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Die Erfindung der Abstraktion

Die Abstraktion als Sprache der Moderne, die zugleich von vielen an vielen Orten entdeckt wurde, ist Thema einer Ausstellung im MoMA in New York. Sie zeigt Arbeiten von Picasso ebenso wie Schönberg-Partituren und illustriert den künstlerischen Reichtum der Epoche zwischen 1910 und 1925.

Von Sacha Verna | 29.12.2012
    Pablo Picasso habe kurz davor gestanden, ein abstraktes Bild zu malen, und dann einen Rückzieher gemacht, sagt die Kuratorin Leah Dickerman.

    Mit Pablo Picassos "Frau mit einer Mandoline" von 1910 beginnt die umfangreiche Ausstellung über die Anfänge der Abstraktion in der Kunst, die Leah Dickerman für das Museum of Modern Art organisiert hat. Picasso tat den letzten Schritt nicht, weil für ihn die Malerei immer mit den Dingen in der Welt verbunden blieb. Das zeige, so Leah Dickerman, wie schwierig es war, sich damals ein abstraktes Bild überhaupt vorzustellen, ein Bild, das nichts mehr abbildete.

    Aber schon 1912 stellte eine ganze Reihe von Künstlern abstrakte Bilder in öffentlichen Ausstellungen aus. Und nicht nur das.

    Man wisse seit Langem, dass das Aufkommen der Abstraktion in der bildenden Kunst mit jenem der atonalen Musik zusammenfiel, mit den ersten Formen des modernen Tanzes und mit der experimentellen Lautpoesie. Deshalb befinden sich unter den dreihundertfünfzig Exponaten aus den Jahren zwischen 1910 und 1925 auch die Originalpartituren zu Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett, Gedichtbände von Guillaume Apollinaire und Stéphane Mallarmé sowie Filmfragmente des "Hexentanzes", einer Choreografie des Ungaren Rudolf von Laban.

    Die Abstraktion als interdisziplinäres Phänomen soll in dieser Ausstellung illustriert werden, als Sprache der Moderne, die zugleich von vielen an vielen verschiedenen Orten entdeckt wurde. Von Kasimir Malewitsch, der mit seinen Kompositionen 1915 in Petrograd an der epochalen Schau "0.10" für Aufmerksamkeit sorgte. Aber auch von Arthur Dove, der mit seinen Arbeiten zu den ersten Verfechtern des neuen Bildvokabulars in den Vereinigten Staaten gehörte.

    Die Abstraktion sei nicht die Erfindung eines Einzelnen gewesen, der einsam wie ein romantisches Genie von seiner Muse geküsst wurde, sagt Leah Dickerman. Vielmehr habe ein ganzes Netzwerk von Künstlern und Intellektuellen dazu beigetragen, einen richtigen Wust innovativer Ideen zu verbreiten. Kulturzeitschriften florierten in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts, Menschen konnten einfacher und weiter reisen als je zuvor, und dasselbe galt für Ausstellungen.

    In "Inventing Abstraction, 1910-1925" wird nie schlüssig definiert, was mit "Abstraktion" eigentlich gemeint ist. Stattdessen hat man eine Menge von Ismen und die Werke ihrer Exponenten versammelt: Die von Italiens Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti und jene der Dadaisten um Tristan Tzara, solche russischer Konstruktivisten wie Vladimir Tatlin, ja sogar die einiger Synchromisten. Als Neuerzählung der Kunstgeschichte taugt diese Ausstellung denn auch nicht. Als Zeugnis für den künstlerischen Reichtum einer Epoche hingegen sehr wohl.