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Die Erfindung des 20. Jahrhunderts

Der 1885 in Neuwied am Rhein geborene Carl Einstein war einer der eigenwilligsten und vielseitigsten Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben literarischen Werken verfasste er auch einflussreiche Schriften zur Gegenwartskunst und leistete Pionierarbeit bei der Entdeckung der sogenannten Kunst der primitiven Völker. Das "Museo Reina Sofía" in Madrid widmet Einstein die große Ausstellung: "Die Erfindung des 20. Jahrhunderts. Carl Einstein und die Avantgarde".

Von Gregor Ziolkowski |
    Man muss es vielleicht nicht weiter begründen: Dass im Madrider Museum Reina Sofía eine Ausstellung das Wirken des deutschen Kunstkritikers und -historikers Carl Einstein nachzeichnet, liegt beinahe auf der Hand. Einstein, seit August 1936 auf der Seite der Republik kämpfender Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg, stand im Briefwechsel mit Picasso, dessen Monumentalbild "Guernica" das Herzstück des Museums bildet. Aber in dieser Ausstellung geht es um mehr als eine biographische Zufälligkeit. Eine Sammlung, die sich ganz wesentlich an der historischen Avantgarde orientiert, trifft auf einen verwegenen, dabei kundigen und urteilssicheren Kritiker, der der Entwicklung dieser Avantgarde nicht wenige Impulse gegeben hat. Der deutsche Kunsthistoriker Uwe Fleckner, ein profunder Einstein-Kenner, hat die Ausstellung eingerichtet, und er begründet, warum sie nur hier zu sehen sein wird.

    " Wir haben hier dermaßen wichtige Werke versammelt - von Picasso, Klee, Braque, Masson und Mirò - wenn wir da eine zweite Station hätten finden wollen, wir haben darüber nachgedacht, dann hätten wir fast alle Werke austauschen können, weil, kein Leihgeber, weder privat noch museal, leiht Werke dieser Qualität für einen so langen Zeitraum aus. "

    "Negerplastik" - Einsteins Buchtitel von 1915 liefert das Stichwort für den dunkel-rituellen, in manchen Objekten geradezu dämonischen Ausgangspunkt dieser Ausstellung. Gewiss war Carl Einstein nicht der erste, der auf afrikanische Plastik aufmerksam geworden wäre. In seiner Betrachtung dieser Skulpturen - nicht nach rituellen oder folkloristischen, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten - war er sehr wohl ein Pionier. Die Ausstellung versammelt hier Einzigartiges.

    " Wir konnten etwa die Hälfte der Werke, die in diesem Buch publiziert wurden, heute noch nachweisen, und von diesen gut fünfzig zeigen wir knapp vierzig. Und das ist eine wirkliche Sensation. Die sind noch nie zusammen zu sehen gewesen, vereint bislang immer nur in Einsteins Buch von 1915. Und das sind wirklich Meisterwerke, die den Kern der Ausstellung und so etwas wie einen Impuls für Einsteins weitere Beschäftigung mit der Kunst dann geben. "

    Diese "weitere Beschäftigung mit der Kunst" führt den nach großen, vielleicht auch angsteinflößenden Begriffen wie "Tektonik" oder "Monumentalität" suchenden Einstein zu den Kubisten.

    " Da werden Dinge nicht abgebildet, sondern ein sehendes Subjekt - der Künstler - schafft Äquivalente zu dem, was in der Wirklichkeit zu sehen ist. Schafft das in geschlossenen, monumentalen Formen, monumental als sozusagen relativer Begriff, monumental in diesem formalen Zusammenhang, auch bei kleinsten Figuren auch diese Geschlossenheit, diese Einheitlichkeit der Figuren. Und er stellt fest, dass auf ihre Art und Weise auch die Kubisten ganz ähnlich vorgegangen sind, nämlich, auch kein Abbild der Realität zu schaffen, sondern aus Visionen, aus flächenhaften geschlossenen Formen Bildwelten zu erzeugen, die dann eine andere, eine zweite Realität bilden. "

    Dass diese "zweite Realität" keineswegs etwas Verstiegenes oder Weltabgewandtes meinte, das belegen verschiedene Projekte. George Grosz´ Lithografien-Serie "Gott mit uns" von 1920 illustriert Einsteins prägende Rolle in Berliner Zeitschriften wie "Die Pleite" oder "Der blutige Ernst". Die in Paris begründete Zeitschrift "Documents" wird begleitet von Arbeiten Hans Arps und Giacomettis. Die visuellen Welten Carl Einsteins, die in dieser Ausstellung ausgebreitet werden, verweisen bei einer derart suggestiven Figur dann doch immer wieder auf das Biographische, das hier nur knapp verhandelt wird. "Die Schuhe laufen auf fremden Boulevards, während das Herz woanders sich abnutzt." hatte Einstein mit Blick auf den russischen Emigranten Leon Bakst einmal notiert. Umstellt vom zweiten der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, hatte sich Einsteins Mut wohl auch abgenutzt: 1940 nahm er sich - angesichts des Vormarsches deutscher Truppen - in den französischen Pyrenäen das Leben.