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Die Einsamkeit der Alten auf dem Lande

Demografen rechnen bis 2050 mit einem Bevölkerungsrückgang in Deutschland um mindestens zwölf Millionen Menschen. Immer mehr Menschen ziehen in der Zukunft in die Städte. Der Verlust der Infrastruktur in ländlichen Regionen ist die Konsequenz.

Von Bettina Mittelstrass |
    "Durch den zu erwartenden Bevölkerungsrückgang in Deutschland um mindestens zwölf Millionen bis 2050 haben wir jetzt schon zu beobachten die Tendenz, dass die Menschen in die Gebiete quasi flüchten, wo es noch eine angemessene Infrastruktur gibt, also Schulen, Ämter, Kinos Kultureinrichtungen usw. und die ländlichen Gebiete verlieren diese immer mehr, weil jetzt schon weniger Leute da sind, weil die sich nicht mehr rentieren, wenn sie aus der Privatwirtschaft kommen, diese Einrichtungen, oder weil die Kommunen kein Geld mehr haben."

    Auf dem Land werden Schulen und Schwimmbäder selten, Einkaufsmöglichkeiten verschwinden, Buslinien werden gestrichen, das Polizeipersonal abgebaut. Es kann jedoch nicht darum gehen, sagt Dr. Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, alles zu erhalten, was einmal da war.

    "Das Erhalten, dass man alles so erhält wie es jetzt ist, das ist eine Illusion! Die einzige Alternative wäre, dass wir eine massive, wirklich massive Zuwanderung bekämen, und dann könnten wir die Lücken schließen. Das will die Politik aber genauso wenig wie das Leerlaufen dieser Regionen. Insofern befindet sich die Politik da leicht in einer etwas schizophrenen Lage, dass sie genau weiß, was sie nicht will. Aber sie hat keine Methoden, keine Mittel zu bewirken, was sie will."

    Wenn die Politik keine bessere Idee hat, als Schulter zuckend Schulen zu schließen, dann haben vielleicht die Bürger vor Ort Vorschläge:

    "Die Menschen werden im allgemeinen kreativer, wenn die Probleme wachsen. Und das ist tatsächlich zu beobachten. Generell ist es auf dem Land so, dass die Leute in der Lage sind, sehr viel mehr Dinge selber in die Hand zu nehmen. In der Stadt muss das nicht. In der Stadt funktioniert um mich herum alles. Selbst in Berlin fährt meistens die S-Bahn. Alles ist da. Ich muss nichts als Bürger selbst machen. Je weiter ich aufs Land kommen, desto mehr ist der Bürger gefragt, weil nicht alles organisiert wird."

    Auf dieser Kultur müsse man aufbauen, sagt Reiner Klingholz. Mehr Verantwortung zurück an Bürger im ländlichen Bereich, um das Verschwinden der Infrastruktur aufzuhalten. So lauteten viele Vorschläge auf dem 5. Demographiekongress in Berlin.
    Beispiel: Schulversorgung. Mehr als 2000 Schulschließung gab es bereits im Osten Deutschlands.

    "Das ist ja für die Menschen in den betroffenen Gegenden keine Lösung! Wenn die Schulen schließen, gehen die Familien weg. Die haben ja gar keine andere Möglichkeit. Aber die Schulschließungen sind immer an bestimmten Standards orientiert. Das heißt: Wenn weniger als sagen wir mal 300 Schüler da sind, schließt diese Schule. Das ist ein ganz starres Denken in Strukturen, dass eben eine Schule so und so definiert ist. Wenn ich die Schule als Dienstleistung definiere und sage: Eine Schule ist dafür da, die Kinder schlau zu machen und auf das Leben vorzubereiten, dann ist die Form erstmal völlig egal. Dann kann das eine Zwergschule sein. Es kann eine Schule sein, die an drei verschiedenen Orten turnusmäßig stattfindet. Es kann eine Schule sein, wo die Lehrer pendeln und nicht die Schüler pendeln. Eben diese kleinen neuen innovativen Lösungen, die in Skandinavien gang und gäbe sind! Und zwar sind die dort gang und gäbe, weil die Kommunen die Finanzhoheit und die Entscheidungshoheit über die Schulversorgung haben! "

    Mehr Kompetenzen, mehr finanzielle Freiheit auf der Ebene der Kommunen, damit Bürgermeister mit ihren Bürgern Schulversorgung, Altersversorgung oder den Nahverkehr nach ihren Bedürfnissen planen können. Der Vorschlag baut auch auf einem wertvollen Gut auf: dem Ehrenamt. Unbezahlte engagierte Menschen, die mit überlegen, Lösungen suchen und gegebenenfalls anpacken, die Alte pflegen, Kulturveranstaltungen auf die Beine stellen, Integration fördern, andere motivieren, auch was zu tun. Die fand man bisher im Umfeld der christlichen Gemeinden. Aber inzwischen haben auch die Kirchen ein massives Problem mit der demografischen Entwicklung auf dem Land. Kirchenaustritte sind noch das geringste Problem, sagt Joachim Eicken vom Statistischen Landesamt in Stuttgart. Die Gemeindemitglieder werden auch älter, müssen als Rentner keine Kirchensteuer mehr bezahlen, die Geburten gehen zurück und damit auch die Taufen. Bei dieser Entwicklung kann die Kirche kaum ihre eigene Infrastruktur - zum Beispiel die sozialen Einrichtungen – halten. Die vielen ehrenamtlich arbeitenden Menschen brechen weg.


    "Kirchen haben eine sehr hohe Ehrenamtsquote. An all diesen kirchlichen Infrastrukturen hängt das Ehrenamt mit dran. Die Kirche kann bislang mehr Ehrenamt rekrutieren, als der Staat das machen kann! Und wenn das kirchliche Ehrenamt aber nicht mehr da ist, muss der Staat mit Hauptamtlichen da rein springen. Also es wird auf alle Fälle, was die soziale Infrastruktur bedeutet, deutlich teurer für den Staat, wenn er in die Infrastruktur einspringen muss für die Kirchen, als unter den jetzigen Bedingungen. Und an dieser Entwicklung geht kein Weg vorbei."

    Bleibt dazu noch zu sagen, dass die Bereiche, in denen sich die Kirchen engagieren, nicht kleiner werden mit dem Schrumpfen der Bevölkerung. Eher im Gegenteil.

    "Die Aufgaben der Kirchen wachsen kontinuierlich. Je mehr Randgruppen oder Problemgruppen wir auch in der Gesellschaft haben, auch in den Großstädten, desto mehr muss sich ja die Kirche auch um diese Gruppen kümmern entsprechend ihrem Samariter-Auftrag."

    Für Kommunen im ländlichen Raum gibt es angesichts solcher Probleme Fördermittel von Land, Bund und Europäischer Union. Aber das ist auch keine kluge Lösung, sagt Reiner Klingholz.

    "Damit wird das zivile Engagement quasi unterbunden, weil ich für alles, was normalerweise ein Mensch ehrenhalber gerne machen würde, sofort einen finanzierten Job von der EU habe. Dummerweise dann in einem EU-Projekt, was drei Jahre läuft, und danach läuft das nicht weiter. Das heißt, die sind nicht auf Nachhaltigkeit eingerichtet und sie lernen gar nicht, das zivile Engagement der Bürger dauerhaft abzufragen."

    Der Schuss geht nach hinten los, wenn man weiter auf von oben organisierter Förderung setzt statt auf mündige Bürger, die ihre Infrastruktur selbst regeln sollen.

    "Es ist absehbar, dass viele diese Förderprogramme in Zukunft auslaufen. Die Regionalförderung wird EU weit im Moment anders geregelt und das Prinzip: denen, denen es am schlechtesten geht, die bekommen am meisten Förderung, damit wir eine Angleichung erfahren - von diesem Prinzip verabschiedet sich die EU angesichts des demografischen Wandels! Und dann fallen diese Regionen, die lange von Förderung profitiert haben, natürlich erst recht ins Leere, weil die Mittel fehlen und politische, sagen wir soziale Strukturen entstanden sind, die nicht auf Eigeninitiative aufbauen."

    Gegen den Strom schwimmen und wieder mündiger werden - dazu gehört dann auch, sich zur Wehr zu setzen gegen absurde Richtlinien, die vorschreiben, wie die Infrastruktur auf dem Land, wo kaum einer mehr wohnt, trotzdem auszusehen hat.

    "Es gibt natürlich EU Abwasserrichtlinien, die für jeden entlegenen Weiler einen Anschlusszwang erwirken wollen, damit eine Kläranlage, die vielleicht 10 km entfernt ist, genutzt werden kann. Das ist unendlich teuer, das ist unendlich bürokratisch und das vertreibt letztlich die letzten Bürger noch, weil sie sich das finanziell nicht erlauben können. Für solche Regionen sollte man von den Landräten erwarten, dass sie sich einfach auch mal widersetzen. Dass sie sagen: Wir setzen das nicht um."