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Die Erfindung des Drehwurms

Folgenreiche Erfindungen werden bisweilen an unscheinbaren Orten gemacht. Das erste Karussell der Welt wurde nicht etwa, wie man annehmen könnte, in den großen Volksfestmetropolen München oder Wien aufgestellt, sondern im heutigen Bulgarien. 17. Mai 1620 wurde dort in Philippopel, damals zum osmanischen Reich gehörend, das erste Karussell in Betrieb genommen.

Von Jürgen Bräunlein | 17.05.2005
    Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
    Sich eine kleine Weile der Bestand
    Von bunten Pferden, alle aus dem Land,
    das lange zögert, eh es untergeht...


    So beginnt Rainer Maria Rilkes berühmtes Gedicht über den Zauber des Karussellfahrens. Als er es 1906 schrieb, waren Karussells in ganz Europa en vogue. Kinder und Erwachsene begeisterten sich gleichermaßen dafür und drehten auf Jahrmärkten und Rummelplätzen ihre Runden, auf einfachen Sitzen und prächtig verzierten Gondeln, ausladenden Kutschen und fein geschnitzten Holzpferden, die gemächlich auf und nieder gingen.

    Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
    und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.


    Am 17. Mai 1620 wurde im osmanischen Reich in der Stadt Philippopel, die heute Plowdow heißt und zu Bulgarien gehört, auf einen Jahrmarkt das erste Karussell der Welt aufgestellt und noch am selben Tag in Betrieb genommen. Für die Zeitgenossen ein ungewohnter Anblick: Eine waagerechte Holzscheibe, mit Sitzpolstern bestückt, war auf einem drehbaren Wagenrad montiert. Mit einer Handkurbel brachte der Betreiber die Apparatur zum Rotieren. Die Zielgruppe der neuartigen Vergnügungsmaschine:

    "Ausschließlich Erwachsene."

    Die Benutzer saßen nicht einfach nur auf der Scheibe und ließen sich drehen. Sie hatten auch noch eine Aufgabe zu erfüllen. Mit einem Spieß mussten sie kleine Ringe, die am Rande der Scheibe aufgehängt waren, auffangen. Ein vergnügliches Spiel, dem schon die Ritter im Mittelalter frönten und das Ringstechen hieß.

    "Französisch: Carrousel"

    So kommt das Karussell zu seinem Namen.

    Bald schon breiten sich Karussells in ganz Europa aus, ohne dass sich das Bauprinzip wesentlich verändert. Die Handkurbel, die meistens von Schulkindern betätigt wird, ersetzt man durch Esel oder Pferde, die nun versteckt im Kreis trotten, um so das Karussell in Bewegung zu halten. Die Sitzgelegenheiten auf der Drehscheibe werden phantastischer: Wildes Getier, Fabelwesen und prunkvolle Kutschen. Begeistert berichtet ein Schweizer im Jahre 1780:

    "Die Damen fahren mit vorgespannten Pferden in kostbaren mit vergoldetem Schnitzwerke verzierten Götterwagen, wahrhafte Götterwagen, deren sich Frau Juno selbst an einem Galatage nicht zu schämen hätte: Die Männer reiten auf Pferden aus dem Herrschaftlichen Marstalle - Oh, ich bitt' um Vergebung! - es sind nur Kopien davon, aber ihren Originalen ganz ähnlich."

    Eine Neuheit bringt das so genannte Kettenkarussell. Die einfachen Sitze sind mit langen Eisenketten befestigt und geben dem Benutzer, wenn sich das Karussell dreht, das Gefühl, schaukelnd in der Luft zu schweben. Mitte des 19. Jahrhunderts kommen aus England Karussells, die mit Dampfkraft betrieben werden. Und Ende des Jahrhunderts wird bei der Weltausstellung in Chicago das erste Riesenrad eingeweiht - ein Karussell in der Vertikalen.

    Mit dem Siegeszug des elektrischen Stroms bewegen sich die Karussells schließlich schneller. Und bekommen rasante Konkurrenz. Noch vor dem 1. Weltkrieg wird eine funkelnagelneue Achterbahn aus Amerika nach München exportiert. Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Charakter der Jahrmärkte längst völlig verändert. Wurde dort ursprünglich vor allem Ware feil geboten und gehandelt, sind sie jetzt nur noch Umschlagsplätze von Entertainment und Belustigung. Für das ganze Volk.

    Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell,
    darum wäre es schön, wär' man noch einmal zehn,
    da sind alle gleich, ob sie arm oder reich,
    alle fahren gleich schnell auf dem Karussell


    [Aus: Jürgen Marcus, "Auf dem Karussell fahren alle gleich schnell"]

    Heute gibt es in Deutschland 14.000 Jahrmärkte – das Oktoberfest in München ist das größte. Die modernen Fahrgeschäfte, so nennt man Karussells in der Fachsprache, heißen heute "Free-Fall-Tower", "Shaker", "Breaker" oder "Sound Factory". Sie sind so, wie die Namen klingen: Computer gesteuert und eine Überwältigung aller Sinne. Grelle Lichter blinken, Nebelschwaden steigen auf, Surround-Lautsprechersysteme geben eine Dauerbeschallung und die Insassen bekommen einen Drehwurm oder werden während der Fahrt wild hin und her geschleudert.

    Das alte gemächliche Karussell hat jedoch bis heute auf jeder Kirmes seinen festen Platz.

    Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
    und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.