Es ist eine sehr besondere Anthologie, nämlich eigentlich keine. Eine Anthologie sammelt und verwirft, sammelt und liest aus, hat schließlich den Blumenkranz (das sagt der Name) beieinander. Hier finden wir - rhetorisch drängt sich ein 'nur' auf - ein gutes Dutzend Autoren, und das bei über 500 Seiten. Ganz ungewöhnlich also. Schrott zählt selbst die Fehlenden auf, über zwei Dutzend, eine Liste, die sich leicht vermehren läßt. Kann die Auswahl also repräsentativ sein? Sie ist es, wenn man auf den Zeitraum blickt: da lassen sich nur Stationen bezeichnen, und das tut Raoul Schrott:
"Die Chronologie der einzelnen Stationen verleiht der europäischen Poesie relativ deutliche Konturen. Zum einen ist ihre Entwicklung an die Ausbreitung der Schrift gekoppelt, wie sie vom sumerischen Raum ausgeht und sich dann in zwei Stränge teilt, die sich erst im Mittelalter wieder treffen. Die eine Linie läßt sich über die Phönizier und Ägypter nach Griechenland und weiter nach Rom ziehen, wo sie sich durch die Ausbreitung des Christentums ihren Einfluß sichert, die zweite von Arabien über Spanien und Sizilien in unseren Raum: ihre Schnittstellen bilden die höfische Lyrik der Okzitanen und die Dichtung der irischen Mönche."
Hier werden also große Linien gezogen, wie es die Romantiker auch liebten, die Schlegels haben zum Beispiel so argumentiert. Es ist eine geschichtsphilosophische Position, die da durchkommt und die nicht ganz frei von der Gefahr ist, die Gegenwart als Verfallszeit zu denunzieren. Etwas österreichisch, kann man salopp sagen, oder auch ein katholisches Erbe, immer noch an eine "Mitte" zu glauben, auf die sich alle Wandlungen, alle Wendungen und Tropen zurückverfolgen lassen. So beklagt Schrott die Überfrachtung der deutschen Lyrik mit ethischen, politischen, didaktischen Maßgaben, und sieht darin den Grund für ihre Rückständigkeit im europäischen Vergleich
"Das merkt man heute noch einer Gegenwartslyrik an, die sich entweder in sentimentalen Anekdoten oder in postmoderner Sprachklitterung erschöpft, ihre Mitte aber längst verloren hat."
Das Vorwort versucht, Hugo Friedrich zu überholen, hätte dann aber auch frischere Denkfiguren einbringen müssen. Schrotts Vorteil und Charme ist es, daß er - auch das mag österreichisch sein - mehrere Positionen nebeneinander gelten läßt. In diesem Falle die historische - sein Buch will der "Entstehung der Poesie" folgen - und zugleich eine antihistorische, eine rhetorisch-poetologische:
"In diesem Überblick ... zeigt sich die Poesie als eine jahrtausendalte Maschine, die zwar manchmal den Eindruck macht, als hätte ein Tinguely sie gebaut; ihre einzelnen Zahnräder und Teile unterscheiden sich indes kaum von den Uhrwerken moderner Gedichte."
Schrotts Sammlung beginnt mit den Hymnen und Liedern der sumerischen Dichter. Der Verlag hat die Übersetzungen als Keil gedruckt, was ein hübscher Gag ist. Deutlich sind die Texte durch Wiederholung, Parallelismen, Steigerung gekennzeichnet, doch durch das Formelhafte hindurch kommen wahrnehmbar individuelle Züge zum Vorschein. Hauptzeugen dieser Dichtung aus dem 3. Jahrtausend vor Christus sind zwei Frauen. Zunächst die Prinzessin und Priesterin Enheduanna, eine Anrede im sozusagen 'hohen Ton':
Im keil der schlacht schlägst du alles nieder
Im schwirren der flügel hackt dein schnabel herab
Im angriff des sturms greifst du mit an
Im brüllen des Gewitters da brüllst du
Im grollen des donners da grollst du
Im heulen des windes da heulst du
Und niemals werd ich es müde ich schreie weiter und weiter
Zum klang der harfen schreie ich die lieder der klage heraus
Die Technik, die dieses Gedicht aufbaut, ist heute noch in der politischen Lyrik sehr beliebt: die "Schlacht" soll als Naturereignis erfahren werden. So wird dem Ich vorgemacht, wie es sich parallel zur Natur verhält: im heulen des windes/ da heulst du. Spannend dann der Schluß, die Wendung zur Klage: vielleicht wird die Folgsamkeit des Kriegers, die in den Parallelismen hervortritt, ja auch deren Gegenstand? Die zweite Dichterin aus dem dritten Jahrtausend, Ilummiya, ist direkter im Ton, schrieb vor allem Liebesgedichte auf den König Shu-Suen, die jedoch der Königin in den Mund gelegt wurden:
Laß ihn nur kommen die kresse ist nirgendwo grüner ich werde ihm blicke zuwerfen und allein mit ihm
werde ich durch dieses feld gehen und die lust werde ich ihm zeigen Shu-Suen - daß ich seiner und er meiner nie müde wird
Danach macht die Sammlung einen großen Sprung ins 7. Jahrhundert v. Chr., zum griechischen Dichter Archilochos von der Insel Paros. Über dreihundert Fragmente sind von ihm erhalten. Schrotts Einleitung trägt sehr schön alle Anekdoten zusammen, die zum Lebensbild dieses Dichter-Soldaten beitragen, und wertet ihn als den ersten Vertreter einer subjektiven Dichtung. Auch die Lyrik Sapphos begreift er als eine "Poesie in statu nascendi", was kein günstiger Ausdruck ist. Ihre Poesie ist vollendet, das scheint auch Schrott mit seiner Wahl anzuerkennen. Was er sagen will, ist, daß diese Lyrik nicht auf einer jahrhundertealten Tradition fußt. Gleichwohl ist sie von einer Formstrenge und -schönheit, die in Schrotts Übersetzung nur sehr andeutungsweise durchkommt. Er entscheidet sich gegen den klassischen Ton, was einen Dichter auch deklassieren kann.
"Die erhältlichen Ausgaben der Klassiker und ihre Übersetzungen" stammen nicht "von Dichtern, sondern von Philologen - sie wurden nie aktualisiert und einer Gegenwart zugedacht, sondern nur immer weiter als Karteikarte geführt."
Das wird den vielfältigen Bemühungen um die antike Dichtung, an denen auch viele Dichter teilhatten, in keiner Weise gerecht. Schrott will Hemmschwellen abbauen, die keine sind. Ob man Sappho populärer/ noch populärer macht, indem man ihre Lieder dem Schlagersound annähert, steht doch dahin. Die sapphische Strophe gehört zu den schönsten Erfindungen und hat eine große Tradition auch im Deutschen. Schrott verzichtet ausdrücklich auf die Nachbildung von Rhythmen und Metren der Originale mit dem 'Argument', "daß beide von den Eigenheiten des Wortmaterials in einer spezifischen Sprache abhängig sind". Das stimmt und stimmt nicht: die griechischen Strophen sind mithilfe von Horaz Bestandteil der europäischen Lyrik geworden. Es besteht kein Grund, sie - rhythmisch gesehen - in Lallsprache zu überführen, wenn schon die Wörtlichkeit aufgegeben wird. Eine gewisse Kostbarkeit gehört zu dieser Poesie, die eben keine Verständigungs- oder Alltagslyrik ist. Nehmen wir die ersten zwei Strophen der großen Ode an Aphrodite. Bei Schrott lauten sie:
Aphrodite unsterbliche tochter eines gottes dessen wege noch verschlungener sind als die verzierungen
auf deinem thron ich bitte dich du laß mich nicht allein mit meinem schmerz sondern komm wie damals als
ich dich rief von ferne und du es hörtest
Schrott mutet es dem Leser nicht mehr zu, daß er den Namen des Zeus wissen muß, macht "einen gott" daraus. Der Vergleich "verschlungener als die verzierungen auf deinem thron" (es sollte wohl "an" heißen) kommt auch auf Schrotts Rechnung. In der Übersetzung eines älteren Kollegen, Josef Weinheber, lauten die zwei Strophen wie folgt:
Goldthron-schön Unsterbliche! Aphrodite, Kind des Zeus, Rat Schaffende, laß dich bitten: Triff, verwirf mein Herz nicht! In Gram und Ängsten zuckt es, Erhabne!
Sondern komm, wenn je meiner Lieder Lockung dich bestrickte; wenn du den frühern gnädig lauschtest und, entschreitend dem goldnen Haus des Vaters, einherkamst ...
Nun kann man immer über Übersetzungen streiten. Die These Schrotts, sie seien so nahe wie möglich und so frei wie notwendig, geht jedenfalls dort, wo ich es nachprüfen konnte, nicht auf. Es ist halt eine Entscheidungsfrage, ob man Aphrodite wie ein schelmisches Muttchen sprechen lassen will: "Was ist es diesmal?" oder - wörtlicher - doch ein bißchen erhaben: "Sag, was ist aufs Herz dir gefallen?" Ebenso, ob man beim frechen Catull noch einen draufsetzen muß - es macht dann doch einen Unterschied, ob man von Buchten und von Bergen spricht oder von"schwanzlutscher" und "arschficker".
Schrott hat zu jeder der größeren Textgruppen eine umfangreiche Einleitung geschrieben. Die versammeln Gelehrsamkeit in einer Fülle und Ungeniertheit, die man sich nur als Nichtprofessor leisten kann. Sie sind äußerst hilfreich. Wer weiß schon viel von den "Moallakat", arabischen Preisgesängen aus dem 6. und 7. Jahrhundert? Oder vom persischen Dichter Abu Nuwas, der im 8. Jahrhundert lange am Hofe Harun-ar-Rashids in Bagdad lebte. Daß er die Knaben den jungen Mädchen vorzog, spielt auch in seinen Gedichten eine zentrale Rolle:
Man sieht erst im bad was die hosen so verbergen nämlich alles - und das in aller ruhe also schau dir diesen hintern an und den rücken grad und schlank darüber während du ihm 'Gott ist groß' und 'Allah sei dank' zuflüsterst - was wäre denn dagegen einzuwenden auch wenn die badejungen dir deinen kleinen spaß mit ihren großen handtüchern verderben
Das klingt nicht wie vor zwölfhundert Jahren, und da hat die freie Übersetzung dem Gedicht bestimmt gutgetan. Daß Abu Nuwas, dessen abenteuerliches Leben Schrott wie eine Geschichte vor uns entfaltet, auch ernstere Zeiten und Töne kannte, zeigt ein Gedicht des alten Dichters, der findet, er sei nicht wiederzuerkennen. Es beginnt:
Ich schreibe dir die verse eines toten mit der hand dessen der noch am leben ist: einem den so oft das schicksal schlug daß er zwischen dies- und jenseits schwebt dem nichts als nur sein körper blieb fast unsichtbar aber doch noch gegenwärtig ...
Schrott findet am Schluß seiner Einleitung, wo er auf einige zusätzliche Hilfen hinweist: "Der Rest ist Pedanterie, nicht Poesie." Daran wollen wir uns halten und nicht fragen, wie es in diesem Gedicht mit Dativ und Genetiv steht. Wichtig ist die große Leistung, uns anhand von tonangebenden Autoren ganze Literaturen unter die Augen zu rücken: die der irischen Mönche im 9. Jahrhundert oder die hebräische Poesie im multikulturellen Spanien zweihundert Jahre später. So stellt Schrott seinen Kronzeugen vor:
"Samuel Ha-Nagid ibn Nagrila, der Wesir des Königs von Granada und ein eminenter General, war der erste wichtige Dichter dieses 'goldenen Zeitalters', der entscheidenden Einfluß auf die Poetik hatte. ... Über ihn schrieb der arabische Historiker Ibn Hayyan: Dieser verdammte Jude war einer der vollkommensten Menschen, obwohl Gott ihm jede Richtung verweigerte."
Dieser hebräisch-andalusischen Dichtung haben wir die Strophe zu verdanken, Spielleute und jüdische Gelehrte werden als Vermittlung zur Lyrik der Trobadors vermutet. Interessant ist die Überlieferungsgeschichte dieser Lyrik:
"Zum Vorschein kam der ganze Kanon der jüdischen Dichtung jedoch erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als man in der Ezra-Synagoge in Kairo auf einen versteckten, fensterlosen Dachboden stieß, ein Depot für Votivgegenstände, Manuskripte und Bücher, das die Zeit seit dem 9. Jahrhundert unbeschadet überstanden hatte: 200.000 beschriebene Seiten, von denen mehr als ein Drittel nur aus Poesie bestand - ein Fund, als hätte man das ganze Mittelalter erst jetzt entdeckt."
Die Trobador-Lyrik ist am Beispiel Wilhelms von Aquitanien repräsentiert. Ein besonders interessantes Kapitel gilt dem 'Erfinder des Sonetts': Giacomo da Lentino, der am Hof Friedrichs II. in Sizilien lebte. Dessen Leistung, die Entwicklung einer unendlich produktiven Form, wird das Kronbeispiel fürs Ineinander von Tradition und Innovation. Den Schlußstein dieses Poesie-Bogens aus vier Jahrtausenden bildet die walisische Lyrik, in ihrem Hauptvertreter Dafydd ap Gwilym - damit sind wir im 14. Jahrhundert, und Schrott meint, daß man "die Grundzüge der Poesie des Mittelalters allein aus seinem Werk rekonstruieren könnte". Ein überzeugender Abschluß dieser Sammlung, die man keine Anthologie nennen sollte, da sie nicht Blumen, sondern ganze Sträuße herbeibringt.
"Was die Gedichte über die Lebensumstände Dafydd ap Gwilyms verraten, ist anekdotisch bezeichnend für dieses 14. Jahrhundert, das Mißernten, die Pest und den Hundertjährigen Krieg ebenso kannte wie die Subtilitäten der höfischen Ethik. Er konnte mit Bogen, Armbrust und Schwert ebensogut umgehen wie mit der Harfe, und er verstand sich auch auf die Jagd und die Falknerei. Die Welt, mit der er außerhalb der Lehnsherren in Kontakt kam, bestand aus Mönchen, Nonnen, Pilgern, Einsiedlern, Kesselflickern, Viehtreibern und Stallknechten; der soziale Treffpunkt war die Taverne, wo neben dem Bier auch der französische Wein ausgeschenkt wurde."
Schrott hat die strenge Form des walisischen Originals lockern müssen, hat andere Formmotive, "eine lockere Struktur aus Alliterationen, Assonanzen und Reimen", dafür eingesetzt. So befinden wir uns mit dieser recht fremden Poesie schon fast in der vertrauten lyrischen Moderne. Seine Übersetzungsaufgabe hat Schrott doppelt aufgenommen, in einer unvergleichlichen Anstrengung: Die Texte sollten heutigem Verständnis (was immer das sein mag) erschlossen/ zugeführt werden; so hat er versucht, ihre Fremdheit zu mildern, ja zu negieren, was ich selbst nicht so mag, andere wohl. Zugleich haben die Kapitel-Essays und die Glossen die Funktion, die historische Dimension wieder zu betonen, also den Abstand zu wahren. So ist ein sehr ungewöhnliches Buch mit und über Lyrik entstanden, das sich kein Gebildeter unter ihren Liebhabern entgehen lassen kann.