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Die entfesselte Antike

Der Kunstwissenschaftler Aby Warburg forschte über Antike als Vorbild für menschliche Leidenschaften in der Renaissancekunst. Nun hat die Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung Warburgs rekonstruiert, ergänzt um Werke von Klinger und Böcklin.

Von Carsten Probst | 27.03.2011
    "Auf Homer wurde eine Zivilisation errichtet – eine Zivilisation, nicht bloß ein aufgedunsenes Weltreich", wütete Mitte der 40er-Jahre der britische Dichter Ezra Pound. Mit dem aufgedunsenen Weltreich waren die USA gemeint, die Macht ihres kapitalistischen Systems, das sich nach den Zweiten Weltkrieg weltweit ausbreitete. Die griechische Antike galt und gilt bis heute vielen Kulturkonservativen dagegen als Ort und Zeit wahrer humaner Werte, ihre Kunst zeugt von einer erhabenen Zivilisation, von einem noch unerschütterten Kern menschlicher Unschuld.

    "Edle Einfalt, stille Größe" nannte es Johann Joachim Winckelmann im 18. Jahrhundert. Es war die angebliche Abwesenheit des Schmerzes, der extremen menschlichen Abgründe in der griechischen Kunst, insbesondere bei der berühmten Laokoon-Gruppe, die Winckelmann glauben ließ, dass hier eine höhere und heitere Selbstgewissheit am Werk gewesen sei. Winckelmanns Thesen waren zugleich der Gründungsmythos des deutschen Klassizismus wie auch der Kunstgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin. Goethe, Schiller, Herder, Lessing, Hölderlin, August Wilhelm Schlegel und viele mehr beriefen sich in der Nachfolge auf Winckelmanns Utopie, die bei manchen später sogar auch die Abgründe des Dritten Reiches und des Stalinismus offenkundig irgendwie überstanden hat.

    Im Saal der Meisterzeichnung der Hamburger Kunsthalle hängen vielfältige Zeichnungen aus mehreren Jahrhunderten, berühmte Stücke sind darunter: Antonio Pollaiuolos "Kampf nackter Männer", ein Hauptwerk der Anatomiestudien aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Dürers "Melencolia I"-Kupferstich, aber auch mythologisierende Kampf- und Tanzszenen von Max Klinger und Arnold Böcklin vom Ende des 19. Jahrhunderts. Der Sinn dieser Zusammensetzung erschließt sich nicht sofort. Erst wenn man weiß, dass der Kunstgelehrte Aby Warburg aus genau diesen Bildern 1915 eine kleine Ausstellung für einen Vortrag in Hamburg zusammengestellt hat, kommt man ihrer historischen Bedeutung näher.

    Warburg, Spross einer Hamburger Bankiersdynastie, gelangte in seinen kunsthistorischen Studien am Beginn des 20. Jahrhunderts nämlich zu einer anderen Ansicht der Antike als Winckelmann und die Fraktion der Idealisten – mit einschneidenden Folgen für die Kunstwahrnehmung allgemein. Für Warburg beinhaltete die Kunst der Antike durchaus ein Moment der "inneren Unruhe", der extremen Leidenschaften, eine Doppelgesichtigkeit, die sich in den Darstellungen von Kämpfen, Kriegen oder tragischen Mythen wie der Laokoon-Gruppe zeigten. Warburg konnte sich dabei prinzipiell schon auf Nietzsche und dessen Antagonismus des Dionysischen und Apollinischen berufen. Für Warburg aber folgte daraus eine noch weitergehende historische Einsicht. Denn auch die Nachahmung der Antike im Mittelalter und vor allem während der Renaissance zeigte immer diese Doppelung aus Erhabenheit zum einen und ekstatischen, abgründigen, von existenziellen, gewaltsamen Leidenschaften verzerrten Gemütszuständen, die dem hehren Ideal völlig widersprachen.

    Warburg erfand dafür den Ausdruck "Pathosformel" und legte in seinem berühmten Bilderatlas ganze Motivketten von Leidensgesten offen, die sich durch Jahrhunderte hindurchzogen, ohne dass sich Künstler dabei direkt aufeinander bezogen haben müssen.

    Nicht zuletzt interpretierte er damit auch das Werk Albrecht Dürers neu, diese um die Jahrhundertwende noch intakte Ikone deutscher Kunst, die gerade als Garant für das Fortleben einer vermeintlichen "deutschen Antike" angesehen worden war. Italienische Einflüsse in Dürers Werk galten vielen Idealisten lange als undeutsche Schwächephase des Meisters. Warburg dagegen befreite Dürers Werk von dem nationalistischen Deutungen und erklärte die vermeintliche "Schwächephase" damit, dass Dürer in Italien fasziniert gewesen sei von der Darstellung der Leidenschaften in antiker und Renaissancekunst und versucht habe, sein Werk um diesen Aspekt zu erweitern.

    Die in der Hamburger Kunsthalle nun rekonstruierte Ausstellung war offenkundig die Keimzelle dieser modernen, nicht-utopistisch oder idealistisch geprägten Kunstgeschichte. Kurator Marcus Andrew Hurttig begründet damit zugleich den Rang Hamburgs als eines Hauptortes dieser neuen Kunstgeschichte: Denn kunsthistorische Größen wie Erwin Panofsky, Edgar Wind oder Martin Warnke, die diesen Rang Hamburgs begründet und weiter ausgebaut haben, haben sich immer auch direkt auf das Erbe Aby Warburgs bezogen.