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Die Enzyklopädie der Dummheit

Dummheit, so ist man geneigt zu sagen, ist eben Dummheit: Wozu noch weitere Worte darüber verlieren? Ist sie es etwa wert, ihr irgendwelche Aufmerksamkeit zu widmen, geschweige denn ein ganzes Buch? Aber in diesem Buch, Ehrenwort, kann man über die Dummheit staunen lernen, über ihre Kreativität, ihre Kontinuität, ihre Beharrlichkeit, und zweifellos auch über ihr Ausmaß, sollten wir da überhaupt Zweifel gehabt haben. Staunenswert am Menschsein ist nicht die potenzielle Klugheit oder Weisheit, staunenswert ist die reale Dummheit, bekennen wir es offen. Zu ihr fähig zu sein und sie gegen alle Widerstände durchzuhalten, darf als die eigentliche kulturelle Leistung der Menschheit gelten, davon überzeugt uns nun endlich die ihr gewidmete "Enzyklopädie". Keiner sollte sich länger scheuen, ihr zu frönen, kann er sich dabei doch auf berühmte Vorbilder berufen: "Willst auch du der Weisheit Lehre erkämpfen?" - "Nee", antwortet bereitwillig, ohne eigentlich gefragt zu sein, Papageno in Mozarts Zauberflöte.

Wilhelm Schmid |
    Was immer über die Dummheit jemals geschrieben wurde, was immer an Dummheiten jemals gemacht wurde, sollte eigentlich in diesem Buch Platz finden - so jedenfalls das vollmundig vorgetragene Vorhaben des Autors. Dass es nicht sonderlich klug ist, einen so weit gehenden Anspruch zu erheben, weiß er, der holländische Schriftsteller Matthijs van Boxsel, am besten selbst. Aber er hat ja wirklich einiges gefunden, was zumindest der beiläufigen Beachtung würdig ist, wie etwa die Untersuchungen zur Auswirkung des Seitenwindes auf die Addition. Die Frage ist nur, was sich aus einer solch interessanten Arbeit folgern lässt, wenn man die Dummheit auf den Begriff bringen will.

    Kaum ein Stichwort wird ausgelassen, alles lässt sich schließlich in irgendeiner Weise in Bezug zur Dummheit bringen, was allein schon den Verdacht nahe legt, dass sie vielleicht der einzig verlässliche Fixstern der menschlichen Existenz sein könnte. Sogar die Kultur, so die "zentrale These" des Buches, ist nur das Ergebnis einer Reihe mehr oder weniger missratener Versuche, mit der Dummheit ins Reine zu kommen. Vor allem aber hat der Autor die Bedeutung der Dummheit für den praktischen Lebensvollzug im Auge, die auch uns am meisten interessiert. Ist es nicht so, dass uns oft "etwas Dummes dazwischen kommt", wenn wir eine Sache sorgfaltig geplant haben? Aber das "Dumm gelaufen", das daraus resultiert, steht regelmäßig im Dienste des Erreichens unserer Ziele, wenn auch auf Um- und Abwegen. Klug und weise, so lässt sich daraus schließen, wird man eben nicht auf geraden Wegen. Dummheit ist die List der Klugheit, die ins Auge gefassten Vorstellungen trotz allem zu realisieren - oder aber interessante Alternativen zu finden, die zunächst gar nicht vorstellbar waren.

    Angesichts solcher Erkenntnisse lässt sich zweifellos unser "blindes Vertrauen in die Intelligenz" mit einem gewissen Amüsement betrachten, wo es doch eher die Dummheiten sind, die die Intelligenz befördern. Es ist nicht mehr ganz sicher, ob wir weiterhin den Wissenschaftlern oder doch eher den "Dummschaftlern" vertrauen sollten. Dass der Autor es nicht für möglich hält, sich der Dummheit auch vorsätzlich zu bedienen, sollte uns nicht stören: Es käme auf den Versuch an. Sicher ist nur, dass wir mit diesem Phänomen ohnehin nie fertig werden: Es ist viel zu produktiv, als dass es jemals erschöpft werden könnte. Auch der Autor selbst legt es bei seinem Versuch, die Dummheit zu verstehen, nur darauf an, wenigstens "so schillernd wie möglich zu scheitern". Vielleicht so, wie die Straßenarbeiter von Schilda, die alle Straßenschilder entfernen und dann eine geniale Antwort auf die Frage parat haben, wie sie denn nun selbst noch ihren Weg finden sollen: Schließlich haben sie alle Schilder dabei.

    Ein merkwürdiges Buch. Es handelt sich angeblich um eine "Enzyklopädie", aber um eine, die ihren Stoff mehr oder weniger beiläufig über die Seiten streut - eine, wie der Autor sagt, "Folge essayistischer Skizzen, die sich gegenseitig zu erhellen suchen". Die geistreiche, kenntnisreiche Plauderei spottet natürlich jeder Dummheit Hohn. Performativer Selbstwiderspruch: das ist der Preis, den jeder Autor zahlt, wenn er sich auf intelligente Weise des Themas annehmen will. Diesen Preis zahlte schon Robert Musil, bei dem Matthijs van Boxsel das Thema seines Lebens überhaupt erst entdeckt hat. Wem es um eine begriffliche Klärung der Dummheit geht, der kann nach wie vor auf den exzellenten Vortrag Musils von 1937 "Über die Dummheit" zurückgreifen, 1999 erneut als kleine Schrift ediert. Es ist wirklich auffällig und erstaunlich, zu welchen Intelligenzleistungen Menschen in der Auseinandersetzung mit der Dummheit fähig sind. Dies vor Augen, sollte die Dummheit vielleicht ganz anders ins Recht gesetzt werden, als dies gewöhnlich üblich ist.

    Also doch dumm, aber glücklich? Die Sache hat nur einen Haken: Eine seit 1932 andauernde englische Langzeitstudie an 2.800 Probanden hat nun nach 70 Jahren das klare Resultat erbracht, dass intelligente Menschen länger leben. Wir haben es also mit der üblichen Tragik des Lebens zu tun: Legen wir auf Dummheit wert, verkürzen wir das Leben. Wollen wir länger leben, kommen wir nicht umhin, wenigstens ab und zu, auch wenn es uns schwer fällt, auf eine Dummheit zu verzichten.