Für Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee geboren und seit Ende der sechziger Jahre als Schriftstellerin tätig, ist "Entschlüsselung" - so der Titel des Romans - ein zentrales Thema. Mit der Sprache schleichen sich, oft unbemerkt, Weltbilder, Interessen oder Erwartungen in die Köpfe der Menschen. Dieses durchschaubar zu machen, Misstrauen zu wecken, um in der Sprache einen offenen Raum zu schaffen, in dem Individualität ermöglicht und gestärkt wird, kann als eine Linie ihres Schreibens begriffen werden. Eine andere hat sich aus ihrer Beschäftigung mit der Türkei, aus dem Studium der Orientalistik und ihren Erfahrungen mit den zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen ergeben: Die Entschlüsselung des Fremden, das Begreifen des Anderen, das nie gelingen kann, wenn man die eigenen Maßstäbe anlegt und sich selbst nicht auch aus einer gewissen Distanz betrachtet. Beide Linien führt sie in ihrem neuen Buch, das zu ihrem sechzigsten Geburtstag erschienen ist, auf spielerisch leichte Weise zusammen. Was hatten Wendigard und Nesimi, zwei - heute würde man sagen: -Dissidenten in totalitären Systemen aus völlig verschiedenen Epochen und fremden Kulturen, einander zu sagen? Was kann das für uns heute bedeuten? Entgegen der ideologisch vorgeprägten übrigen Figuren sorgt y die Erzählerin für eine offene Situation: Jeder der so unterschiedlichen Interessenten, und auch der Pfarrer natürlich, bekommt eine Kopie des Briefwechsels, alle sind sie mit ihr im Gespräch, tauschen sich mit ihr aus und sie plaudert ungeniert jeden Ansatz zur Entschlüsselung aus. In praktischer Feldforschung erkunden sie die Umgebung, lesen sie die Landschaft, in der Kelten und Türken ihre Spuren hinterlassen haben, in der Wendigard zu Hause war und auch die Nationalsozialisten - immerhin wurde das Päckchen mit den Briefen 1934 verschnürt - deutliche Spuren hinterlassen haben. Dass dabei die Zweifel daran wachsen, ob die Papiere wirklich einen Briefwechsel dokumentieren, versteht sich beinahe von selbst, aber darum geht es ja irgendwann auch gar nicht mehr.
"Wie viele Blickwinkel - so viele Modelle" - diesen Satz einer Figur ihres letzten Romans - "Die Schrift des Freundes" - erweckt Barbara Frischmuth spielerisch und kurzweilig zum Leben und verdreht dem Leser mit ein ungewöhnlichen literarischen Puzzle den Kopf: Alle Teile passen zwar irgendwie zusammen, doch ergeben sie je nach dem durchaus sehr unterschiedliche Bilder. Auf hintergründige und auch ironische Weise zeigt sie beides, die Möglichkeiten und Borniertheiten dieser Modelle und Bilder, und vor allem die Möglichkeiten eines offenen Dialogs. So dürfen wir der Autorin am Ende gratulieren: zu ihrem Geburtstag und zu diesem reizenden Buch!