Sein neuer, 1997 in Israel und soeben in der Übersetzung von Anne Birkenhauer erschienener Roman "Die Eismine" erzählt nun erstmals vom Sterben und vom Überleben im Ghetto und im Lager. Aber "Die Eismine" ist ein Roman, kein authentischer Bericht, und auch wenn Appelfeld, dessen Erzähler, so wie Appelfeld selbst mit zweitem Namen, "Erwin" heißt, mehr als zuvor auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreift, ist dies ein Roman: die epische, also exemplarisch und übertragbar konstruierte Erinnerung einer fundamentalen, das Leben der Erfahrenden eisig unterminierenden Traumatisierung.
Am Ende dieses großen eindrucksvollen Buches, als die deutschen Quäler und Folterer fort sind und die Lager befreit auf dem unendlich langsamen Weg zu einem "Nachhause", das es ja nicht mehr gibt, reflektiert der knapp zwanzigjährige Erwin: "Das lange Sitzen am Wasser hat mir klargemacht, daß ich nicht mehr der bin, der ich einmal war. Wahrscheinlich bin ich doch genauso groß, doch mein Gesicht ist bis zur Unendlichkeit verwandelt, und wenn ich in meine Stadt zurückkehre, wird man mich nicht erkennen. Sogar Mutter und Vater werden mich nicht erkennen, und ich werde schreien: Ida, warum erkennst auch du mich nicht? Diese Fremdheit ist schlimmer als alles, was ich im Lager erlitten habe. Ich hole aus mir die vielen Worte herauf, die ich früher einmal verwendet habe: Substantive, Verben, Adjektive, doch je mehr von ihnen ich berge, umso entsetzlicher wird die Entfremdung. Nie mehr werde ich so sein wie früher, ich werde von nun an in völliger Einsamkeit leben müssen."
Es ist jene Einsamkeit in der Gesellschaft, von der viele Romane Appelfelds aus dem Leben in Israel handeln. Das erste von 52 Kapiteln des Romans beginnt mit dem Satz "Schon zwei Monate sind wir hier; und das ist eine Ewigkeit." Es ist der Mai 1943, das sogenannte "Arbeitslager" liegt am Bug in der Ukraine, die Männer müssen eine Brücke aus Baumstämmen über den Fluß schlagen. Die Zeit steht still, "sie sickert in dich ein", das "Leben verläuft in einer entsetzlichen Ordnung". Erfahren und erzählt wird diese Lagerzeit im unaufhörlich Gegenwärtigen, im Präsens. Unendlich weit, und doch nur zwei Monate, zurück liegt die Zeit davor, die Zeit im Ghetto, wo es aber noch so etwas wie ein Zuhause gab, ein wahrgenommenes Leben: mit Eltern, Freunden, der Geliebten Ida, mit einer, freilich erzwungenen, leichteren Arbeit in Uniformnähereien oder Munitionsfabriken für die Deutschen. Diese Zeit memoriert Erwin im Lager am Bug schon im zweiten Kapitel, imperfekt, unvergangen für die Erinnerung, das einzige und trotz allem so farbige Leben, an das man sich noch hallen kann.
Im Mittelpunkt dieses Lebens steht, fast unauffällig, jedenfalls unaufdringlich, der hilfreiche Jude Honig, in dessen zum geheimen Café umgerüsteter kleiner Wohnung sich alle treffen: "Dort vergißt du einen Moment den Krieg um dich herum und daß du im Ghetto bist, daß deine Freunde deportiert wurden und Gerüchte wie böse Geister umherschleichen, du trinkst einen Schluck Kaffee, und dich überfällt ein Vergessen, bis du nichts mehr siehst." Honig ist ein Kristallisationspunkt menschlicher Zivilität, geradezu ein Weiser der verlorenen Normalität, einer, der später, als auch er ins Lager am Bug kommt, auch dort nicht niedrig wird, sich nicht erniedrigen läßt: ein Mensch in der Hölle, leise und stet.
Zur Farbe, zu solchem Leben, das erinnert wird, gehören aber eben nicht nur die positiven Seiten: die Liebe, das begrenzte Vergnügen, die freundlichen Gespräch, sondern auch der Streit, und an seinen Ausbrüchen und Verläufen zeigt sich der Grad der Verzweiflung, die noch nach den unsinnigsten Gründen fragt, womit denn dieses Schicksal verdient sei, und in denen manchmal ein Selbsthaß zum Ausdruck kommt, der zur Selbstaufgabe des Judentums und zur Erfüllung der Forderungen seiner Peiniger aufruft, vergessend, daß die doch nichts als seine grundlose Vernichtung betreiben.
Dagegen ist die Lagerzeit eine fast stumme Zeit, die Erinnerung an die Vergangenheit könnte das Leiden nur noch unerträglicher machen, die Männer konzentrieren sich auf das bloße Überleben, und sie sind solidarisch: "Der Hunger ist der Tod vor dem Tod. Er dringt in die Knochen und zerkrümelt die Seele. Zuerst erstickt dein Reden, dein Gesicht quillt auf, immer öfter stolperst du. Dann dauert es nicht mehr lange, und du lebst in einer Wolke von Halluzinationen. Erst merken es deine Gefährten nicht, und wenn sie es endlich merken, versuchen sie, dich da herauszuziehen. Sie drängen dich, Wasser zu trinken, zweigen etwas von ihrer Suppe ab und geben es dir dazu, sie reden auf dich ein, wollen dich überzeugen, daß du nicht schwach werden, nicht aufgeben darfst, immerhin gibt es hier Menschen, die dich lieben und brauchen, derentwegen es sich zu leben lohnt." Doktor Buchbinder, ein"angeschener Gymnasiallehrer", ist "diensthabender Verantwortlicher", sorgt sich um seine Gruppe: deportierte Ingenieure, Fabrikanten, Ladenbesitzer, Händler, Makler, ein ehemaliger Offizier namens Stahlnacht...
Hinzu kommen Figuren, die Appelfeld mit tieferen Bedeutungen auflädt: "Pinchas, ein kleiner, schmaler Mann, ist ganz anders...Sein Glaube hat seine Gesichtszüge geprägt." Er ist ein frommer Außenseiter, betet regelmäßig und laut, doch die anderen zwingen ihn, seine religiösen Übungen heimlich und stumm zu verrichten. Sie beobachten das Verhalten des religiösen Juden argwöhnisch, halten die Religiösen allesamt für Fanatiker: "Ein religiöser Mensch ist entweder ein Betrüger oder ein Heuchler - bestenfalls ein Einfaltspinsel, dem nicht mehr zu helfen ist."
Oder Buzzi - ein riesiger, kraftvoller Mensch, auch er ein, freilich naiv Frommer: Stets hilfsbereit, achtet er darauf, daß vor seinem Gott keiner frevlerisch redet. Und wenn die "Uniformierten", die das Lager bewachen, über die arbeitenden Gefangenen herfallen, um sie zu quälen, schimpft er: "So geht man nicht mit arbeitenden Menschen um." Die Mitgefangenen nehmen ihn wahr als einen Menschen, in dem "noch ein Ehrgefühl glimmt, das uns längst abhanden gekommen ist." Buzzi ist schließlich auch, freilich etwas märchenhaft und wie ein symbolisches Fanal besetzt, der Retter des Lagers und seiner Männer, er steckt die Versorgungsbaracke an und vertreibt die Wachen, er "fachte das Feuer an, und in diesen riesigen Flammen fuhr er selbst zum Himmel auf".
So führt Appelfeld den bei aller Bemühung um paradigmatische und also symbolische Gültigkeit äußerst realistisch erzählten Roman gegen Ende zunehmend ins Musterhafte, in dem sich auch künftige Entwicklungen im später entstehenden Staate Israel spiegeln. Zum Beispiel bemächtigt sich da, als das Lager aufgelöst ist, der ehemalige Offizier der von den Deutschen zurückgelassenen Waffen und sammelt Gleichgesinnte um sich, die er an den Waffen ausbildet und drillt.Und bezichtigt nun den Doktor Buchbinder, der von den Deutschen während der Lagerzeit zwangsweise als "diensthabender Verantwortlicher" eingesetzt worden war, der Kollaboration - woraufhin Buchbinder sich in den Bug stürzt: nicht als Schuldiger, sondern weil "er sich nicht verzeihen konnte".
Während Stahlnacht sich seine Truppe formt, verlassen der Erzähler und einige andere den Lagerort und machen sich auf den Heimweg: "Wir werden nach Hause zurückkehren und erzählen, wie wir die Brücke über den Bug gebaut haben und wie wir dabei gequält worden sind, doch niemand wird uns glauben, und da uns niemand glauben wird, werden auch wir zu glauben aufhören." Es wird ein Heimweg, der keine Heimat kennt, sondern nur die Erinnerung und das Schweigen: "Wir werden von hier nicht mehr loskommen, egal, wie viele Tausende von Kilometern wir uns entfernen ...Die Bilder des Lagers standen uns deutlich vor Augen, und doch f'ürchteten wir, wenn wir nach Hause kämen und auch nur eine Silbe sagen wollten, stumm wie Steine dazustehen."
Schließlich stirbt auch Honig, der den Erzähler durch diese Hölle begleitet hat. Und die wenigen, die noch übrig sind, begraben ihn am Ufer des Bug, bitten, damit es zehn sind, noch einige vorüberziehende Flüchtlinge hinzu, um ihm ein Kaddisch zu sprechen. Und sie sahen aus, "als zögen sie in einen neuen Kampf'. Es ist ein anderer Kampf als der, den Stahlnacht im Sinne hat.
Es wird ein Kampf sein in Palästina und dann im neuen Staate Israel, nicht nur gegen die arabischen Gegner außen, sondern auch gegen die Verachtung, die anfangs im Inneren den Überlebenden des deutschen Vernichtungswillens entgegengebracht wurde. Den Kämpfern für ein neues Israel war unbegreiflich, daß sich die europäischen Juden wie Lämmer zu Schlachtbank hatten führen lassen. Aber auch an ein anderes Tabu der israelischen Gesellschaft rührt Appelfeld, auch in diesem Buch: indem er nämlich seine Figuren die Frage nach Schuld und Strafe stellen läßt, die nicht nur der unfaßbaren Verfolgung, Folter und Vernichtung entspringt, sondern auch die Vorstellungen von einem gerechten Gott berühren. "Diese Frage ist in jüdischen Kreisen ein Tabu, weil die von 1945 bis heute immer mal gegebene Antwort, die Schoah sei die göttliche Strafe für die Assimilation, traditionell-religiös richtig' und gleichzeitig unerträglich menschenverachtend ist." schreibt Ute Bohmeier. Womit Appelfeld sowohl den Gottesglauben als auch den israelischen Lalzismus unterminieren sofern der nur mit"Klischees von den Nazi-Bestien und den widerstandslosen, bis etwa 1967 verachteten Diaspora-Juden" operiere.
Aharon Appelfelds Judentum ist weder religiös noch Institutionen: Es ist für ihn eine individuelle Existenzerfahrung und eine fundamentale Lebensentscheidung. Llnd es läßt sich weder politisch funktionalisieren noch literarisch operationallsieren. Denn die "Eismine" liegt unter der jüdischen Existenz: "Die Träume sind geheime Tunnel, durch die wir zurückkehren, so daß wir einen Moment lang wieder sind, wer wir waren."