja nicht vergessen, die Wahl des Bundespräsidenten Gustav Heinemann zuvor, die Weichenstellungen in Nordrhein-Westfalen, alles Signale, die, ohne allzu viel darüber zu reden, das konnte man den Kommentatoren und den klugen Edelfedern diverser Magazine und Zeitungen überlassen, es war nur klar, die SPD hat aus Verantwortung für das Land die Große Koalition gebildet …
Burchardt: 1966.
Scharping: … Und gleichzeitig sofort auch Signale gegeben, dass das zur Bewältigung großer Aufgaben erforderlich sei, aber kein Dauerzustand. Und deswegen waren ja die sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen, die Wahl von Heinemann, vieles andere, das waren überdeutliche Signale. Wenn es irgend geht, wird Brandt das mit der FDP und mit Walter Scheel versuchen, übrigens gegen den Widerstand von Herbert Wehner.
Burchardt: Sie haben den Begriff Aufbruch genannt. Waren Sie von dem Aufbruch dann anschließend begeistert, enttäuscht, oder sahen Sie das als realistisch an? In der Ostpolitik gab es ja wirklich so etwas wie eine kleine Revolution in der internen Politik, ich sage jetzt mal Extremistenerlass, 1972 gab es ja irgendwas wie Ernüchterung.
Scharping: Ich sehe das anders. Was die Ostpolitik angeht, die Skizze der Ostpolitik findet man in einer Rede von Willy Brandt aus dem Jahr 1968 bei der Konferenz der Nicht-Atomwaffenstaaten in Genf. Und das war schon in der Großen Koalition erstens angelegt und zweitens umstritten, hat sich ja dann in der sozialliberalen Koalition und mit der Opposition aus CDU und CSU fortgesetzt. Ich hatte so ein Gefühl, ich will noch nicht mal sagen ein Urteil, aber ein Gefühl, dass dieser sogenannte Radikalenerlass der innenpolitischen Absicherung diente, um nicht gewissermaßen in der Außen-, wie in der Innenpolitik einer zu engen Kooperation mit Kommunisten verdächtigt zu werden, was ja damals bestimmte Medien, bestimmte Zeitungen mit einem, man kann ja nicht sagen liebevollen, sondern bösartigen Ehrgeiz zum Teil ausgebreitet hatten. Unbeschadet dessen, im Rückblick, die Westintegration, die mit Konrad Adenauer verbunden ist und gegen die SPD durchgesetzt wurde, die Ost- und Entspannungspolitik, die gegen die CDU/CSU durchgesetzt wurde, jedenfalls gegen fast alle, wenn man von Weizsäcker, Leisler Kiep und einige herausnimmt, die den Verträgen zugestimmt oder der Ratifizierung zugestimmt hatten, das alles hat die Bundesrepublik Deutschland dahin geführt, wo wir heute stehen. Ein unglaublich glückliches, ein schönes, ein Land voller reicher Möglichkeiten und vor allen Dingen ein in Frieden und Freiheit vereintes Land. Das wäre ohne diese beiden zentralen Weichenstellungen nicht möglich gewesen. Und dass Helmut Kohl und andere dann diese Chance beherzt ergriffen haben, das ist ebenfalls eine historische Leistung in meinen Augen, denn nie zuvor hat es ein Staat geschafft, seine Teilung zu überwinden und gleichzeitig die Grundfesten seiner äußeren Existenz zu bewahren, nämlich die europäische Integration und die Einbindung in eine Allianz der Demokratien, und dennoch ein kooperatives Verhältnis zum Beispiel zu Russland und anderen Staaten aufrechtzuerhalten und fortzuführen. Das ist eine enorme Leistung. Wir haben von meiner Kindheit gesprochen, den wirtschaftlichen Bedrängtheiten. Ich trage die nicht vor mir her wie eine Monstranz, aber wenn ich mein Leben betrachte mit jetzt 60 Jahren und einer hoffentlich gesunden Zukunft vor mir, das ist eine unglaublich glückliche Generation. 1987, Entschuldigung, wenn ich das so sage, das war ein scheiß Jahr. Ein richtiges miserables Jahr. Brandt trat zurück wegen dieser Geschichte um eine parteilose denkbare Sprecherin der Sozialdemokratie. Ich erinnere dieses eigentümliche Enkeltreffen da in Nordenstedt bei Hamburg …
Burchardt: Norderstedt.
Scharping: … Norderstedt bei Hamburg, und ich muss sagen, also, da habe ich dann so gedacht, gut, danach kam so eine Geheimsitzung auf dem Frankfurter Flughafen mit, ich weiß nicht, 500 Kameras und tausend Journalisten, jedenfalls sehr vielen. Und ich habe da nur einen einzigen Satz gesagt: "Nun habt ihr Engholm in die Sänfte gesetzt, hoffentlich wisst ihr auch, dass ihr ihn tragen müsst."
Scharping: Brandt hätte es besser verdient gehabt. Viel, viel besser.
Burchardt: Irrungen und Wirrungen in der SPD.
Burchardt: 1987, wenn wir ganz kurz mal bei diesem Norderstedter Treffen bleiben, das ist ja insofern nicht ganz uninteressant auch für Sie persönlich, weil dort ja auch, wie man nachträglich auch in vielen Büchern lesen kann, Oskar Lafontaine die Partei auch ausgetrickst hat. Die "Süddeutsche Zeitung" meldete ihn schon als Nachfolger von Willy Brandt und in letzter Minute, als sich alle schon darauf eingestellt hatten, zog er zurück, und …
Scharping: Wie immer, wie immer. Immer, wenn Verantwortung auftauchte, verschwand Oskar Lafontaine schnell hinter irgend einem Baum.
Burchardt: Haben Sie keine Langfriststrategie darin gesehen? Es war ja eine schwere Zeit für die SPD.
Scharping: Nein, wieso? Er hat 1987 den Antritt nicht gewagt. Er hat vor der Bundestagswahl 1990 den Parteivorsitz nicht wirklich angestrebt, obwohl das sinnvoll gewesen wäre, aus heutiger Sicht muss ich sagen, ein Glück, aber, wie auch immer, und ist dann nach der Bundestagswahl, was ich in einem gewissen Umfang verstehen kann wegen dieses Messerattentats, dann aber wiederum in den Büschen verschwunden oder auf den saarländischen Hügeln, um von dort aus das Reich zu kommentieren, und so weiter, und so weiter. Nein, ich glaube, für die Sozialdemokratie war viel entscheidender in der Zeit nach der Bundestagswahl, und bei 1987 darf man nicht vergessen, verlorene Bundestagswahl, aber eben auch verlorene Landtagswahl in Hessen, ein sozialdemokratisches Stammland. Weg. Erneut weg. Und, und das war schon sehr hart. Und in diesen Umständen die SPD in Rheinland-Pfalz stabil zu halten und eine Chance zu eröffnen, die wir dann 1989 bei den Kommunalwahlen, 1991 bei den Landtagswahlen dann tatsächlich auch realisieren konnten, das war schon eine tolle Leistung.
Burchardt: Wollen wir noch mal rekurrieren auf die Rücktritte von Willy Brandt. Zum Einen 1974 als Bundeskanzler aus verschiedenen Gründen, und dann 1987, dem von Ihnen ja entsprechend kommentierten Jahr. War Willy Brandt jeweils nicht mehr tragbar für die deutsche Politik, oder hätte er weitermachen sollen aus Ihrer Sicht?
Scharping: Also, 1974 habe ich verstanden.
Burchardt: Warum?
Scharping: Weil die Gefahr in der Ost-West-Konfrontation über das Ausbreiten von Details aus dem privaten Leben war, die Autorität des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr zu bringen oder gar zu ruinieren. Ich glaube, das wollte er politisch nicht …
Scharping: … Ja, aber er wollte das wohl politisch nicht und er wollte es ganz sicher auch persönlich nicht.
Burchardt: Wie sehen Sie Herbert Wehner in dieser Situation?
Scharping: Ach, da wird unglaublich viel kolportiert und ich durchschaue es nicht wirklich, selbst wenn ich da relativ nah, bei weitem nicht so nah wie andere, aber doch relativ nah dran war. Aber es war jedenfalls mit diesem Besuch in der damaligen UdSSR und mit diesem Spruch, ich glaube, der fiel im damaligen Leningrad, heute Sankt Petersburg, "der Herr badet gerne lau". Wissen Sie, mich interessiert eher die Wahrnehmung und das Urteil über Willy Brandt, der in meinen Augen eine ganz rare und ganz eigenartige, im Sinne von eigenen Wert haben, Mischung darstellte aus praktischem Altersverstand, Mut und Weitsicht. Manche haben ja dann so rumgespottet "Willy Wolke". Der konnte aber Haushaltspläne lesen. Und der konnte auch Dinge entscheiden, wie zum Beispiel die Bildung der sozialliberalen Koalition. Wehner hätte wahrscheinlich doch viel, viel lieber die Große Koalition fortgesetzt , um …
Burchardt: Hat er selber auch gesagt.
Scharping: … Eben, um der Sozialdemokratie noch ein bisschen mehr Regierungsfähigkeit anzueignen, was ich persönlich für falsch halte, weil Regierungsfähigkeit erwirbt man nicht dadurch, dass man sie von einem Koalitionspartner ableitet, sondern dass man regiert, und das überzeugend.
Burchardt: Und der Rücktritt 1987?
Scharping: Das habe ich sehr bedauert. Gut. Auch wenn man das Alter von Brandt, die langen Jahre seiner Parteivorsitzendentätigkeit und anderes mit berücksichtigt. Ich habe es bedauert, weil man einen besseren Weg hätte finden können, um Übergänge zu organisieren, die ja in einer Partei auch gebraucht werden. Man kann ja, es sind ja keine Erbhöfe und keine Monarchien, Gott sei Dank nicht. Aber, Brandt hätte es besser verdient gehabt. Viel, viel besser. Und, ja, sagen wir mal, die Sozialdemokratie musste ja auch nicht unbedingt verzichten auf Willy Brandt. Der war dann Ehrenvorsitzender der SPD und hat in der Zeit der Einheit wenige Jahre später, das war zwei Jahre später, doch sehr deutlich gesehen, was wirklich möglich war, was geboten war …
Burchardt: Aber die SPD hat sich nicht danach gerichtet.
Scharping: Die SPD zu Teilen schon, zu anderen Teilen nicht. Und unglücklicherweise wurde der andere Teil angeführt vom damaligen Spitzenkandidaten.
Burchardt: Oskar Lafontaine.
Scharping: Ja.
Burchardt: Aber wie ist da Ihre Meinung? War nicht, das war ein Jahr nach dem Mauerfall, war da nicht eigentlich der Zug schon abgefahren? Helmut Kohl hat ja eigentlich, wie man wirklich auch historisch belegen kann, so gut wie keine Fehler gemacht. Er war relativ schnell mit dem Zehn-Punkte-Programm zur Einheit da, und auf der SPD-Seite hatte die lauteste Stimme Oskar Lafontaine, der das Ganze alles viel zu schnell fand und erstmal, wenn überhaupt, eine Konföderation wollte, aber auf gar keinen Fall schon auch die Währungsunion im Sommer. Da hatte die SPD doch eigentlich gar keine Chance.
Scharping: Doch, sie hätte ja Brandt folgen können.
Burchardt: Das hat sie aber nicht.
Scharping: Ja, aber sie hätte diese Chance gehabt. Es waren zu viele groß geworden mit der Zweistaatlichkeit. Und es gibt in allen Parteien eine Gefahr, die extreme Übertreibung auf der Seite, auf der man zu stehen glaubt, irgendwie zu verniedlichen. Also, der wirklich Menschen mordende Kommunismus Stalins und die Gefängnisse und Bautzen und was man alles damit verbinden kann in der damaligen DDR, das wird hier und da leider auch beschwiegen, insbesondere auf dem, was sich die linke Seite des politischen Spektrums nennt. Und das finde ich ganz und gar falsch. Genauso wie ich es ganz und gar falsch finde, dass hier und da das Risiko auftaucht, dass konservative Politiker mal so über die eine oder andere Verletzung rechtsstaatlicher und freiheitlicher Grundsätze in Militärdiktaturen Verständnis zeigend hinweggesehen hatten. Also, was ich damit sagen will: Es gibt, und jetzt komme ich zurück auf die Abschiedsrede von Brandt, wenn ich gefragt würde, was mir neben dem Frieden am wichtigsten ist, sage ich ohne Einschränkung Freiheit. Und das ist mein Verständnis, übrigens auch meine Erwartung an die Sozialdemokratie, unbedingt eine Partei der Freiheit zu sein. Und wenn man das ist, dann kann man alle anderen Fragen, die nach der Gerechtigkeit, nach den Aufstiegschancen, nach den Hoffnungen für die Zukunft, man kann sie einfach besser beantworten, weil man einen klaren Maßstab hat. Nicht einer, der Gerechtigkeit und Solidarität verdrängt, aber gewissermaßen der Kompass, die Navigation, der Leuchtturm ist, an dem sich alles andere orientieren kann.
Burchardt: Wir sind jetzt schon in den 90er Jahren, Herr Scharping. Die 90er Jahre für Sie sicherlich sehr spannend, auch, mal wertneutral formuliert, sehr abwechslungsreich. 1991 wurde Björn Engholm Parteivorsitzender, nachdem Oskar Lafontaine die Wahl verloren hatte. Und Sie sind dann ja 1994 auch vergeblich als Kanzlerkandidat angetreten. Wie haben Sie …
Scharping: Ich habe das gar nicht als so vergeblich empfunden, ehrlich gesagt, weil …
Burchardt: Es waren damals 36, gut 36 Prozent. Würde die SPD heute wahrscheinlich froh drüber sein.
Scharping: Also, wir haben 2,9 Prozent gewonnen auf 36,4. Wir haben 1,5, gut 1,5 Millionen Wählerstimmen dazu gewonnen. Ich glaube, die heutige Sozialdemokratie würde Freudentänze aufführen, wenn sie nur in die Nähe solcher Ergebnisse käme. Das ist zurzeit nicht realistisch, kann es aber wieder werden.
Scharping: Sie können dort nie Kommandeur sein.
Burchardt: Wichtige politische Ämter.
Burchardt: Sie galten ja als der aufstrebende Stern am Himmel der SPD und Sie waren ja auch einer der chancenreichsten Enkel. Haben Sie selber da auch realistisch eingeschätzt, dass es funktionieren könnte, dass es tatsächlich einen Bundeskanzler Scharping anno 1994 gibt in den Jahren davor, nachdem Engholm 1993 zurückgetreten ist?
Scharping: Das können Sie an Wahlkämpfen eigentlich nicht aussprechen. Aber die realistische Chance war die Bildung einer Großen Koalition 1994. Als zweitstärkste Partei, aber das ist ja dann durch die Überhangmandate im Wesentlichen verhindert worden. Wir waren auch nicht so gut, wie wir hätten sein müssen. Und da hat es auch den ein oder anderen Fehler gegeben. Wobei mir jetzt, im Nachhinein betrachtet, eben doch auffällt, dass in Deutschland die ständig neue Betrachtung alter Fehler oder Missgeschicke einen wesentlich höheren Stellenwert hat, als die Weichenstellungen, die mit einem politischen Leben auch verbunden sind.
Burchardt: Sie haben dann in Rheinland-Pfalz nach der verlorenen Bundestagswahl ja den Platz frei gemacht, Ihren Platz als Ministerpräsident, für Kurt Beck. Sind Sie eigentlich Ziehvater von Kurt Beck, oder zumindest der schützende protegierende Politiker gewesen?
Scharping: Wissen Sie, ich habe schon lange vor der Bundestagswahl gesagt, wenn man das macht, was ich versuche, dann macht man es ganz oder man lässt es. Und eine der Konsequenzen war im Falle einer verlorenen Wahl jedenfalls dann in den Bundestag zu wechseln, wenn die SPD und ihre Bundestagsfraktion das wollen. Weil es hat ja keinen Sinn, wenn die das ablehnen würden. Haben sie ja nicht. Und ich war vier Jahre lang sehr, sehr gerne Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Und ich glaube, das ist uns allen Beteiligten auch gut bekommen. Zurück zu Kurt Beck: Er war einer von den möglichen Nachfolgern. In meinen Augen war schon am Tag meiner Wahl, habe ich ihm auch mal so gesagt, klar, wenn mir was passiert, Auto gegen den Baum oder irgendwas, dann muss er das weiterführen. Und so habe ich mich dann auch in der Entscheidung des Jahres 1993 verhalten, als er dann schon SPD-Vorsitzender in Rheinland-Pfalz wurde.
Burchardt: Sie haben ja eben die Bundestagsfraktion erwähnt, die war ja damals recht bunt, oder bunter als zuvor. Wie war das eigentlich als Fraktionsvorsitzender? Waren Sie da Dompteur? Ich meine, einer Ihrer Vorgänger hieß Herbert Wehner, einer Ihrer Nachfolger Peter Struck, auch in diesem Amt, Leute die mit harter Hand regiert haben. Das kann man Ihnen ja eigentlich nicht nachsagen.
Scharping: Das sind aber glaube ich eher stilistische als inhaltliche Fragen. Ich hatte einen, in der SPD-Landtagsfraktion einen wunderbaren Geschäftsführer, der hieß Kurt Beck. Ich hatte in der SPD-Bundestagsfraktion einen wunderbaren Geschäftsführer, der hieß Peter Struck. Ich erinnere sehr gut, wie die Weichen gestellt wurden in diesen hektischen Tagen nach der Bundestagswahl und wer an welcher Weiche gedrückt, geschoben oder worauf sonst gewerkelt hat. Und für die SPD-Bundestagsfraktion war das gut. Sie können dort nie Kommandeur sein. Das ist keine Kompanie. Sie müssen immer führen, argumentieren, moderieren, zusammenhalten, auch mal einen Kompromiss machen, selbstverständlich. Demokratie funktioniert doch nicht nach der Methode, ich halte etwas für richtig und alle anderen jubeln bitte, kräftig. Ich fand das Amt sehr, sehr schön, ich habe mich dort wohl gefühlt, auch wenn das nicht immer so das Einfachste war. Aber wir haben ja auch was gestemmt. Ideen zur Staatsmodernisierung oder die Grundgesetzänderungen, wie erwähnt, zur Privatisierung von Bahn und Post. Sie müssen sich nur mal versuchen vorzustellen, was heute in Deutschland los wäre, abseits aller Schwierigkeiten, die es bei den Unternehmen gibt, das kann man nicht bestreiten, aber wie wäre es denn, wenn wir mit der alten Staatspost die globalen Herausforderungen bewältigen wollten? Wären wir dann mit der alten Staatspost in China oder in den USA oder in Südafrika? Und hätten wir den weltgrößten oder zweitgrößten Logistiker auf der Welt? Und so weiter, und so weiter. Ich glaube nicht.
Burchardt: Sie hatten Mitte der 90er Jahre, zumindest in der SPD, eine ziemliche Machtposition, Sie waren nämlich Fraktions- und Parteivorsitzender zugleich. Um sich herum geschart haben Sie Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder. Sie gingen damals durch die Medien als die Troika, gerade im Vorfeld des dann folgenden Bundestagswahlkampfs 1998. Sie sind aber nach der Wahl 1998 als Fraktionsvorsitzender von Gerhard Schröder, ja, ich sage mal, im Stich gelassen worden. Das hat Sie ja auch tief geschmerzt, als Sie dann, ich formuliere es mal so, auf den Job des Verteidigungsministers geschoben wurden, auf der anderen Seite …
Scharping: Nein, nein, ganz anders.
Burchardt: … Auf der anderen Seite ist es ja so gewesen, dass Sie in dieser Rolle, in dieser Dreierrolle dann auch nicht mehr allzu lange verharren konnten, weil Oskar Lafontaine bei dem berühmten Mannheimer Parteitag 1995 mit einer fulminanten Rede, die offenbar Schlusspunkt einer parteiinternen Intrige war, aus dem Amt gewählt worden ist.
Scharping: Sie wollten eigentlich sagen geputscht oder geworfen oder so. Wäre ja auch alles zutreffend gewesen. Richtig ist, das war von langer Hand vorbereitet, es war sorgfältig diskutiert und war alles andere als eine spontane Aktion. Nun muss ja noch ein bisschen was für ein denkbares Buch übrig bleiben, aber so viel kann ich …
Burchardt: Sie dürfen alles sagen, Herr Scharping.
Scharping: … Ja, das ist mir schon klar. Sie erklären es dann einem Verleger. Ich weiß nicht, ob das die beste Arbeitsteilung wäre, aber unabhängig davon, nein, die SPD hatte in den Parteivorsitz von Engholm und dann in den Parteivorsitz von Scharping eine gewisse Hoffnung investiert. Und es gibt Leute, die kommen nie durch schweres Wasser, weil die immer auf den Wellen tanzen, aber keinen klaren Kurs in schwerem Gewässer ziehen können. Das sind die Nussschalen auf den Wellen des Zeitgeistes, die Surfer.
Burchardt: Hätten Sie Namen parat?
Scharping: Ja, hätte ich auch. Das sind die selben Namen, die damals lauthals in Rheinland-Pfalz nach Rot-Grün geschrien haben. Lautstarke, aber Gott sei Dank nicht einflussstarke Minderheiten. Das hat sich heute ein bisschen geändert. Zurück zu 1995: Die SPD hat dort willentlich und aus Verzweiflung mit Prinzipien gebrochen, die nur schwierig wieder zu heilen sind. Nämlich Verlässlichkeit, Solidarität, Treue zu Vereinbarungen und einiges andere. Und mehr will ich dazu nicht sagen, denn ein Gutes hatte es ja. Nämlich eine Aufstellung, die dann doch viele überzeugt hat. Faktisch war es doch wieder eine Troika. Scharping Fraktionsvorsitzender, Schröder und Lafontaine denkbare Kanzlerkandidaten, jedenfalls bis zur Landtagswahl in Niedersachsen im Jahr 1998. Das hat schon einen ordentlichen Spannungsbogen gegeben. Nur auf Dauer, das ist meine Überzeugung, funktioniert eine Arbeitsteilung nicht, in der einer den Modernisierer gibt und ein anderer den Traditionalisten.
Burchardt: Herr Scharping, ich sehe Sie auf dem Mannheimer Parteitag da noch sitzen, als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, dass Sie verloren hatten, also aus dem Amt geputscht, ich nehme jetzt mal Ihr Wort auf, aus dem Amt geputscht worden sind. Sie wirkten wie konsterniert. Haben Sie es wirklich nicht geahnt und waren Sie nicht drauf vorbereitet?
Scharping: Falsch, ich wusste das Ergebnis, ich wusste das Ergebnis. Als ich dort saß und das Ergebnis verkündet wurde, wusste ich es schon.
Burchardt: Sie wirkten aber konsterniert.
Scharping: Vielleicht wirkte ich nur gefasst und habe versucht, mich zu beherrschen.
Burchardt: Ja, Johannes Rau hat ja auch gesagt, Sie hätten eine fabelhafte Rolle damals gespielt. Und Sie sind dann trotzdem als Stellvertreter angetreten. War das für Sie nicht eigentlich ein Schritt, wo Sie, ja, neben sich treten mussten und sagen "Ist mir egal, ich bin jetzt hier wirklich rausgedrängt worden, aber ich mache trotzdem weiter". Man sagt Ihnen ja auch nach diesen Spruch "Man kann mal hinfallen, aber man muss wieder aufstehen".
Scharping: Das ist richtig, ja. Also Niederlagen sind nichts Außergewöhnliches. Sie sollten nicht ständig kommen, aber die ein oder andere Niederlage erleben Sie in der Politik. Sie stürzen beim Radfahren oder auch sonst. Das Hinfallen ist keine Schande, aber aufstehen sollte man wieder. In Mannheim war das eine ganz andere Überlegung. Ich hatte eine hinreichende Zahl von Informationen über das, wie Helmut Schmidt, wie Georg Leber, wie andere darauf reagiert haben oder reagieren wollten …
Burchardt: Gegenwehr zwecklos?
Scharping: … Nein, nein, nicht Gegenwehr zwecklos. Ich wollte vermeiden, dass in der SPD eine Diskussion aufkommt, die zerstörerisch gewirkt hätte. Und dann kann man sich nicht einfach aus der Verantwortung zurückziehen. Anders war das 1998 mit dem Amt des Verteidigungsministers. In der SPD-Bundestagsfraktion gab es eine sehr, sehr klare Mehrheit für Scharping und gegen Lafontaine. Die Abstimmung wäre als Revanche für Mannheim empfunden worden und insofern von Anfang an politisch belastet gewesen.
Burchardt: Aber Schröder hat sich durchgesetzt.
Scharping: Schröder wollte Lafontaine und Scharping in der Regierung haben, Müntefering auch. Dafür gab es auch einen guten Grund: Ein Partei- und Fraktionsvorsitzender Lafontaine in einer Regierung Schröder mit Joschka Fischer, das geht nicht. Das ging nicht und das geht nicht. Also musste eine Priorität gebildet werden. Und die erste Priorität war aus Schröders, wie übrigens auch aus meiner Sicht, finde eine Aufstellung, die dem Bundeskanzler das entscheidende Wort gibt. Und dieses Wort nicht bindet an eine Autorität, die nicht der Loyalität des Regierungshandelns unterliegt. Um zu begreifen, was das bedeutet, hat Oskar Lafontaine einige Monate gebraucht und dann seine sehr eigenen Konsequenzen daraus gezogen, nämlich erneut abzuhauen.
Scharping: Jetzt ist Serbien auf einem hoffnungsvollen Weg in die Europäische Union.
Burchardt: Der Verteidigungsminister.
Burchardt: Sie sind dann Verteidigungsminister geworden und, man liest es überall, der erste deutsche Verteidigungsminister, der einen Krieg mitzuverantworten hat, zumindest deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt hat, nämlich den Kosovo-Krieg, der ja auch völkerrechtlich sehr umstritten ist. Sie haben vorhin ja in hohen Tönen von der friedensreichen Zeit gesprochen, die unsere Generation hat. Ist das nicht für Sie eine schizophrene Situation gewesen?
Scharping: Im Gegenteil. Wir hatten in Bosnien schreckliche Verbrechen, Srebrenica unter anderem. Jetzt ist gerade Karadzic gefasst worden, Gott sei Dank. Er wird jetzt, was ein Triumph des Rechts ist, vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen und mit sehr schweren Vorwürfen konfrontiert sein. Aber, diese Kriege im ehemaligen Jugoslawien hatten in der Mitte der 90er Jahre zu allerlei Debatten in Deutschland geführt. Ich zeichne sie jetzt nicht nach, es kamen nur viele, viele, viele Flüchtlinge nach Deutschland. Und Deutschland sah mehr oder weniger zu. Den Frieden in Bosnien, soweit man von Frieden da überhaupt reden kann, machte das Dayton-Abkommen, machten die USA. Und ich finde, soweit die Mittel reichen und ihr Einsatz verantwortbar ist, sollten wir helfen, dass jedenfalls in unserer Nachbarschaft, das ist Europa zuallererst, in unserem direkten Interessen- und Einflussbereich alles getan wird, um neue Vertreibungen, neuen Völkermord, neuen Rassismus zu verhindern. Das war die Aufgabe. Und ein Aspekt, ein sehr praktischer Aspekt dabei war, zu verhindern, dass so, wie das ja in Italien zu Eruptionen geführt hat, oder in Mazedonien oder Albanien, neue Flüchtlingsströme nach Deutschland kommen, anstatt den Menschen einen Weg zurück zu ebnen in ihre Heimat.
Burchardt: Halten Sie die Situation denn unter diesem Gesichtspunkt für stabiler als früher?
Scharping: Wenn Sie mit Menschen auf dem Balkan reden, ich hatte ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu Zoran Dzindzic, dem dann ermordeten serbischen Premierminister. Ja, es ist nicht ideal, es ist noch längst nicht gut, es ist nicht so, wie wir uns das vorstellen oder wie wir es in Deutschland gewöhnt sind, aber es ist deutlich besser, als in den Zeiten des Krieges. Und jetzt ist Serbien auf einem hoffnungsvollen Weg in die Europäische Union. Und das ist auch die einzige Erweiterung, die ich für noch verantwortbar halte, nämlich, sich die Balkanländer genau anzugucken und nicht zu glauben, wir müssten noch mehr Mitglieder und Menschen in die Europäische Union aufnehmen und dabei die Konsolidierung, die Festigung dieses europäischen Werkes vergessen. Das sollten wir nicht.
Scharping: Die Mehrheit der Bevölkerung fand das in Ordnung.
Burchardt: Skandale.
Burchardt: Herr Scharping, Sie haben im Verlaufe unseres Gesprächs von Siegen, Niederlagen, von dem Auf und Ab gesprochen. Ich kann Ihnen natürlich einige Stichworte nicht ersparen, die für Sie persönlich auch dann doch nachhaltig negative Wirkungen hatten. Da war einmal diese Brutto-Netto-Diskussion, die kann man vielleicht als Petitesse abtun. Allerdings die Entlassung als Verteidigungsminister durch Gerhard Schröder wegen der sogenannten Hunziker-Affäre hat natürlich schon ein anderes Gewicht. Und in dem Zusammenhang wird Ihnen natürlich auch immer wieder vorgehalten diese unsägliche Badewannen- oder Planschbeckenaffäre während der Mazedonien-Krise auf Mallorca. Wie sehen Sie das nachträglich? Wie sehen Sie diese Stichworte nachträglich? Ist Ihnen da Unrecht widerfahren, ist das überbewertet worden oder war es so, dass man Gründe suchte, um Sie in irgendeiner Weise loszuwerden? Sie müssen sich jetzt nicht rechtfertigen.
Scharping: Von meiner, nein, nein, von meiner Seite aus ist das so, dass ich Gründe hatte, sehr deutlich zu machen, dass die Liebe zwischen Kristina Gräfin Pilati und mir nicht ein PR-Gag sei. Dass das in eine Zeit fiel, in die es nun unter keinen Umständen hätte fallen sollen, ist sehr unglücklichen Umständen geschuldet. Ich habe mich dafür entschuldigt und damit mag es auch gut sein.
Burchardt: Welches sind die unglücklichen Umstände?
Scharping: Dass zwischen Einladung zu einer Kabinettsitzung über einen Einsatz in Mazedonien und Druckbeginn leider ein paar Stunden lagen. Da konnten wir den Druck nicht mehr zurückholen, obwohl jeder denkende Mensch wusste, das gibt einen Aufschrei. Für mich ist etwas anderes sehr interessant: Das Bild vervollständigt sich allmählich wieder. Man sieht den Verteidigungsminister, der eine Frau liebt. Es gab Umfragen dazu, die Mehrheit der Bevölkerung fand das in Ordnung, sogar unter den Umständen. Ich habe die Umstände für mehr als unglücklich empfunden, aber gut. Und die Streitkräfte neu aufzustellen, ihnen Möglichkeiten zu geben, mit Mitteln wirtschaftlicher umzugehen, ob das im Fuhrpark, in der Bekleidung oder im europaweit größten Projekt einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft, nämlich dem Bundswehr IT-Projekt "Herkules", ist, oder anderes, das rückt allmählich wieder ins Bewusstsein. Und den Streitkräften eine neue Struktur, eine höhere Führungsfähigkeit, eine bessere Ausrüstung zu verschaffen, mehr zu investieren, das sind in meinen Augen die eigentlichen Aufgaben gewesen. Und von daher glaube ich, dass so schrittweise so der Blick etwas vollständiger werden wird. Und dann gestatte ich mir noch den Hinweis, dass die deutsche Sozialdemokratie in diesem Monat nicht nur was die Zahl der Mandate in kommunalen oder in Länderparlamenten angeht, sondern jetzt auch in der Zahl ihrer Mitglieder gegenüber der CDU auf Platz zwei liegt. Ich werde mich in aktuelle Debatten nicht einmischen. Ich bin nur der Auffassung, dass wir aus der Stärke dessen, was Sozialdemokraten in der Regierung leisten, in Verbindung mit dem, was wir in einer zukünftigen Regierung noch besser machen wollen, dass man das genauer erklären und überzeugender darlegen könnte als heute.
Burchardt: Sie haben mir jetzt leider einen Steilpass gegeben, Herr Scharping. Das wissen Sie als Politprofi. Ich muss Sie natürlich …
Scharping: Ganz unbeabsichtigt war das jetzt auch wieder nicht.
Burchardt: Ich muss Sie natürlich fragen, wie beurteilen Sie die Arbeit von Kurt Beck und wer wäre für Sie der Wunschkandidat, als Kanzlerkandidat für die nächste Bundestagswahl anzutreten?
Scharping: Zu dem letzten muss ich mich nicht äußern. Aber was Kurt Beck angeht, bin ich der Auffassung, dass er in vielerlei Hinsicht sehr ungerecht beurteilt worden ist. Auch da komplettiert sich wahrscheinlich so nach und nach das Bild. Er hat einen grandiosen Fehler gemacht, in meinen Augen, mit dem Zeitpunkt, aber auch mit dem Inhalt dieser sogenannten Öffnung zur Linken hin. Unbeschadet dessen ist er für die Sozialdemokratie ein guter und in einem gewissen Sinne auch unverzichtbarer Vorsitzender. Und das wird deutlicher werden, je mehr Zeit vergeht. Und ich glaube, er ist auch klug, mit den Umständen so umzugehen, dass die SPD am Ende die beste Chance hat.
Scharping: Der Sache nach ist es ein Hinweis auf einen tiefen politischen Konflikt.
Burchardt: Druck auf einen Unbequemen.
Burchardt: Ja, Herr Scharping, was sagen Sie denn dazu, dass die Schiedskommission der nordrhein-westfälischen SPD Wolfgang Clement aus der Partei rausgeschmissen hat?
Scharping: Tja, der Vorstand der SPD, die Führung der Partei sollte sich in diesem Verfahren zu engagieren beginnen, denn das ist der Form nach ein Parteiordnungsverfahren, der Sache nach ist es ein Hinweis auf einen tiefen politischen Konflikt.
Burchardt: Sie sprechen von Form und Sache, aber ist das nicht auch letztendlich ein Desaster für das äußere Erscheinungsbild der Sozialdemokratie, die nun ausgerechnet in dieser Zeit einer ohnehin großen Krise, Sie haben ja auch vorhin schon mal über die Mitgliederzahlen gesprochen, dass in so einer Situation nun so ein Skandal an die Öffentlichkeit geht?
Scharping: Ja, Skandal, das kann ich so nicht nennen. Das ist, wie gesagt, ein normales Verfahren. Und Wolfgang Clement hat ja auch eine Äußerung im Vorfeld der Hessen-Landtagswahlen gemacht, über die man streiten kann. Das gehört zum Wesen auch innerparteilicher Demokratie. Und wenn die SPD unangenehme Meinungen, kritische Auffassungen, abweichende Haltungen nicht aushalten würde, dann wäre es schlecht um die Partei bestellt. Das muss freilich im Rahmen ihrer Grundsatzüberzeugung stattfinden, das ist schon richtig. Und es muss auch fair miteinander umgegangen werden, auch das ist richtig. Aber, hier geht es ja um etwas anderes. Die hessische SPD ist ja in den Landtagswahlkampf gezogen mit einem energiepolitischen Programm, das allem widerspricht, was die SPD bundesweit jemals gesagt hat. Und das ist der Grund, weshalb ich auf den tiefenpolitischen Konflikt hinweise. Am Ende des Tages kann die Sozialdemokratie nicht als führende Kraft in Deutschland wahrgenommen werden, wenn es 16 jeweilige Landesversionen von sozialdemokratischer Politik in Deutschland gibt. Eine schleswig-holsteinische oder eine baden-württembergische oder eine rheinland-pfälzische oder nordrhein-westfälische oder hessische, was auch immer. Das verstehen die Leute nicht. Es muss einen klaren Kurs der Sozialdemokratie insgesamt geben, jedenfalls in den Fragen, die von überragender Bedeutung sind. Und da kann man durchaus diskutieren, muss man wohl auch, aber nicht nach der Methode, dass jeder Landesverband jeweils für sich entscheidet, was aus den Grundsätzen der Sozialdemokratie im jeweiligen Land anwendbar ist und was nicht.
Burchardt: Sie haben zu Anfang davon gesprochen, dass das eine Frage für die Führung, für die Bundesführung der SPD ist. Muss Kurt Beck dann jetzt nicht unmittelbar eingreifen? Er hatte ja im Januar erklärt, die Sache sei geklärt und sei abgeheftet und man wolle nach vorn schauen. Jetzt ist das Desaster da.
Scharping: Ja, wie auch immer, ich gehe davon aus, dass die Führung der SPD in irgendeiner Form zum Beteiligten in diesem Verfahren wird, formell genauso wie politisch.
Burchardt: Wie stehen Sie persönlich zu dieser Situation? Sie gelten ja durchaus auch als ein Freund Wolfgang Clements und auch dessen politischer Auffassungen. Fühlen Sie sich auch selbst da ein wenig betroffen?
Scharping: Ich habe das nicht für glücklich gehalten, was Wolfgang Clement vor der Landtagswahl in Hessen da geschrieben hat, allerdings, das rechtfertigt einen Ausschluss aus der SPD nicht. Und deswegen engagiere ich mich in dieser Debatte, mit einer gewissen Zurückhaltung. Aber völlig klar, wenn wir das einfach so vorüberziehen lassen würden, dann hätte die SPD viele auszuschließen. Hat nicht gerade Helmut Schmidt dafür plädiert, die Frage der Laufzeit der Atomkraftwerke noch einmal zu überprüfen?
Burchardt: Vor diesem Hintergrund gehen Sie davon aus, dass Wolfgang Clement in der SPD bleibt.
Scharping: Er will es und ich hoffe, er kann es.
Burchardt: Vielen Dank, Herr Scharping.
Rudolf Scharping: Mein Vater war keiner, der darüber viel geredet hätte.
Burchardt: Das Nachkriegskind.
Rainer Burchardt: Herr Scharping, Sie sind 1947 geboren, wenn man das so sagen darf, im tiefsten Westerwald aufgewachsen, dann nach Lahnstein gezogen, Sie haben sieben Geschwister, eine große Familie.
Scharping: Sechs Geschwister.
Burchardt: Sechs Geschwister. Was sozialisiert einen eigentlich in so einer auch landschaftlich doch eher konservativen Gegend für die SPD oder für die Arbeiterschaft? Sie sind unter anderem ja auch Mitglied der Arbeiterwohlfahrt.
Scharping: Das sind so Kindheitserfahrungen, die haben aber nichts mit Landschaft zu tun, sondern mit Aufstiegshoffnungen, mit Ungerechtigkeiten, nur sehr begrenzt mit dem Elternhaus, viel mehr mit dem Freundeskreis. Und manchmal ist das ja ganz einfach und banal. Also in der Mitte der 60er Jahre, ich war 15, als John F. Kennedy ermordet wurde, dann wurde kurz darauf Willy Brandt Außenminister und der, wie viele andere in der SPD, über die heute kaum noch jemand redet, weil es war eine faszinierende Mannschaft mit einem sehr überzeugenden Vorsitzenden. Und ob die jetzt Möller oder Schiller oder Adolf Arndt oder Gustav Heinemann heißen, also die SPD hatte damals eine sehr überzeugende, sehr starke Mannschaft, und Frauschaft. Ich kam ins Gymnasium, da gab es Schulgeld. Und damals war ich der Meinung, das ist bitter ungerecht, weil du musst jetzt hier Noten bringen, sonst wird das Schulgeld nicht erlassen. Wird es nicht erlassen, werden dich deine Eltern von der Schule nehmen, weil sie es nicht bezahlen können. Das heißt, das ist, die prägende Kindheitserfahrung ist nicht die Schönheit einer Landschaft oder die Annehmlichkeiten einer Kleinstadt, sondern die ungewöhnlich bedrängten wirtschaftlichen Verhältnisse in einer so großen Familie. Andererseits, die Fähigkeit und der Wille, Verantwortung für andere zu übernehmen.
Burchardt: Konrad Adenauer, der 1957 die absolute Mehrheit für die Union in Deutschland holte, residierte auch in Ihrem Bundesland, in Rheinland-Pfalz, Sie waren damals zehn Jahre alt. War Adenauer nicht auch irgendwie für Sie faszinierend?
Scharping: Ja natürlich. Überhaupt Politik war viel faszinierender, als sie manchmal heute daherkommt. Das hängt aber auch damit zusammen, dass die Nachkriegszeit und diese Barbarei des Hitlerismus eben doch Charaktere hervorgebracht hat, die für sich standen, die nichts, oder jedenfalls nicht viel, erklären mussten. Und andere sind umgekommen, wie Stauffenberg und Goerdeler und Julius Leber, und so weiter. Also viele, viele Menschen, die Deutschland in einem überzeugenden Wiederaufbau auch gut hätte gebrauchen können. Aber das ist das Ergebnis dieser millionenfachen Barbarei. Und deswegen, um das zu sagen, war es mir später auch so wichtig, den 20. Juli in Berlin im Bendlerblock, an dem Ort, an dem Stauffenberg und andere erschossen wurden, zum Tag und zum Ort eines öffentlichen Gelöbnisses von Soldaten der Bundeswehr zu machen, um zu verdeutlichen, dass diese beiden Dinge zusammengehören: Die Tradition des Widerstands, die Rettung der Würde unseres Landes, und die Bundeswehr mit ihren heutigen Aufgaben in einer völlig veränderten Welt.
Burchardt: Sie haben einen riesen Sprung gemacht, aber ich nehme den gerne an. Wir kommen auch wieder zurück auf Ihre Jugend. Gerade jetzt gab es ein öffentliches Gelöbnis vor dem Reichstag. Haben Sie das für richtig platziert gehalten, vor der Tradition dessen, was Sie gerade erwähnt haben?
Scharping: Ja, ich habe mich auch sehr dafür eingesetzt. Der Spannungsbogen heutzutage, nach zehn Jahren öffentlicher Gelöbnisse im Bendlerblock, also dort, wo Stauffenberg erschossen wurde, das ist heute eine andere Umwelt. Wir haben den Kosovokrieg hinter uns, das Balkanengagement, vielfältige andere Friedenseinsätze, nicht zu vergessen das Horn von Afrika oder Afghanistan. Die Bundeswehr ist Parlamentsarmee. Und die Tradition der preußischen Heeresreform hat die Tradition des Widerstands durch den 20. Juli am Ort des Parlamentssitzes. Das halte ich für einen angemessenen Ausdruck dessen, was Streitkräfte heutzutage bedeuten und von denen Helmut Schmidt, mit Blick auf unsere Demokratie, auf unseren Rechtsstaat gesagt hat, "Ihr, die jungen Soldaten, ihr könnt sicher sein, dieser Staat wird euch nicht missbrauchen". Das war eine sehr bewegende, weil auch sehr persönliche Rede.
Burchardt: Sie sind ja nun wahrlich ein Nachkriegskind. Hat in Ihrem Elternhaus die Erinnerung an die Nazizeit noch eine Rolle gespielt, wurde das auch diskutiert am Tisch und hat das auch Ihr Bewusstsein damals schon in diese Richtung geprägt, wie Sie es eben in Richtung Stauffenberg erwähnt haben?
Scharping: Ja, es war aber mehr eine Diskussion in der Schule, manchmal auch mit Eltern anderer Schulkameraden. Mein Vater selbst hatte auch wegen seiner ersten Ehe mit einer Nichte von Nelly Sachs bestimmte, nennen wir es mal, Unannehmlichkeiten zu ertragen. Und zu den lebensgefährlichen Unannehmlichkeiten gehörte vom ersten bis zum letzten Tag, Soldat zu sein. Und mein Vater war keiner, der darüber viel geredet hätte. Ein Umstand, mit dem sich ja viele in meiner Generation oder in meinem Alter herumschlagen mussten, weil dieses Beschweigen ja nichts erklärt, nichts an Zukünftigem offen lässt oder ermöglicht. Und von daher war das kein großes Thema im Elternhaus. Hier und da schon, aber eher so am Rande.
Scharping: Man will provozieren. Das ist uns auch gelungen, sonst wäre ich ja nicht rausgeflogen.
Burchardt: Ausschluss aus der SPD.
Burchardt: Kurz darauf hatten Sie auch Funktionen in der SPD bereits. Und eben haben Sie rekurriert auf die Zeit der Großen Koalition mit Willy Brandt als Außenminister. Ausgerechnet in dieser Zeit, nämlich im Jahre 1968, sind Sie mal vorübergehend aus der SPD ausgeschlossen worden. Was war denn da der Grund und war das nicht für Sie dann auch ein Anlass, der Partei den Rücken zu kehren? Sie waren damals sowieso Vorsitzender.
Scharping: Nein, im Gegenteil, ich war Vorsitzender der Jungsozialisten in meiner Heimatstadt und im Heimatkreis und man spielte bei uns das Heeresmusikkorps Nr. 5. Ich glaube, ich habe die Zahl richtig im Kopf, aber egal. Wir dachten, warum verlangen die für ein Konzert zugunsten einer wohltätigen Einrichtung einen Eintritt? Es wäre doch besser, sie beschafften die Starfighter nicht oder legten sie still, das würde allen helfen. Die Musik wäre umsonst, die Wohlfahrt hätte mehr Geld und die Frauen müssten nicht tote Piloten beklagen. Das war der, ich will mal sagen, das war der Auslöser. Dann kommt natürlich, sagen wir mal, jugendlicher Überschwang, Unerfahrenheit und anderes dazu. Man will provozieren. Das ist uns auch gelungen, sonst wäre ich ja nicht rausgeflogen.
Burchardt: Wieso sind Sie wieder aufgenommen worden?
Scharping: Ich war 1969 im Wahlkampf bei Wilhelm Dröscher an der Nahe. Der war für mich schon deswegen faszinierend, wegen seiner politischen Überzeugung, auch, weil er sich wirklich um Menschen gekümmert hat, jeden Samstag eine völlig überlaufene Sprechstunde durchführte, und weil er, sagen wir mal, diesen Weg hinter sich gebracht hatte, Soldat und dann Kommunist und am Ende der 40er Jahre, wenn ich das recht erinnere, dann in die Sozialdemokratie eingetreten, weil er sehr früh sah, wohin das führen würde mit dem Kommunismus und diesem totalitären Anspruch. Insofern war das eine sehr stark orientierende Figur für mich und ich habe in ihm dann auch einen Mentor und Freund gefunden.
Burchardt: Würden Sie Ihn als, wie man so schön sagt, als Ziehvater, als politischen Ziehvater bezeichnen? Er galt ja auch immer als der, in Anführungsstrichen, gute Mensch von kirren.
Scharping: Ja, ihn und Hugo Brandt, den leider fast vergessenen Vorsitzenden der SPD in Rheinland-Pfalz. Aber später in ganz, ganz anderen Zusammenhängen, auch in einem ganz anderen Lebensalter, auch eine sehr große Nähe zu Willy Brandt.
Burchardt: Willy Brandt hat Sie dann ja relativ frühzeitig auch schon zu einem der drei Enkel erkoren, oder vielleicht waren es vorübergehend auch mal fünf. Hans-Jochen Vogel gehörte sogar dazu, der eigentlich doch schon im Alter schon maßgeblich fortgeschritten war.
Scharping: Eine ein bisschen lustige Vorstellung. Nein, die Erfinderin war ja eigentlich Anke Fuchs, die, ja, so, sagen wir mal, manchmal ein durchaus, heute würde man salopp sagen, loses Mundwerk hatte, und die dann auf die schmucke Riege der Enkel hinwies, und da gehörte ich dann auch dazu, obwohl ich das ziemlich lustig fand. Ich habe dann auch immer hier und da öffentlich darüber gespottet, dass ja dann meine Großmutter jünger sei, als ich selbst. Aber gut. Es war ja der Anspruch, zu sagen, die SPD hat eine sehr starke Nachwuchsriege. Das war ja auch so. Schade, dass sie dann in allerlei Umständen immer mehr auseinanderfiel und zerbröselte.
Scharping: Das alles hat die Bundesrepublik Deutschland dahin geführt, wo wir heute stehen. Ein unglaublich glückliches, ein schönes, ein Land voller reicher Möglichkeiten. Und vor allen Dingen ein in Frieden und Freiheit vereintes Land.
Burchardt: Historische Leistungen.
Burchardt: Sie haben ungeachtet Ihres vorübergehenden Parteiausschlusses, wie Sie sagten, ja auch Wahlkampf für die SPD 1969 gemacht. Da ging es auch um Willy wählen. Und letztendlich kam es dann zur ersten sozialdemokratischen Kanzlerschaft, zur sozialliberalen Koalition. Wie haben Sie die selbst empfunden, noch als eher doch Beobachter?
Scharping: Wir sind in dieser Septembernacht durch Kirn und durch Baumholder und andere und haben begeistert die Mandate herausgeschrien, die wir Vorsprung hatten …
Burchardt: Aber einen Fackelzug haben Sie nicht gemacht?
Scharping: Fackelzug nicht, aber ein schönes Fest gefeiert, eine prima Party organisiert, da habe ich meine erste Frau kennengelernt. Also, das war ein toller Abend in vielerlei Hinsicht. Und einer der, sagen wir mal für die Bundesrepublik Deutschland, man darf das ja nicht vergessen, die Wahl des Bundespräsidenten Gustav Heinemann zuvor, die Weichenstellungen in Nordrhein-Westfalen, alles Signale, die, ohne allzu viel darüber zu reden, das konnte man den Kommentatoren und den klugen Edelfedern diverser Magazine und Zeitungen überlassen, es war nur klar, die SPD hat aus Verantwortung für das Land die Große Koalition gebildet …
Burchardt: 1966.
Scharping: … Und gleichzeitig sofort auch Signale gegeben, dass das zur Bewältigung großer Aufgaben erforderlich sei, aber kein Dauerzustand. Und deswegen waren ja die sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen, die Wahl von Heinemann, vieles andere, das waren überdeutliche Signale. Wenn es irgend geht, wird Brandt das mit der FDP und mit Walter Scheel versuchen, übrigens gegen den Widerstand von Herbert Wehner.
Burchardt: Sie haben den Begriff Aufbruch genannt. Waren Sie von dem Aufbruch dann anschließend begeistert, enttäuscht, oder sahen Sie das als realistisch an? In der Ostpolitik gab es ja wirklich so etwas wie eine kleine Revolution in der internen Politik, ich sage jetzt mal Extremistenerlass, 1972 gab es ja irgendwas wie Ernüchterung.
Scharping: Ich sehe das anders. Was die Ostpolitik angeht, die Skizze der Ostpolitik findet man in einer Rede von Willy Brandt aus dem Jahr 1968 bei der Konferenz der Nicht-Atomwaffenstaaten in Genf. Und das war schon in der Großen Koalition erstens angelegt und zweitens umstritten, hat sich ja dann in der sozialliberalen Koalition und mit der Opposition aus CDU und CSU fortgesetzt. Ich hatte so ein Gefühl, ich will noch nicht mal sagen ein Urteil, aber ein Gefühl, dass dieser sogenannte Radikalenerlass der innenpolitischen Absicherung diente, um nicht gewissermaßen in der Außen-, wie in der Innenpolitik einer zu engen Kooperation mit Kommunisten verdächtigt zu werden, was ja damals bestimmte Medien, bestimmte Zeitungen mit einem, man kann ja nicht sagen liebevollen, sondern bösartigen Ehrgeiz zum Teil ausgebreitet hatten. Unbeschadet dessen, im Rückblick, die Westintegration, die mit Konrad Adenauer verbunden ist und gegen die SPD durchgesetzt wurde, die Ost- und Entspannungspolitik, die gegen die CDU/CSU durchgesetzt wurde, jedenfalls gegen fast alle, wenn man von Weizsäcker, Leisler Kiep und einige herausnimmt, die den Verträgen zugestimmt oder der Ratifizierung zugestimmt hatten, das alles hat die Bundesrepublik Deutschland dahin geführt, wo wir heute stehen. Ein unglaublich glückliches, ein schönes, ein Land voller reicher Möglichkeiten und vor allen Dingen ein in Frieden und Freiheit vereintes Land. Das wäre ohne diese beiden zentralen Weichenstellungen nicht möglich gewesen. Und dass Helmut Kohl und andere dann diese Chance beherzt ergriffen haben, das ist ebenfalls eine historische Leistung in meinen Augen, denn nie zuvor hat es ein Staat geschafft, seine Teilung zu überwinden und gleichzeitig die Grundfesten seiner äußeren Existenz zu bewahren, nämlich die europäische Integration und die Einbindung in eine Allianz der Demokratien, und dennoch ein kooperatives Verhältnis zum Beispiel zu Russland und anderen Staaten aufrechtzuerhalten und fortzuführen. Das ist eine enorme Leistung. Wir haben von meiner Kindheit gesprochen, den wirtschaftlichen Bedrängtheiten. Ich trage die nicht vor mir her wie eine Monstranz, aber wenn ich mein Leben betrachte mit jetzt 60 Jahren und einer hoffentlich gesunden Zukunft vor mir, das ist eine unglaublich glückliche Generation. 1987, Entschuldigung, wenn ich das so sage, das war ein scheiß Jahr. Ein richtiges miserables Jahr. Brandt trat zurück wegen dieser Geschichte um eine parteilose denkbare Sprecherin der Sozialdemokratie. Ich erinnere dieses eigentümliche Enkeltreffen da in Nordenstedt bei Hamburg …
Burchardt: Norderstedt.
Scharping: … Norderstedt bei Hamburg, und ich muss sagen, also, da habe ich dann so gedacht, gut, danach kam so eine Geheimsitzung auf dem Frankfurter Flughafen mit, ich weiß nicht, 500 Kameras und tausend Journalisten, jedenfalls sehr vielen. Und ich habe da nur einen einzigen Satz gesagt: "Nun habt ihr Engholm in die Sänfte gesetzt, hoffentlich wisst ihr auch, dass ihr ihn tragen müsst."
Scharping: Brandt hätte es besser verdient gehabt. Viel, viel besser.
Burchardt: Irrungen und Wirrungen in der SPD.
Burchardt: 1987, wenn wir ganz kurz mal bei diesem Norderstedter Treffen bleiben, das ist ja insofern nicht ganz uninteressant auch für Sie persönlich, weil dort ja auch, wie man nachträglich auch in vielen Büchern lesen kann, Oskar Lafontaine die Partei auch ausgetrickst hat. Die "Süddeutsche Zeitung" meldete ihn schon als Nachfolger von Willy Brandt und in letzter Minute, als sich alle schon darauf eingestellt hatten, zog er zurück, und …
Scharping: Wie immer, wie immer. Immer, wenn Verantwortung auftauchte, verschwand Oskar Lafontaine schnell hinter irgend einem Baum.
Burchardt: Haben Sie keine Langfriststrategie darin gesehen? Es war ja eine schwere Zeit für die SPD.
Scharping: Nein, wieso? Er hat 1987 den Antritt nicht gewagt. Er hat vor der Bundestagswahl 1990 den Parteivorsitz nicht wirklich angestrebt, obwohl das sinnvoll gewesen wäre, aus heutiger Sicht muss ich sagen, ein Glück, aber, wie auch immer, und ist dann nach der Bundestagswahl, was ich in einem gewissen Umfang verstehen kann wegen dieses Messerattentats, dann aber wiederum in den Büschen verschwunden oder auf den saarländischen Hügeln, um von dort aus das Reich zu kommentieren, und so weiter, und so weiter. Nein, ich glaube, für die Sozialdemokratie war viel entscheidender in der Zeit nach der Bundestagswahl, und bei 1987 darf man nicht vergessen, verlorene Bundestagswahl, aber eben auch verlorene Landtagswahl in Hessen, ein sozialdemokratisches Stammland. Weg. Erneut weg. Und, und das war schon sehr hart. Und in diesen Umständen die SPD in Rheinland-Pfalz stabil zu halten und eine Chance zu eröffnen, die wir dann 1989 bei den Kommunalwahlen, 1991 bei den Landtagswahlen dann tatsächlich auch realisieren konnten, das war schon eine tolle Leistung.
Burchardt: Wollen wir noch mal rekurrieren auf die Rücktritte von Willy Brandt. Zum Einen 1974 als Bundeskanzler aus verschiedenen Gründen, und dann 1987, dem von Ihnen ja entsprechend kommentierten Jahr. War Willy Brandt jeweils nicht mehr tragbar für die deutsche Politik, oder hätte er weitermachen sollen aus Ihrer Sicht?
Scharping: Also, 1974 habe ich verstanden.
Burchardt: Warum?
Scharping: Weil die Gefahr in der Ost-West-Konfrontation über das Ausbreiten von Details aus dem privaten Leben war, die Autorität des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr zu bringen oder gar zu ruinieren. Ich glaube, das wollte er politisch nicht …
Scharping: … Ja, aber er wollte das wohl politisch nicht und er wollte es ganz sicher auch persönlich nicht.
Burchardt: Wie sehen Sie Herbert Wehner in dieser Situation?
Scharping: Ach, da wird unglaublich viel kolportiert und ich durchschaue es nicht wirklich, selbst wenn ich da relativ nah, bei weitem nicht so nah wie andere, aber doch relativ nah dran war. Aber es war jedenfalls mit diesem Besuch in der damaligen UdSSR und mit diesem Spruch, ich glaube, der fiel im damaligen Leningrad, heute Sankt Petersburg, "der Herr badet gerne lau". Wissen Sie, mich interessiert eher die Wahrnehmung und das Urteil über Willy Brandt, der in meinen Augen eine ganz rare und ganz eigenartige, im Sinne von eigenen Wert haben, Mischung darstellte aus praktischem Altersverstand, Mut und Weitsicht. Manche haben ja dann so rumgespottet "Willy Wolke". Der konnte aber Haushaltspläne lesen. Und der konnte auch Dinge entscheiden, wie zum Beispiel die Bildung der sozialliberalen Koalition. Wehner hätte wahrscheinlich doch viel, viel lieber die Große Koalition fortgesetzt , um …
Burchardt: Hat er selber auch gesagt.
Scharping: … Eben, um der Sozialdemokratie noch ein bisschen mehr Regierungsfähigkeit anzueignen, was ich persönlich für falsch halte, weil Regierungsfähigkeit erwirbt man nicht dadurch, dass man sie von einem Koalitionspartner ableitet, sondern dass man regiert, und das überzeugend.
Burchardt: Und der Rücktritt 1987?
Scharping: Das habe ich sehr bedauert. Gut. Auch wenn man das Alter von Brandt, die langen Jahre seiner Parteivorsitzendentätigkeit und anderes mit berücksichtigt. Ich habe es bedauert, weil man einen besseren Weg hätte finden können, um Übergänge zu organisieren, die ja in einer Partei auch gebraucht werden. Man kann ja, es sind ja keine Erbhöfe und keine Monarchien, Gott sei Dank nicht. Aber, Brandt hätte es besser verdient gehabt. Viel, viel besser. Und, ja, sagen wir mal, die Sozialdemokratie musste ja auch nicht unbedingt verzichten auf Willy Brandt. Der war dann Ehrenvorsitzender der SPD und hat in der Zeit der Einheit wenige Jahre später, das war zwei Jahre später, doch sehr deutlich gesehen, was wirklich möglich war, was geboten war …
Burchardt: Aber die SPD hat sich nicht danach gerichtet.
Scharping: Die SPD zu Teilen schon, zu anderen Teilen nicht. Und unglücklicherweise wurde der andere Teil angeführt vom damaligen Spitzenkandidaten.
Burchardt: Oskar Lafontaine.
Scharping: Ja.
Burchardt: Aber wie ist da Ihre Meinung? War nicht, das war ein Jahr nach dem Mauerfall, war da nicht eigentlich der Zug schon abgefahren? Helmut Kohl hat ja eigentlich, wie man wirklich auch historisch belegen kann, so gut wie keine Fehler gemacht. Er war relativ schnell mit dem Zehn-Punkte-Programm zur Einheit da, und auf der SPD-Seite hatte die lauteste Stimme Oskar Lafontaine, der das Ganze alles viel zu schnell fand und erstmal, wenn überhaupt, eine Konföderation wollte, aber auf gar keinen Fall schon auch die Währungsunion im Sommer. Da hatte die SPD doch eigentlich gar keine Chance.
Scharping: Doch, sie hätte ja Brandt folgen können.
Burchardt: Das hat sie aber nicht.
Scharping: Ja, aber sie hätte diese Chance gehabt. Es waren zu viele groß geworden mit der Zweistaatlichkeit. Und es gibt in allen Parteien eine Gefahr, die extreme Übertreibung auf der Seite, auf der man zu stehen glaubt, irgendwie zu verniedlichen. Also, der wirklich Menschen mordende Kommunismus Stalins und die Gefängnisse und Bautzen und was man alles damit verbinden kann in der damaligen DDR, das wird hier und da leider auch beschwiegen, insbesondere auf dem, was sich die linke Seite des politischen Spektrums nennt. Und das finde ich ganz und gar falsch. Genauso wie ich es ganz und gar falsch finde, dass hier und da das Risiko auftaucht, dass konservative Politiker mal so über die eine oder andere Verletzung rechtsstaatlicher und freiheitlicher Grundsätze in Militärdiktaturen Verständnis zeigend hinweggesehen hatten. Also, was ich damit sagen will: Es gibt, und jetzt komme ich zurück auf die Abschiedsrede von Brandt, wenn ich gefragt würde, was mir neben dem Frieden am wichtigsten ist, sage ich ohne Einschränkung Freiheit. Und das ist mein Verständnis, übrigens auch meine Erwartung an die Sozialdemokratie, unbedingt eine Partei der Freiheit zu sein. Und wenn man das ist, dann kann man alle anderen Fragen, die nach der Gerechtigkeit, nach den Aufstiegschancen, nach den Hoffnungen für die Zukunft, man kann sie einfach besser beantworten, weil man einen klaren Maßstab hat. Nicht einer, der Gerechtigkeit und Solidarität verdrängt, aber gewissermaßen der Kompass, die Navigation, der Leuchtturm ist, an dem sich alles andere orientieren kann.
Burchardt: Wir sind jetzt schon in den 90er Jahren, Herr Scharping. Die 90er Jahre für Sie sicherlich sehr spannend, auch, mal wertneutral formuliert, sehr abwechslungsreich. 1991 wurde Björn Engholm Parteivorsitzender, nachdem Oskar Lafontaine die Wahl verloren hatte. Und Sie sind dann ja 1994 auch vergeblich als Kanzlerkandidat angetreten. Wie haben Sie …
Scharping: Ich habe das gar nicht als so vergeblich empfunden, ehrlich gesagt, weil …
Burchardt: Es waren damals 36, gut 36 Prozent. Würde die SPD heute wahrscheinlich froh drüber sein.
Scharping: Also, wir haben 2,9 Prozent gewonnen auf 36,4. Wir haben 1,5, gut 1,5 Millionen Wählerstimmen dazu gewonnen. Ich glaube, die heutige Sozialdemokratie würde Freudentänze aufführen, wenn sie nur in die Nähe solcher Ergebnisse käme. Das ist zurzeit nicht realistisch, kann es aber wieder werden.
Scharping: Sie können dort nie Kommandeur sein.
Burchardt: Wichtige politische Ämter.
Burchardt: Sie galten ja als der aufstrebende Stern am Himmel der SPD und Sie waren ja auch einer der chancenreichsten Enkel. Haben Sie selber da auch realistisch eingeschätzt, dass es funktionieren könnte, dass es tatsächlich einen Bundeskanzler Scharping anno 1994 gibt in den Jahren davor, nachdem Engholm 1993 zurückgetreten ist?
Scharping: Das können Sie an Wahlkämpfen eigentlich nicht aussprechen. Aber die realistische Chance war die Bildung einer Großen Koalition 1994. Als zweitstärkste Partei, aber das ist ja dann durch die Überhangmandate im Wesentlichen verhindert worden. Wir waren auch nicht so gut, wie wir hätten sein müssen. Und da hat es auch den ein oder anderen Fehler gegeben. Wobei mir jetzt, im Nachhinein betrachtet, eben doch auffällt, dass in Deutschland die ständig neue Betrachtung alter Fehler oder Missgeschicke einen wesentlich höheren Stellenwert hat, als die Weichenstellungen, die mit einem politischen Leben auch verbunden sind.
Burchardt: Sie haben dann in Rheinland-Pfalz nach der verlorenen Bundestagswahl ja den Platz frei gemacht, Ihren Platz als Ministerpräsident, für Kurt Beck. Sind Sie eigentlich Ziehvater von Kurt Beck, oder zumindest der schützende protegierende Politiker gewesen?
Scharping: Wissen Sie, ich habe schon lange vor der Bundestagswahl gesagt, wenn man das macht, was ich versuche, dann macht man es ganz oder man lässt es. Und eine der Konsequenzen war im Falle einer verlorenen Wahl jedenfalls dann in den Bundestag zu wechseln, wenn die SPD und ihre Bundestagsfraktion das wollen. Weil es hat ja keinen Sinn, wenn die das ablehnen würden. Haben sie ja nicht. Und ich war vier Jahre lang sehr, sehr gerne Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Und ich glaube, das ist uns allen Beteiligten auch gut bekommen. Zurück zu Kurt Beck: Er war einer von den möglichen Nachfolgern. In meinen Augen war schon am Tag meiner Wahl, habe ich ihm auch mal so gesagt, klar, wenn mir was passiert, Auto gegen den Baum oder irgendwas, dann muss er das weiterführen. Und so habe ich mich dann auch in der Entscheidung des Jahres 1993 verhalten, als er dann schon SPD-Vorsitzender in Rheinland-Pfalz wurde.
Burchardt: Sie haben ja eben die Bundestagsfraktion erwähnt, die war ja damals recht bunt, oder bunter als zuvor. Wie war das eigentlich als Fraktionsvorsitzender? Waren Sie da Dompteur? Ich meine, einer Ihrer Vorgänger hieß Herbert Wehner, einer Ihrer Nachfolger Peter Struck, auch in diesem Amt, Leute die mit harter Hand regiert haben. Das kann man Ihnen ja eigentlich nicht nachsagen.
Scharping: Das sind aber glaube ich eher stilistische als inhaltliche Fragen. Ich hatte einen, in der SPD-Landtagsfraktion einen wunderbaren Geschäftsführer, der hieß Kurt Beck. Ich hatte in der SPD-Bundestagsfraktion einen wunderbaren Geschäftsführer, der hieß Peter Struck. Ich erinnere sehr gut, wie die Weichen gestellt wurden in diesen hektischen Tagen nach der Bundestagswahl und wer an welcher Weiche gedrückt, geschoben oder worauf sonst gewerkelt hat. Und für die SPD-Bundestagsfraktion war das gut. Sie können dort nie Kommandeur sein. Das ist keine Kompanie. Sie müssen immer führen, argumentieren, moderieren, zusammenhalten, auch mal einen Kompromiss machen, selbstverständlich. Demokratie funktioniert doch nicht nach der Methode, ich halte etwas für richtig und alle anderen jubeln bitte, kräftig. Ich fand das Amt sehr, sehr schön, ich habe mich dort wohl gefühlt, auch wenn das nicht immer so das Einfachste war. Aber wir haben ja auch was gestemmt. Ideen zur Staatsmodernisierung oder die Grundgesetzänderungen, wie erwähnt, zur Privatisierung von Bahn und Post. Sie müssen sich nur mal versuchen vorzustellen, was heute in Deutschland los wäre, abseits aller Schwierigkeiten, die es bei den Unternehmen gibt, das kann man nicht bestreiten, aber wie wäre es denn, wenn wir mit der alten Staatspost die globalen Herausforderungen bewältigen wollten? Wären wir dann mit der alten Staatspost in China oder in den USA oder in Südafrika? Und hätten wir den weltgrößten oder zweitgrößten Logistiker auf der Welt? Und so weiter, und so weiter. Ich glaube nicht.
Burchardt: Sie hatten Mitte der 90er Jahre, zumindest in der SPD, eine ziemliche Machtposition, Sie waren nämlich Fraktions- und Parteivorsitzender zugleich. Um sich herum geschart haben Sie Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder. Sie gingen damals durch die Medien als die Troika, gerade im Vorfeld des dann folgenden Bundestagswahlkampfs 1998. Sie sind aber nach der Wahl 1998 als Fraktionsvorsitzender von Gerhard Schröder, ja, ich sage mal, im Stich gelassen worden. Das hat Sie ja auch tief geschmerzt, als Sie dann, ich formuliere es mal so, auf den Job des Verteidigungsministers geschoben wurden, auf der anderen Seite …
Scharping: Nein, nein, ganz anders.
Burchardt: … Auf der anderen Seite ist es ja so gewesen, dass Sie in dieser Rolle, in dieser Dreierrolle dann auch nicht mehr allzu lange verharren konnten, weil Oskar Lafontaine bei dem berühmten Mannheimer Parteitag 1995 mit einer fulminanten Rede, die offenbar Schlusspunkt einer parteiinternen Intrige war, aus dem Amt gewählt worden ist.
Scharping: Sie wollten eigentlich sagen geputscht oder geworfen oder so. Wäre ja auch alles zutreffend gewesen. Richtig ist, das war von langer Hand vorbereitet, es war sorgfältig diskutiert und war alles andere als eine spontane Aktion. Nun muss ja noch ein bisschen was für ein denkbares Buch übrig bleiben, aber so viel kann ich …
Burchardt: Sie dürfen alles sagen, Herr Scharping.
Scharping: … Ja, das ist mir schon klar. Sie erklären es dann einem Verleger. Ich weiß nicht, ob das die beste Arbeitsteilung wäre, aber unabhängig davon, nein, die SPD hatte in den Parteivorsitz von Engholm und dann in den Parteivorsitz von Scharping eine gewisse Hoffnung investiert. Und es gibt Leute, die kommen nie durch schweres Wasser, weil die immer auf den Wellen tanzen, aber keinen klaren Kurs in schwerem Gewässer ziehen können. Das sind die Nussschalen auf den Wellen des Zeitgeistes, die Surfer.
Burchardt: Hätten Sie Namen parat?
Scharping: Ja, hätte ich auch. Das sind die selben Namen, die damals lauthals in Rheinland-Pfalz nach Rot-Grün geschrien haben. Lautstarke, aber Gott sei Dank nicht einflussstarke Minderheiten. Das hat sich heute ein bisschen geändert. Zurück zu 1995: Die SPD hat dort willentlich und aus Verzweiflung mit Prinzipien gebrochen, die nur schwierig wieder zu heilen sind. Nämlich Verlässlichkeit, Solidarität, Treue zu Vereinbarungen und einiges andere. Und mehr will ich dazu nicht sagen, denn ein Gutes hatte es ja. Nämlich eine Aufstellung, die dann doch viele überzeugt hat. Faktisch war es doch wieder eine Troika. Scharping Fraktionsvorsitzender, Schröder und Lafontaine denkbare Kanzlerkandidaten, jedenfalls bis zur Landtagswahl in Niedersachsen im Jahr 1998. Das hat schon einen ordentlichen Spannungsbogen gegeben. Nur auf Dauer, das ist meine Überzeugung, funktioniert eine Arbeitsteilung nicht, in der einer den Modernisierer gibt und ein anderer den Traditionalisten.
Burchardt: Herr Scharping, ich sehe Sie auf dem Mannheimer Parteitag da noch sitzen, als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, dass Sie verloren hatten, also aus dem Amt geputscht, ich nehme jetzt mal Ihr Wort auf, aus dem Amt geputscht worden sind. Sie wirkten wie konsterniert. Haben Sie es wirklich nicht geahnt und waren Sie nicht drauf vorbereitet?
Scharping: Falsch, ich wusste das Ergebnis, ich wusste das Ergebnis. Als ich dort saß und das Ergebnis verkündet wurde, wusste ich es schon.
Burchardt: Sie wirkten aber konsterniert.
Scharping: Vielleicht wirkte ich nur gefasst und habe versucht, mich zu beherrschen.
Burchardt: Ja, Johannes Rau hat ja auch gesagt, Sie hätten eine fabelhafte Rolle damals gespielt. Und Sie sind dann trotzdem als Stellvertreter angetreten. War das für Sie nicht eigentlich ein Schritt, wo Sie, ja, neben sich treten mussten und sagen "Ist mir egal, ich bin jetzt hier wirklich rausgedrängt worden, aber ich mache trotzdem weiter". Man sagt Ihnen ja auch nach diesen Spruch "Man kann mal hinfallen, aber man muss wieder aufstehen".
Scharping: Das ist richtig, ja. Also Niederlagen sind nichts Außergewöhnliches. Sie sollten nicht ständig kommen, aber die ein oder andere Niederlage erleben Sie in der Politik. Sie stürzen beim Radfahren oder auch sonst. Das Hinfallen ist keine Schande, aber aufstehen sollte man wieder. In Mannheim war das eine ganz andere Überlegung. Ich hatte eine hinreichende Zahl von Informationen über das, wie Helmut Schmidt, wie Georg Leber, wie andere darauf reagiert haben oder reagieren wollten …
Burchardt: Gegenwehr zwecklos?
Scharping: … Nein, nein, nicht Gegenwehr zwecklos. Ich wollte vermeiden, dass in der SPD eine Diskussion aufkommt, die zerstörerisch gewirkt hätte. Und dann kann man sich nicht einfach aus der Verantwortung zurückziehen. Anders war das 1998 mit dem Amt des Verteidigungsministers. In der SPD-Bundestagsfraktion gab es eine sehr, sehr klare Mehrheit für Scharping und gegen Lafontaine. Die Abstimmung wäre als Revanche für Mannheim empfunden worden und insofern von Anfang an politisch belastet gewesen.
Burchardt: Aber Schröder hat sich durchgesetzt.
Scharping: Schröder wollte Lafontaine und Scharping in der Regierung haben, Müntefering auch. Dafür gab es auch einen guten Grund: Ein Partei- und Fraktionsvorsitzender Lafontaine in einer Regierung Schröder mit Joschka Fischer, das geht nicht. Das ging nicht und das geht nicht. Also musste eine Priorität gebildet werden. Und die erste Priorität war aus Schröders, wie übrigens auch aus meiner Sicht, finde eine Aufstellung, die dem Bundeskanzler das entscheidende Wort gibt. Und dieses Wort nicht bindet an eine Autorität, die nicht der Loyalität des Regierungshandelns unterliegt. Um zu begreifen, was das bedeutet, hat Oskar Lafontaine einige Monate gebraucht und dann seine sehr eigenen Konsequenzen daraus gezogen, nämlich erneut abzuhauen.
Scharping: Jetzt ist Serbien auf einem hoffnungsvollen Weg in die Europäische Union.
Burchardt: Der Verteidigungsminister.
Burchardt: Sie sind dann Verteidigungsminister geworden und, man liest es überall, der erste deutsche Verteidigungsminister, der einen Krieg mitzuverantworten hat, zumindest deutsche Soldaten in einen Krieg geschickt hat, nämlich den Kosovo-Krieg, der ja auch völkerrechtlich sehr umstritten ist. Sie haben vorhin ja in hohen Tönen von der friedensreichen Zeit gesprochen, die unsere Generation hat. Ist das nicht für Sie eine schizophrene Situation gewesen?
Scharping: Im Gegenteil. Wir hatten in Bosnien schreckliche Verbrechen, Srebrenica unter anderem. Jetzt ist gerade Karadzic gefasst worden, Gott sei Dank. Er wird jetzt, was ein Triumph des Rechts ist, vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen und mit sehr schweren Vorwürfen konfrontiert sein. Aber, diese Kriege im ehemaligen Jugoslawien hatten in der Mitte der 90er Jahre zu allerlei Debatten in Deutschland geführt. Ich zeichne sie jetzt nicht nach, es kamen nur viele, viele, viele Flüchtlinge nach Deutschland. Und Deutschland sah mehr oder weniger zu. Den Frieden in Bosnien, soweit man von Frieden da überhaupt reden kann, machte das Dayton-Abkommen, machten die USA. Und ich finde, soweit die Mittel reichen und ihr Einsatz verantwortbar ist, sollten wir helfen, dass jedenfalls in unserer Nachbarschaft, das ist Europa zuallererst, in unserem direkten Interessen- und Einflussbereich alles getan wird, um neue Vertreibungen, neuen Völkermord, neuen Rassismus zu verhindern. Das war die Aufgabe. Und ein Aspekt, ein sehr praktischer Aspekt dabei war, zu verhindern, dass so, wie das ja in Italien zu Eruptionen geführt hat, oder in Mazedonien oder Albanien, neue Flüchtlingsströme nach Deutschland kommen, anstatt den Menschen einen Weg zurück zu ebnen in ihre Heimat.
Burchardt: Halten Sie die Situation denn unter diesem Gesichtspunkt für stabiler als früher?
Scharping: Wenn Sie mit Menschen auf dem Balkan reden, ich hatte ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu Zoran Dzindzic, dem dann ermordeten serbischen Premierminister. Ja, es ist nicht ideal, es ist noch längst nicht gut, es ist nicht so, wie wir uns das vorstellen oder wie wir es in Deutschland gewöhnt sind, aber es ist deutlich besser, als in den Zeiten des Krieges. Und jetzt ist Serbien auf einem hoffnungsvollen Weg in die Europäische Union. Und das ist auch die einzige Erweiterung, die ich für noch verantwortbar halte, nämlich, sich die Balkanländer genau anzugucken und nicht zu glauben, wir müssten noch mehr Mitglieder und Menschen in die Europäische Union aufnehmen und dabei die Konsolidierung, die Festigung dieses europäischen Werkes vergessen. Das sollten wir nicht.
Scharping: Die Mehrheit der Bevölkerung fand das in Ordnung.
Burchardt: Skandale.
Burchardt: Herr Scharping, Sie haben im Verlaufe unseres Gesprächs von Siegen, Niederlagen, von dem Auf und Ab gesprochen. Ich kann Ihnen natürlich einige Stichworte nicht ersparen, die für Sie persönlich auch dann doch nachhaltig negative Wirkungen hatten. Da war einmal diese Brutto-Netto-Diskussion, die kann man vielleicht als Petitesse abtun. Allerdings die Entlassung als Verteidigungsminister durch Gerhard Schröder wegen der sogenannten Hunziker-Affäre hat natürlich schon ein anderes Gewicht. Und in dem Zusammenhang wird Ihnen natürlich auch immer wieder vorgehalten diese unsägliche Badewannen- oder Planschbeckenaffäre während der Mazedonien-Krise auf Mallorca. Wie sehen Sie das nachträglich? Wie sehen Sie diese Stichworte nachträglich? Ist Ihnen da Unrecht widerfahren, ist das überbewertet worden oder war es so, dass man Gründe suchte, um Sie in irgendeiner Weise loszuwerden? Sie müssen sich jetzt nicht rechtfertigen.
Scharping: Von meiner, nein, nein, von meiner Seite aus ist das so, dass ich Gründe hatte, sehr deutlich zu machen, dass die Liebe zwischen Kristina Gräfin Pilati und mir nicht ein PR-Gag sei. Dass das in eine Zeit fiel, in die es nun unter keinen Umständen hätte fallen sollen, ist sehr unglücklichen Umständen geschuldet. Ich habe mich dafür entschuldigt und damit mag es auch gut sein.
Burchardt: Welches sind die unglücklichen Umstände?
Scharping: Dass zwischen Einladung zu einer Kabinettsitzung über einen Einsatz in Mazedonien und Druckbeginn leider ein paar Stunden lagen. Da konnten wir den Druck nicht mehr zurückholen, obwohl jeder denkende Mensch wusste, das gibt einen Aufschrei. Für mich ist etwas anderes sehr interessant: Das Bild vervollständigt sich allmählich wieder. Man sieht den Verteidigungsminister, der eine Frau liebt. Es gab Umfragen dazu, die Mehrheit der Bevölkerung fand das in Ordnung, sogar unter den Umständen. Ich habe die Umstände für mehr als unglücklich empfunden, aber gut. Und die Streitkräfte neu aufzustellen, ihnen Möglichkeiten zu geben, mit Mitteln wirtschaftlicher umzugehen, ob das im Fuhrpark, in der Bekleidung oder im europaweit größten Projekt einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft, nämlich dem Bundswehr IT-Projekt "Herkules", ist, oder anderes, das rückt allmählich wieder ins Bewusstsein. Und den Streitkräften eine neue Struktur, eine höhere Führungsfähigkeit, eine bessere Ausrüstung zu verschaffen, mehr zu investieren, das sind in meinen Augen die eigentlichen Aufgaben gewesen. Und von daher glaube ich, dass so schrittweise so der Blick etwas vollständiger werden wird. Und dann gestatte ich mir noch den Hinweis, dass die deutsche Sozialdemokratie in diesem Monat nicht nur was die Zahl der Mandate in kommunalen oder in Länderparlamenten angeht, sondern jetzt auch in der Zahl ihrer Mitglieder gegenüber der CDU auf Platz zwei liegt. Ich werde mich in aktuelle Debatten nicht einmischen. Ich bin nur der Auffassung, dass wir aus der Stärke dessen, was Sozialdemokraten in der Regierung leisten, in Verbindung mit dem, was wir in einer zukünftigen Regierung noch besser machen wollen, dass man das genauer erklären und überzeugender darlegen könnte als heute.
Burchardt: Sie haben mir jetzt leider einen Steilpass gegeben, Herr Scharping. Das wissen Sie als Politprofi. Ich muss Sie natürlich …
Scharping: Ganz unbeabsichtigt war das jetzt auch wieder nicht.
Burchardt: Ich muss Sie natürlich fragen, wie beurteilen Sie die Arbeit von Kurt Beck und wer wäre für Sie der Wunschkandidat, als Kanzlerkandidat für die nächste Bundestagswahl anzutreten?
Scharping: Zu dem letzten muss ich mich nicht äußern. Aber was Kurt Beck angeht, bin ich der Auffassung, dass er in vielerlei Hinsicht sehr ungerecht beurteilt worden ist. Auch da komplettiert sich wahrscheinlich so nach und nach das Bild. Er hat einen grandiosen Fehler gemacht, in meinen Augen, mit dem Zeitpunkt, aber auch mit dem Inhalt dieser sogenannten Öffnung zur Linken hin. Unbeschadet dessen ist er für die Sozialdemokratie ein guter und in einem gewissen Sinne auch unverzichtbarer Vorsitzender. Und das wird deutlicher werden, je mehr Zeit vergeht. Und ich glaube, er ist auch klug, mit den Umständen so umzugehen, dass die SPD am Ende die beste Chance hat.
Scharping: Der Sache nach ist es ein Hinweis auf einen tiefen politischen Konflikt.
Burchardt: Druck auf einen Unbequemen.
Burchardt: Ja, Herr Scharping, was sagen Sie denn dazu, dass die Schiedskommission der nordrhein-westfälischen SPD Wolfgang Clement aus der Partei rausgeschmissen hat?
Scharping: Tja, der Vorstand der SPD, die Führung der Partei sollte sich in diesem Verfahren zu engagieren beginnen, denn das ist der Form nach ein Parteiordnungsverfahren, der Sache nach ist es ein Hinweis auf einen tiefen politischen Konflikt.
Burchardt: Sie sprechen von Form und Sache, aber ist das nicht auch letztendlich ein Desaster für das äußere Erscheinungsbild der Sozialdemokratie, die nun ausgerechnet in dieser Zeit einer ohnehin großen Krise, Sie haben ja auch vorhin schon mal über die Mitgliederzahlen gesprochen, dass in so einer Situation nun so ein Skandal an die Öffentlichkeit geht?
Scharping: Ja, Skandal, das kann ich so nicht nennen. Das ist, wie gesagt, ein normales Verfahren. Und Wolfgang Clement hat ja auch eine Äußerung im Vorfeld der Hessen-Landtagswahlen gemacht, über die man streiten kann. Das gehört zum Wesen auch innerparteilicher Demokratie. Und wenn die SPD unangenehme Meinungen, kritische Auffassungen, abweichende Haltungen nicht aushalten würde, dann wäre es schlecht um die Partei bestellt. Das muss freilich im Rahmen ihrer Grundsatzüberzeugung stattfinden, das ist schon richtig. Und es muss auch fair miteinander umgegangen werden, auch das ist richtig. Aber, hier geht es ja um etwas anderes. Die hessische SPD ist ja in den Landtagswahlkampf gezogen mit einem energiepolitischen Programm, das allem widerspricht, was die SPD bundesweit jemals gesagt hat. Und das ist der Grund, weshalb ich auf den tiefenpolitischen Konflikt hinweise. Am Ende des Tages kann die Sozialdemokratie nicht als führende Kraft in Deutschland wahrgenommen werden, wenn es 16 jeweilige Landesversionen von sozialdemokratischer Politik in Deutschland gibt. Eine schleswig-holsteinische oder eine baden-württembergische oder eine rheinland-pfälzische oder nordrhein-westfälische oder hessische, was auch immer. Das verstehen die Leute nicht. Es muss einen klaren Kurs der Sozialdemokratie insgesamt geben, jedenfalls in den Fragen, die von überragender Bedeutung sind. Und da kann man durchaus diskutieren, muss man wohl auch, aber nicht nach der Methode, dass jeder Landesverband jeweils für sich entscheidet, was aus den Grundsätzen der Sozialdemokratie im jeweiligen Land anwendbar ist und was nicht.
Burchardt: Sie haben zu Anfang davon gesprochen, dass das eine Frage für die Führung, für die Bundesführung der SPD ist. Muss Kurt Beck dann jetzt nicht unmittelbar eingreifen? Er hatte ja im Januar erklärt, die Sache sei geklärt und sei abgeheftet und man wolle nach vorn schauen. Jetzt ist das Desaster da.
Scharping: Ja, wie auch immer, ich gehe davon aus, dass die Führung der SPD in irgendeiner Form zum Beteiligten in diesem Verfahren wird, formell genauso wie politisch.
Burchardt: Wie stehen Sie persönlich zu dieser Situation? Sie gelten ja durchaus auch als ein Freund Wolfgang Clements und auch dessen politischer Auffassungen. Fühlen Sie sich auch selbst da ein wenig betroffen?
Scharping: Ich habe das nicht für glücklich gehalten, was Wolfgang Clement vor der Landtagswahl in Hessen da geschrieben hat, allerdings, das rechtfertigt einen Ausschluss aus der SPD nicht. Und deswegen engagiere ich mich in dieser Debatte, mit einer gewissen Zurückhaltung. Aber völlig klar, wenn wir das einfach so vorüberziehen lassen würden, dann hätte die SPD viele auszuschließen. Hat nicht gerade Helmut Schmidt dafür plädiert, die Frage der Laufzeit der Atomkraftwerke noch einmal zu überprüfen?
Burchardt: Vor diesem Hintergrund gehen Sie davon aus, dass Wolfgang Clement in der SPD bleibt.
Scharping: Er will es und ich hoffe, er kann es.
Burchardt: Vielen Dank, Herr Scharping.