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Die Entdeckung der Kreativität

Die Dichter waren dem Philosophen Platon nicht geheuer. Er bewunderte zwar ihre Inspiration, glaubte sogar, dass göttliche Kraft im Spiel sei, wenn Dichter kreativ sind; aber zugleich misstraute er den Produkten ihrer Fantasie. Platon argwöhnte, dass die Dichter mit ihren Bildern und erfundenen Geschichten die Jugend auf Abwege führen. Deshalb verbannte er die Dichter aus seinem Idealstaat.

Von Peter Leusch |
    Platons Urteil prägte den Mainstream der Philosophie: Von dem strengen Geschäft der philosophischen Wahrheitssuche solle man die Kreativität gefälligst fernhalten. Umso mehr ist sie bei Künstlern zu Hause, bei technischen Erfindern und bei Genies wie Albert Einstein, die bahnbrechende Ideen hervorbrachten.
    In diesen Tagen jedoch – und man reibt sich bei dieser Nachricht verwundert die Augen – dreht sich der 20. Deutsche Philosophiekongress um das Thema Kreativität. Handelt es sich bloß um ein Zugeständnis an den Zeitgeist im Einstein-Jahr?

    Keineswegs - Günter Abel, Präsident der deutschen Gesellschaft für Philosophie, zugleich Organisator des Kongresses, überrascht mit einer brisanten These zum Verhältnis von Philosophie und Kreativität:

    "Ich denke, dass die traditionelle Metaphysik - und die Philosophie bis letzte Woche ist immer Metaphysik gewesen - auf eine ganz charakteristische Weise die Kreativitätsfrage vergessen hat, oder übersprungen hat, oder ich will es einmal noch zugespitzter sagen, eigentlich hat sie ihren ganz genuinen Charakter auf der Strecke gelassen. … Denn ich würde die These vertreten, die Philosophie selbst - wenn sie genuin als Aktivität des Denkens, des Fortgangs und des Versuchs gefasst wird, den Dingen irgendwie auf die Schliche zu kommen - diese ganze philosophische Anstrengung ist aus sich heraus ein Schauplatz von Kreativität allererster Güte."

    Günter Abel spricht von der Kreativitätsvergessenheit der Philosophie.
    Und er hat eingeladen über die verpönte Kreativität als Herzstück des Philosophierens nachzudenken.

    Bislang waren es eher die Psychologen, die sich wissenschaftlich mit Kreativität befasst haben. Da ging es vor allem um Persönlichkeitsmerkmale entlang der Frage: Was charakterisiert Menschen, die offen sind für Neues, die intuitive Stärken haben und im Chaos bislang unbekannte neue Strukturen entdecken. Die Philosophie, so Abel, solle einen anderen Zugang wählen, nicht das Profil von Personen, sondern die Eigenart kreativer Prozesse untersuchen.
    "Also da geht es zum Beispiel darum: … Was passiert eigentlich, wenn wir die Methoden einer Disziplin, etwa der Physik, mit Methoden einer anderen Disziplin, etwa der Mathematik, vergleichen und zusammenbringen?
    Was passiert, wenn wir überkommene Standards und Regeln, weil wir merken, die funktionieren nicht mehr so recht in der Beschreibung, verlassen oder gar verletzen? Was passiert eigentlich, wenn wir eine gezielte Regelverletzung betreiben? … In der Musik, denken Sie an Schönberg, der alle Praktiken in der tonalen Kompositionstechnik bestens beherrschte, und dann an einem bestimmten Punkt das Gefühl hatte, die Einsicht hatte, diese Mechanismen sind jetzt einigermaßen ausgereizt, wie ist es, wenn wir das tonale System als ganzes suspendieren und einmal in den Bereich atonaler Musik gehen."

    Dem Thema Kreativität widmet sich der Philosophiekongress auf 25 verschiedenen Teilfeldern, in so genannten Sektionen, um die Vielfalt der Aspekte in Vorträgen und Diskussionen differenziert zu erörtern. "Können Computer kreativ sein" lautet ein Vortrag in einer Sektion, in einer anderen streiten die Vertreter der philosophy of mind über die Ergebnisse der Hirnforschung. Und im weiteren begegnet man den klassischen Teildisziplinen der Philosophie: Ästhetik, Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Ethik bis hin zu einer Sektion, die die kulturelle Prägung von Kreativität beleuchtet. Dort lockt ein Vortrag mit der Titelfrage: "Warum werden in jeder Tradition bestimmte Fragen nicht gestellt?"
    Aber bei dem ganzen Unterfangen dieses Kongresses, muss man sich darüber im klaren sein, dass es in der Philosophie große Gräben zwischen den verschiedenen Schulen gibt. Anders als bei Naturwissenschaftlern geht der Dissens bei Philosophen so sehr ins Grundsätzliche, wie Odo Marquard es einmal pointierte – dass 10 Prozent der Philosophen die übrigen 90 Prozent Prozent gar nicht für Philosophen halten. Deshalb wird man auf dem Kongress schon völlig kontrovers in der Frage sein, was überhaupt unter Kreativität zu verstehen sei.

    "die einen sagen, das sind alles nur Hirnfunktionen; die anderen sagen, dass ist eine Geschichte die nur mit den Sprachfunktionen zu tun hat; die dritten sagen, das sind mentale Prozesse, die du nie auf die Hirnfunktionen reduzieren kannst,
    und auch nicht einfach nur - würden die vierten sagen - auf sprachliche Grammatik und Sprachlogik reduzieren kannst, gut dann haben wir vier, fünf verschiedene Zugangsweisen, … jetzt setzen wir uns mal zusammen, wir wollen gar keine Einheit haben, aber wir wollen Funken herausschlagen, dass wir in der Beschreibung des Phänomens, und vielleicht in einer grundbegrifflichen Klärung ein Stück weiterkommen … Und ob wir weiterkommen, hängt an einer entscheidenden Komponente, ob diejenigen, die ihre unterschiedlichen Schulansätze ins Spiel bringen, ob sie wirklich bereit sind, sich den Herausforderungen, die das Thema stellt, auszusetzen."

    Sich auf Kreativität nicht bloß als Untersuchungsthema, sondern als Fähigkeit einzulassen, rührt ans Selbstverständnis der Philosophie. Traditionell ist sie an sicheren Fundamenten orientiert, auf denen sich ein stabiles Theoriegebäude errichten lässt. Sich der Kreativität zu öffnen bedeutet, dieses feste Haus zu verlassen, neue Wege zu gehen, experimenteller zu denken im Sinne von Wittgenstein, der schrieb: In der Philosophie sind die Fragen wichtiger als die Antworten.
    Man darf auf die Ergebnisse des Philosophiekongresses gespannt sein. Was erwartet sein Organisator Günter Abel selbst?

    "Meine Erwartung ist überhaupt nicht, dass … der Kongress so eine Art Summe zieht zu dem Thema Kreativität, sondern dass er diese Unruhepunkte, die mit der Thematik im Kern verbunden sind, aufnimmt und wir gewissermaßen mit einer Woche hier zu tun haben, wo die Geister alle beunruhigt werden, aber nicht mit sicheren Definitionen nach Hause gehen."