Die Wiener Architektin Grete Schütte-Lihotzky, die im Reformwohnungsbau der 20er Jahre besonders mit ihrer "Frankfurter Küche" von sich reden machte, erinnerte sich als alte Dame oft daran, wie sie als Studentin von ihrem Professor aufgefordert wurde, sich erst einmal anzusehen, wie die Armen im schönen Wien wohnten. Sie tat es und wurde Sozialistin. Wie es in der angespannten Enge lichtloser gedrängter Wohnungen und trostloser Hinterhöfe zuging, davon hatten die Bewohner bürgerlicher Wohnviertel oft nicht die leiseste Ahnung. Folglich waren die Schriftsteller, Künstler und Journalisten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert bei den Verlierern des industriellen Fortschritts recherchierten, Forscher, die ebenso gut aus Afrika hätten berichten können. Ihre Ausflüge waren Expeditionen, ihre Motive exotisch, ihre Wirkung oft fragwürdig.
Nicht das Großstadtelend selbst ist das Thema dieser Ausstellung, sondern seine Betrachter. Wie war das zum Beispiel 1904, als in der Wiener Urania die Diaschau eines Journalisten und eines Fotografen zum Publikumsrenner wurde? Sie hieß "Durch die Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens" und ist in Wien nun zum ersten Mal seit damals wieder zu sehen. Kolorierte Bilder zeigen Menschen, die auf dem nackten Boden eines Schachts, unter einem Dach aus Zweigen, in einem Ziegelofen, in sichtlich verwanzten Asylbetten nächtigen. Menschen ohne Namen und ohne Geschichte. Margarethe Szeless, eine der drei KuratorInnen der Ausstellung:
" Man hat Typen aus der Wiener Unterwelt vorgeführt oder DIE Armut oder DEN Londoner Straßenkehrer, das bedient die Schaulust, aber macht wenig aufmerksam auf Einzelschicksale "
Bei der Vorstellung, dass solche unerhörten Schicksale sich im Bannkreis der Großstadt, ja direkt unter den eigenen Füßen, in den Gängen der Kanalisation, abspielten, empfand das Publikum durchaus einen Kitzel. Mit dem Aufkommen der Massenmedien wurde auch das Dilemma der Sozialreportage geboren.
" Man kann nur am Beispiel des Wiener Boulevardblattes , des Extrablatts, ab den 1880er Jahren eine Häufung von Elendsdarstellungen, aber das geht in Richtung Sensation."
Die schlimmen Szenen auf den Titelbildern des Wiener Extrablatts - zum Beispiel die Frau, die sich unter der Überschrift "Die Verzweiflung einer Mutter" mit ihren Kindern von der Brücke stürzt - waren angeblich nach fotografischen Vorlagen gezeichnet. Dass nicht alle Fotos auf Zeitungspapier reproduzierbar waren, hatte einen Vorteil: In der Zeichnung konnte man an der Dramatik ordentlich nachbessern. Aus solchen Sensationsberichten leitete sich die bildkritische Tendenz der sozialistischen Bewegung ab, die lange nur dem geschriebenen Wort aufklärende Wirkung zutraute - Max Winter von der Arbeiterzeitung wurde berühmt mit Reportagen, für die er sich verkleidete und als Obdachloser, Kanalputzer oder Taglöhner von "Ganz unten" berichtete - so wie später Günther Wallraff. Dass Winter den Gegensatz zu seiner bürgerlichen Existenz deutlich genoss, schmälert ihn nicht, aber es zeigt den immer gegenwärtigen Zwiespalt der Motive. Schon Gustave Dorés frühe kolorierte Zeichnungen aus den Armenvierteln des viktorianischen London tragen ein pittoreskes Flair, wie es der Künstler auch aus dem Orient hätte mitbringen können. Doch als Entdecker des Elends vor der Haustür war Doré ein Pionier, so wie seine Zeitgenosse Charles Dickens, der geradezu das soziale Gewissen seiner Epoche verkörperte im früh industrialisierten England.
" Ein gutes Beispiel dafür, dass man doch auch was bewirkt hat, ist der amerikanische Sozialreporter Jacob A. Rijs, mit seinem Buch "How the Other Half Lives" von 1890."
Ein Titel, der sprichwörtlich geworden ist. New Yorker Kinder in einer vollgemüllten Absteige, eine italienische Mutter, ihr Baby zwischen Fässern und Säcken wiegend, die Bewohner einer Hinterhausgasse, die den Betrachter wie von der Bühne herab ernst anblicken. In den vom Magnesiumblitz starr gebannten Gesichtern findet der Betrachter von heute Erinnerungsmomente cineastischer Ästhetik, und man glaubt gern, dass diese Bilder Martin Scorcese inspirierten, als er "Gangs of New York" drehte. Jacob Rijs Engagement zeigte tatsächlich politische Wirkung; aber nicht allein wegen seiner Fotos, sondern weil er sich tätig als Sozialreformer engagierte.
Link: Wienmuseum
Nicht das Großstadtelend selbst ist das Thema dieser Ausstellung, sondern seine Betrachter. Wie war das zum Beispiel 1904, als in der Wiener Urania die Diaschau eines Journalisten und eines Fotografen zum Publikumsrenner wurde? Sie hieß "Durch die Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens" und ist in Wien nun zum ersten Mal seit damals wieder zu sehen. Kolorierte Bilder zeigen Menschen, die auf dem nackten Boden eines Schachts, unter einem Dach aus Zweigen, in einem Ziegelofen, in sichtlich verwanzten Asylbetten nächtigen. Menschen ohne Namen und ohne Geschichte. Margarethe Szeless, eine der drei KuratorInnen der Ausstellung:
" Man hat Typen aus der Wiener Unterwelt vorgeführt oder DIE Armut oder DEN Londoner Straßenkehrer, das bedient die Schaulust, aber macht wenig aufmerksam auf Einzelschicksale "
Bei der Vorstellung, dass solche unerhörten Schicksale sich im Bannkreis der Großstadt, ja direkt unter den eigenen Füßen, in den Gängen der Kanalisation, abspielten, empfand das Publikum durchaus einen Kitzel. Mit dem Aufkommen der Massenmedien wurde auch das Dilemma der Sozialreportage geboren.
" Man kann nur am Beispiel des Wiener Boulevardblattes , des Extrablatts, ab den 1880er Jahren eine Häufung von Elendsdarstellungen, aber das geht in Richtung Sensation."
Die schlimmen Szenen auf den Titelbildern des Wiener Extrablatts - zum Beispiel die Frau, die sich unter der Überschrift "Die Verzweiflung einer Mutter" mit ihren Kindern von der Brücke stürzt - waren angeblich nach fotografischen Vorlagen gezeichnet. Dass nicht alle Fotos auf Zeitungspapier reproduzierbar waren, hatte einen Vorteil: In der Zeichnung konnte man an der Dramatik ordentlich nachbessern. Aus solchen Sensationsberichten leitete sich die bildkritische Tendenz der sozialistischen Bewegung ab, die lange nur dem geschriebenen Wort aufklärende Wirkung zutraute - Max Winter von der Arbeiterzeitung wurde berühmt mit Reportagen, für die er sich verkleidete und als Obdachloser, Kanalputzer oder Taglöhner von "Ganz unten" berichtete - so wie später Günther Wallraff. Dass Winter den Gegensatz zu seiner bürgerlichen Existenz deutlich genoss, schmälert ihn nicht, aber es zeigt den immer gegenwärtigen Zwiespalt der Motive. Schon Gustave Dorés frühe kolorierte Zeichnungen aus den Armenvierteln des viktorianischen London tragen ein pittoreskes Flair, wie es der Künstler auch aus dem Orient hätte mitbringen können. Doch als Entdecker des Elends vor der Haustür war Doré ein Pionier, so wie seine Zeitgenosse Charles Dickens, der geradezu das soziale Gewissen seiner Epoche verkörperte im früh industrialisierten England.
" Ein gutes Beispiel dafür, dass man doch auch was bewirkt hat, ist der amerikanische Sozialreporter Jacob A. Rijs, mit seinem Buch "How the Other Half Lives" von 1890."
Ein Titel, der sprichwörtlich geworden ist. New Yorker Kinder in einer vollgemüllten Absteige, eine italienische Mutter, ihr Baby zwischen Fässern und Säcken wiegend, die Bewohner einer Hinterhausgasse, die den Betrachter wie von der Bühne herab ernst anblicken. In den vom Magnesiumblitz starr gebannten Gesichtern findet der Betrachter von heute Erinnerungsmomente cineastischer Ästhetik, und man glaubt gern, dass diese Bilder Martin Scorcese inspirierten, als er "Gangs of New York" drehte. Jacob Rijs Engagement zeigte tatsächlich politische Wirkung; aber nicht allein wegen seiner Fotos, sondern weil er sich tätig als Sozialreformer engagierte.
Link: Wienmuseum