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Die einzige Skulptur des Renaissance-Malers Andrea Mantegna?

Zu einer Zeit als die Perspektive in die Malerei einzog und ungeahnte Bildwirkungen möglich machte, verändert sich auch das Menschenbild. Einen anderen Blick wagte auch Andrea Mantegna. Vielleicht war er auch nur ein kleiner Mann. Jedenfalls führt er eine ungeheure Perspektive ein, die Untersicht und äußerst plastische Darstellung der Figuren. Unter anderem die Untersicht auf den toten Christus. Neben seinen Fresken will man nun seine einzige Skulptur entdeckt haben.

Von Thomas Migge |
    Mund und Augen leicht geöffnet, deuten ihre Gesichtszüge Sinnlichkeit an. Ihre Haare wellen sich bis in den Nacken hinab. Sie steht entspannt, das rechte Bein wie bei einer altgriechischen Skulptur leicht nach vorn gestellt. Die Heilige Euphemia ist in ein togaartiges gold-olivfarbenes Gewand gehüllt. Die linke Hand hat sie in das Maul eines Löwen gelegt, der den Kopf zu ihr hochreckt. Die rund 1,80 m grosse Skulptur der heiligen Euphemia steht in einer Nische der Kathedrale von Irsina, im Süden Italiens. In Irsina leben keine 2.000 Menschen: ein scheinbar weltvergessener Ort, aus dem junge Menschen auf der Suche nach Arbeit fortziehen. Doch seit einigen Wochen kommen immer mehr Besucher nach Irsina. Nicht nur aus der Umgebung, sondern auch aus Rom und London, aus Paris und New York, berichtet Don Niccolò, der Priester des Gotteshauses:

    Viele Leute kommen jetzt. Jetzt, wo sich scheinbar alle einig sind, muss ich die Kathedrale geschlossen halten, denn immerhin wird hier ein Kunstwerk aufbewahrt, das einen unschätzbaren Wert hat und dass somit zum Ziel von Kunstdieben werden könnte. Ich denke dieses Objekt wird nicht nur Hochschulprofessoren und Kunstexperten anziehen.

    Deshalb fordert Clara Gelao vom römischen Kulturministerium, dass die Kathedrale von Irsina mit einem ausgeklügelten Alarmsystem ausstattet wird, denn schließlich, so die Kunsthistorikerin und Direktorin der Pinakothek in Bari, steht dort die nachweislich einzige Skulptur von Andrea Mantegna, eines der berühmtesten Maler der italienischen Renaissance:

    Ich frage mich oft, warum man erst jetzt entdeckt hat, dass diese Skulptur von Mantegna stammt. Schließlich steht sie seit Jahrhunderten in der Kathedrale, allerdings bis vor kurzem hinter einem schmutzigen Glas, kitschig angemalt und mit einem Plastikkronenkranz auf dem Haupt. Erst eine gründliche Restaurierung, die ich anordnet habe, hat gezeigt, das wir es mit einem Meisterwerk der Renaissancekunst zu tun haben. Niemand wusste, woher diese Skulptur kam, es gab nur Hypothesen.

    Clara Gelao wollte wissen, was es mit der heiligen Euphemia auf sich hat. Was sie entdeckte, verschlug ihr den Atem und sorgt in der internationalen Kunstszene für Aufregung, denn man darf nicht vergessen, dass von Andrea Mantegna bisher nicht eine einzige Skulptur bekannt war. Gelao fand heraus, dass die Heiligenskulptur im 15. Jahrhundert nach Irsina gelangt war. Damals hieß die Ortschaft noch Montepeloso. Ein Intellektueller aus Montepeloso, Roberto de Amabilibus, Rektor der Kirche San Daniele im norditalienischen Padua, hatte das Werk anscheinend 1454 bei Mantegna in Auftrag gegeben. Grund dafür war die Erhebung Montepelosos zu einem Bischofssitz. Zusammen mit anderen von Amabilius in Auftrag gegebenen Werken gelangte die marmorne Heiligenskulptur in die Basilikata - und wurde vergessen. Bestätigung findet diese Geschichte in einem Gedicht, dass Pasquale Verrone, Erzdiakon von Montepeloso, 1592 niederschrieb. Ein Text, den Clara Gelao im Archiv der Kathedrale von Irsina ausgrub. In diesem Gedicht wird ausführlich beschrieben, welche Kunstgegenstände Roberto de Amabilius aus Padua in den Süden schickte - als Schenkung an die neue Bischofskirche. Clara Gelao:

    Wir können nur Hypothesen aufstellen aber schauen Sie: wer den Malstil Mantegnas kennt, sieht sofort die Übereinstimmung mit der Skulptur. Die Tatsache, dass ein junger Mantegna sie schuf, schließt aus, dass ein Schüler dieses Werk geschaffen haben könnte. Im Jahr des Entstehens der Heiligen Euphemia besaß Mantegna bereits seinen unverwechselbaren Stil, einen Stil, den auch die Skulptur aufweist. Im Fall der Skulptur wurde das Typische in Mantegnas Malerei in Bildhauerei umgesetzt.

    Ein weiteres Indiz für ihre These findet sich ebenfalls in der Kathedrale von Irsina: eine vier Meter hohe Säule aus rotem veroneser Marmor, ebenfalls eine Schenkung von Roberto de Amabilius. Die Säule wird in dem Gedicht von 1592 als Standort der Skulptur Mantegnas beschrieben. Tests ergaben, dass die Figur tatsächlich wie angegossen auf die Säule passt.

    Die These Clara Gelaos hat in den letzten Wochen viele andere Mantegnaexperten in das verschlafene Irsina gelockt. Darunter auch Vittorio Sgarbi aus Rom, David Landau aus London, der 1992 mit einer großen Mantegna-Schau hunderttausende von Besuchern anzog, und auch den Renaissanceexperten Anthony Radcliffe vom britischen "The Art Newspaper": sie alle staunten und gaben zu, dass ihrer Kollegen aus dem süditalienischen Bari eine große Entdeckung gelungen war.