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Die Entschlüsselung

Die Geschichte beginnt an einem noch warmen Herbsttag beim Flohmarkt der Freiwilligen Feuerwehr in Grundlsee im österreichischen Salzkammergut. Ein ausgestopfter Dachs erweckt das Interesse der Erzählerin, ein Dachs, um den sich allerdings schon zwei andere Frauen balgen, den dann aber, wie im Handstreich, ein merkwürdig anmutender Herr in einem viel zu warmen Trachtenmantel an sich reißt. Allerdings ist bei dem Händel ein kleines Päckchen aus dem schon räudigen Bauchfell gefallen. Dieses Päckchen wenigstens nimmt die Erzählerin an sich und begibt sich auf den Heimweg nach Altaussee. Schon auf dem Weg, dann zu Hause, noch bevor sie am nächsten Tag verwundert feststellt, dass das in Zeitungspapier aus dem Jahr 1934 eingewickelte Päcfen nur leere Blätter enthält, beginnt ein wundersamer Spuk, wird ihr Haus zum Treffpunkt einer illustren Gesellschaft. Zunächst ist ihr auf dem Weg der Käufer des Dachses aus der anderen Richtung entgegen gekommen und hat sie mit ausholender orientalischer Geste gegrüßt. In der Nacht macht sich erst ein lebendiger Dachs in ihrem Garten zu schaffen, dann singt ein Unbekannter ein Liebeslied des türkischen Derwishs, Dichters und Zahlenmystikers Seyid Nesimi, der im 14. Jahrhundert wegen seiner Ansichten mit der Scharia in Konflikt geriet und zu Tode gequält wurde. Im Traum begegnen ihr uralte keltische Bräuche und mehrmals hört sie den Namen Wendigard, der mal mit einer streitbaren Äbtissin aus dem 13. Jahrhundert, mal mit einer als Blumenzwiebel ins Land gekommenen Druidin in Verbindung gebracht wird.

Detlef Grumbach |
    Am nächsten Morgen treffen per Post eine Blumenzwiebel, der Hund des Pfarrers und ein befreundeter Kulturhistoriker namens Unumgang ein. Es folgen der Käufer des Dachses, der sich als Historiker und Philologe aus Istanbul vorstellt und schließlich die beiden Damen, die sich um den Dachs gestritten haben: eine deutsche und eine amerikanische Vertreterin der Frauenforschung. Und sie alle sind wie der Teufel hinter der armen Seele hinter dem Päckchen her, in dem sich der unsichtbar gemachte und obendrein verschlüsselte Briefwechsel jener Wendigard mit dem türkischen Dichter und Zahlenmystiker Nesimi befinden soll. Darüber, wie der Text zunächst sichtbar gemacht und dann entschlüsselt werden kann, wer ein bevorrechtigtes Interesse hat und welchem Zweck das ganze Unternehmen dienen soll, gehen die Meinungen allerdings diametral auseinander. Wie hängt die Zahl mit dem Erzählen, die Ziffer mit dem Entziffern zusammen?

    Für Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee geboren und seit Ende der sechziger Jahre als Schriftstellerin tätig, ist "Entschlüsselung" - so der Titel des Romans - ein zentrales Thema. Mit der Sprache schleichen sich, oft unbemerkt, Weltbilder, Interessen oder Erwartungen in die Köpfe der Menschen. Dieses durchschaubar zu machen, Misstrauen zu wecken, um in der Sprache einen offenen Raum zu schaffen, in dem Individualität ermöglicht und gestärkt wird, kann als eine Linie ihres Schreibens begriffen werden. Eine andere hat sich aus ihrer Beschäftigung mit der Türkei, aus dem Studium der Orientalistik und ihren Erfahrungen mit den zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen ergeben: Die Entschlüsselung des Fremden, das Begreifen des Anderen, das nie gelingen kann, wenn man die eigenen Maßstäbe anlegt und sich selbst nicht auch aus einer gewissen Distanz betrachtet. Beide Linien führt sie in ihrem neuen Buch, das zu ihrem sechzigsten Geburtstag erschienen ist, auf spielerisch leichte Weise zusammen. Was hatten Wendigard und Nesimi, zwei - heute würde man sagen: -Dissidenten in totalitären Systemen aus völlig verschiedenen Epochen und fremden Kulturen, einander zu sagen? Was kann das für uns heute bedeuten? Entgegen der ideologisch vorgeprägten übrigen Figuren sorgt y die Erzählerin für eine offene Situation: Jeder der so unterschiedlichen Interessenten, und auch der Pfarrer natürlich, bekommt eine Kopie des Briefwechsels, alle sind sie mit ihr im Gespräch, tauschen sich mit ihr aus und sie plaudert ungeniert jeden Ansatz zur Entschlüsselung aus. In praktischer Feldforschung erkunden sie die Umgebung, lesen sie die Landschaft, in der Kelten und Türken ihre Spuren hinterlassen haben, in der Wendigard zu Hause war und auch die Nationalsozialisten - immerhin wurde das Päckchen mit den Briefen 1934 verschnürt - deutliche Spuren hinterlassen haben. Dass dabei die Zweifel daran wachsen, ob die Papiere wirklich einen Briefwechsel dokumentieren, versteht sich beinahe von selbst, aber darum geht es ja irgendwann auch gar nicht mehr.

    "Wie viele Blickwinkel - so viele Modelle" - diesen Satz einer Figur ihres letzten Romans - "Die Schrift des Freundes" - erweckt Barbara Frischmuth spielerisch und kurzweilig zum Leben und verdreht dem Leser mit ein ungewöhnlichen literarischen Puzzle den Kopf: Alle Teile passen zwar irgendwie zusammen, doch ergeben sie je nach dem durchaus sehr unterschiedliche Bilder. Auf hintergründige und auch ironische Weise zeigt sie beides, die Möglichkeiten und Borniertheiten dieser Modelle und Bilder, und vor allem die Möglichkeiten eines offenen Dialogs. So dürfen wir der Autorin am Ende gratulieren: zu ihrem Geburtstag und zu diesem reizenden Buch!