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Die Erde als Kartoffel

Geophysik. - Nach den jüngsten Daten ist die Erde weder eine Kugel noch ein an den Polen abgeflachter Ball, sondern eine Kartoffel. Die Daten lieferte Goce, ein europäischer Forschungssatellit, der seit 2009 die Verteilung des irdischen Schwerefeldes vermisst. Wissenschaftler aus ganz Europa sind derzeit an der Technischen Universität München zum Goce-Workshop zusammengekommen.

Von Thomas Wagner | 01.04.2011
    Erst betrachteten die Wissenschaftler die Erde als Scheibe, dann, seit über 500 Jahren, als Kugel. Und jetzt?

    "Es sieht grundsätzlich aus wie eine Kartoffel, wie eine rotierende Kartoffel."

    Professor Roland Peil vom Institut für astronomische und physikalische Geodäsie an der Technischen Universität München begründet das 'Kartoffel-Modell' mit der unregelmäßigen Verteilung des Schwerefeldes der Erde. Denn die Erdanziehung ist nicht überall gleich stark, sondern vielmehr starken Schwankungen unterworfen- und genau diese Schwankungen misst der europäische Forschungssatellit Goce. Die Schwankungen rühren von unterschiedlichen topographischen Gegebenheiten her, aber auch von Aktivitäten im Erdinneren und von der Verschiebung von Erdplatten gegeneinander. Folge: Wo die Erdanziehung stärker ist als anderswo, tut sich eine 'Einbuchtung', eine Art Delle, auf. Das ist mit eine Ursache dafür, dass die Meere nicht auf einem einheitlichen Höhenniveau liegen. Mit die wichtigste Aufgabe von Goce: Die Ermittlung des so genannten Geoids. Und das gilt als verbindlicher Referenzwert für alle Höhenangaben, ein künstlich berechneter Normall-Null-Meeresspiegel. Und den errechnen die Wissenschaftler aus den Gravitationsdaten, die Goce zur Erde funkt. Das Geoid gilt als wichtige Basisgröße für weitere Messungen, erklärt Professor Roland Peil:

    "Es ist deshalb wichtig, weil dieses Geoid die physikalische Referenzfläche schlechthin ist, relativ zu der man zum Beispiel Veränderungen von Massen beschreiben kann zum Beispiel, wenn wir an einen Wasserkreislauf denken, oder wenn wir auch an Veränderungen der Eismassen denken."

    Das sind alles wichtige Parameter für den Klimawandel. Selbst der Anstieg der Meeresspiegel als Folge der Eisschmelze lässt sich ohne diesen Referenzwert nicht präzise dokumentieren. Wie wichtig dieser Referenzwert ist, verdeutlicht Professor Volker Liebig, Direktor für Erdbeobachtung der Europäischen Weltraumorganisation Esa, am Beispiel des Eisenbahn-Tunnelbaus zwischen England und dem europäischen Festland:

    "Als man den Kanaltunnel gebaut hat, hat man mit hochgenauen Laser-Geräten dafür gesorgt, dass das alles gerade passiert. Und trotzdem hat man sich um 50 Zentimeter verfehlt. Und das lag daran, dass das englische Referenzsystem 50 Zentimeter abweicht vom Referenzsystem in Frankreich. Und was man versucht, ist, mit einem Goce-Datensatz diese Referenzsysteme alle zu harmonisieren. Und dann hat man solche Probleme nicht mehr."

    Goce kartographiert das gesamte Schwerefeld der Erde, zeigt auf, wo die Anziehungskraft stärker und wo sie schwächer ausgeprägt ist. Dabei entsteht jener dreidimensionale "Schwerefeld-Atlas" der Erde, der so aussieht wie die Kartoffel mit all ihren Dellen. Ändern sich die Gravitationsdaten an einem bestimmten Punkt der Erde, könnte dies auf eine wichtige Änderung der Strömungsverhältnisse in den Ozeanen hindeuten. Mit diesem Verfahren soll Goce auch Aufschluss geben über Folgen des Reaktorunfalls von Fukushima. Volker Liebig:

    "In diesem Fall geht es um die Ausbreitung von radioaktiv verschmutztem Wasser im Meer. Man kann Strömungssysteme mit Goce messen und besser verstehen, zum Beispiel das Strömungssystem, das an der japanischen Küste entlang führt, das sich über den gesamten Pazifik verteilen könnte. Das sind Rechnungen, die jetzt stattfinden für den Fall, das es zu einer größeren Verschmutzung des radioaktiven Meerwassers kommt."

    Darüber hinaus ermöglicht Goce auch einen Blick ins Erdinnere: Die Bewegung von Magma-Massen, aber auch das Aneinander-Reiben einzelner Kontinentalpatten sorgen für Veränderungen des Schwerefeldes, die Goce messen kann. Sie können unter anderem schwere Erdbeben zur Folge haben. Professor Roland Peil von der Technischen Universität München:

    "Man kann das dadurch besser verstehen, dass wir jene Schichten, die Lithosphäre, wo die Erdbeben entstehen, durch Goce-Informationen in Verschneidung mit anderen Quellen eine wesentlich besseres Verständnis für die Prozesse bekommen, die dort ablaufen werden."

    Allerdings, hieß es in München, taugen die Goce-Daten nicht für ein kurzfristiges Frühwarnsystem für Erdbeben. Wohl aber liefern sie grundsätzlicher Erkenntnisse über die Ursachen solcher Naturkatastrophen.