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Die Erinnerung kam später

Raul Hilberg war ein Pionier der Holocaust-Forschung und seiner Zeit so weit voraus, dass seinen Studien zur Vernichtung der europäischen Juden nur ein später, wenn auch großer Ruhm beschieden war. Dabei bilden Hilbergs akribische Recherchen über die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus den Ausgangspunkt einer intensiven Forschungsbewegung, die bis heute anhält. Eine Rezension von Aishe Malekshahi.

13.08.2007
    "Die Verfolgung der Juden in der Hitlerzeit dauerte zwölf Jahre. Die Holocaust-Forschung seit ihrem Anfang dagegen schon 60 Jahre."

    Mit diesem Satz eröffnete Raul Hilberg seinen letzten Vortrag auf der Berliner Konferenz "Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis". Er fesselte jeden im Saal von dem ersten bis zu seinem letzten Satz. Klar und hochkonzentriert sprach der amerikanische Forscher mit seinem unverkennbar österreichischen Akzent über die Anfänge seiner Forschung.

    Als GI kam Hilberg 1944 nach Europa, und im so genannten Führerbau der NSDAP im Braunen Haus in München entdeckte er 60 unbeschriftete Kisten: Hitlers Privatbibliothek. Das Lebensthema war gefunden. Seine Recherchen zur Vernichtung der Juden begann vier Jahre später, 1948:

    "Die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, bereiteten die Kriegsprozesse in Nürnberg vor, und mit unglaublichem Eifer sammelten sie etwa 40.000 Dokumente. Heutzutage ist das natürlich ein kleiner Haufen. Aber damals war das mein Anfang. Ich konnte 40.000 Dokumente lesen, das ist zu bewältigen."

    Raul Hilberg, der 1939 mit seinen Eltern im Alter von 13 Jahren über Kuba in die USA emigrierte, studierte Geschichte bei dem Historiker Hans Rosenberg, hörte Jura bei Franz Neumann und arbeitete bei einem weiteren Emigranten, Franz Epstein, im War Documentation Project. Wie ein Maulwurf arbeitete sich Raul Hilberg durch die Akten der NS-Verwaltung und durch die Archive, studierte akribisch, wie die Vernichtung der Juden geplant und ausgeführt wurde.

    Zum Glück erhielt er 1955 eine Professur in Burlington in Vermont. So war er wenigstens finanziell abgesichert, denn sein umfangreiches Werk "Die Vernichtung der Juden" wollte zunächst kein amerikanischer Verlag veröffentlichen. Raul Hilbergs Verdienst war, dass er die These widerlegte, Hitler habe von Anfang an die Endlösung geplant.

    Nein, so widersprach Raul Hilberg immer wieder und wies dies auch genau nach. Es gab eine prozesshafte Radikalisierung, die in der Vernichtung von sechs Millionen Juden gipfelte. Die Funktionalisten unter den deutschen Historikern wie Martin Broszat oder Hans Mommsen gaben ihm später Recht. Erst Ende der 70er Jahre, angestoßen durch die amerikanische Fernsehsendung "Holocaust", begann die Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Familien in Europa. In Deutschland sogar noch später. Man wollte nichts hören, so fasste Raul Hilberg diese Erfahrungen lakonisch zusammen.

    "Es gibt so einen Ausdruck in deutscher Sprache, die Vergangenheitsbewältigung, und in diesem Wort Bewältigung sehen wir, was für ein Ringen das war. Selber glaube ich, dass die Täter mussten absterben, hier in Deutschland auf jeden Fall. Interessant ist es, weder die Deutschen noch die Juden wollten eine Erinnerung. Das kam erst später."

    Auch das ist vielleicht Raul Hilbergs Verdienst, dass er nicht nur akribisch forschte, sondern mit großer Geduld warten konnte, bis seine Erkenntnisse aufgenommen wurden im Land der Täter.