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Die Elite wandert aus

Sie arbeiten als Kfz-Mechaniker, als Schreiner, Klempner, als Kindermädchen oder in der Gastronomie: Rund 400.000 Litauer haben seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 ihr Land als Arbeitsmigranten verlassen. Das ist mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung der kleinen Baltenrepublik. Die beliebtesten Ziele sind nach wie vor Großbritannien und Irland, denn in diesen Ländern gab es nach der EU-Ost-Erweiterung von Anfang an keine Übergangsfristen für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Ländern. In Litauen selbst herrscht mittlerweile ein Mangel an Facharbeitern.

Von Matthias Kolb | 04.05.2006
    Die Wartehalle des Flughafens in Kaunas ist voll besetzt. Einige wenige westliche Touristen decken sich im Duty-free-Shop mit Wodka und Zigaretten ein. Die meisten Wartenden auf den Flug nach London sind jedoch Litauer zwischen 20 und 30. Niemand blättert in Reiseführern, die Leute tippen auf ihren Handys herum oder telefonieren. Auf einer Bank sitzt der 24-jährige Vaidas. Er arbeitet seit mehr als drei Jahren als Zimmermann in London:

    Er habe das Land aus einem einfachen Grund verlassen, erklärt Vaidas. In London verdient er mehr als doppelt so viel wie in Litauen. Heute hat Vaidas mehr Freunde in London als in seiner Heimat. Nach Litauen kommt er nur zurück, um seine Familie zu besuchen.

    Litauische Behörden schätzen, dass im Großraum London zwischen 100.000 und 150.000 Litauer leben. Es gibt eigene Kneipen, Internetforen und einen engen Zusammenhalt. Etwa 100.000 haben sich rund um Dublin niedergelassen, weitere fünfzigtausend in Spanien. England und Irland sind aus zwei Gründen beliebt: Wegen der Sprache und der so genannten Freizügigkeit. Beide Länder führten nach der EU-Erweiterung keine Übergangsfristen für Arbeitskräfte aus Osteuropa ein. Die Litauerinnen arbeiten in der Gastronomie und als Kindermädchen, die Männer als Kfz-Mechaniker, Schreiner oder Klempner. Viele wollen Geld für die Zukunft zurücklegen oder so den Bau eines Hauses finanzieren.

    Deshalb kehrte der 28 Jahre alte Mindaugas 1997 Litauen den Rücken und begann in England als Maler zu arbeiten. Zwei Jahre wolle er noch in London bleiben und sich erst dann in Kaunas niederlassen, wenn die Lage im Baltikum besser geworden sei. Für ihn steht fest: Litauen bleibt seine Heimat und er wird nicht für immer im Ausland bleiben.

    Für einige jedoch ist die Ferne mittlerweile zur Heimat geworden. Die litauischen Politiker sahen die Auswanderung lange Zeit positiv: Die Arbeitsmigranten schickten Geld nach Hause und entlasteten den Arbeitsmarkt. Doch seitdem immer mehr Akademiker als Handwerker im Ausland arbeiten, wird über das Thema kontrovers diskutiert. Die Konservativen fürchten, dass die Kinder der Auslands-Litauer künftig nicht mehr Litauisch sprechen werden und alle Parteien wollen verhindern, dass die Elite abwandert. Ein neues Gesetz soll deshalb verhindern, dass Rückkehrer doppelt besteuert werden.

    Experten rechnen damit, dass Löhne und Gehälter in der nächsten Zeit um zehn Prozent pro Jahr steigen werden, um die Arbeitskräfte im Land zu halten. Spielraum dafür gibt es: Die litauische Volkswirtschaft wuchs im Jahr 2005 um sieben Prozent und momentan liegt das Durchschnittseinkommen bei 400 Euro pro Monat.

    Dass das Leben in Westeuropa auch Nachteile hat, ist den Auslands-Litauern bewusst. Neben den hohen Lebenshaltungskosten sind dies etwa die Arbeitsbedingungen: In London muss Vaidas sechs Tage in der Woche hämmern und bohren, während er in Vilnius oder Kaunas das Wochenende mit seiner Freundin verbringen könnte:

    Mittlerweile sind gute Handwerker in Litauen so selten geworden, dass Maler und Klempner ebenso gut verdienen wie Manager. Einige Politiker haben sogar vorgeschlagen, Visa an Weißrussen, Ukrainer und Moldawier zu vergeben, um die fehlenden Arbeitskräfte etwa im Straßenbau zu ersetzen.

    Es gibt aber auch gut ausgebildete junge Leute, die im Land bleiben. Die 27 Jahre alte Jurate arbeitete zwar mehrere Sommer in Amerika, doch sie blieb nach dem Studium in Kaunas, weil sie hier einen guten Job bekam und viele ihrer Freunde in Litauen arbeiten.