Betrachtet man den Typus der Probleme, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen, so findet sich weithin Bekanntes: Planen der Auswanderung nach dem sogenannten "Juden-Boykott"; Spießrutenlauf um Papiere; Abweisungen von Behörden; Integrationsversuche in der fremden Umgebung und nicht zuletzt die Frage: wo innerhalb der Emigrantengruppen seinen Platz suchen? Denn die Flüchtlinge waren ja nirgendwo eine homogene Gruppe. Wer neue historische Fakten zur antisemitischen Bedrohung, zur Verfolgung oder zum politischen Klima im Exil sucht, wird das Buch darum wohl eher beiseite legen.
Der Erzählstil Ursula Bernhardts indes reißt mit: durch eine sehr eigene Mischung aus nüchterner Betrachtung und Witz, vor allem aber durch die Gabe, authentische Details und Stimmungen wie in einem Film abzurollen. Letzteres wird durch Exkurse unterstützt, die der Herausgeber jeder biographischen Etappe beigefügt hat. Zum Beispiel gleich im ersten Kapitel, in dem Ursula Bernhardt ihr Elternhaus im Berliner Stadtteil Charlottenburg vorstellt: mit dem Dienstmädchen und der Köchin, der unterkühlt preußisch-strengen Mutter, die "bei jeder Frechheit" Ohrfeigen austeilte, und mit dem vergnügten, naturverbundenen Vater, der (begleitet von Ursula) gern schöne Reisen nach Südtirol oder Binz auf Rügen unternahm. Über Freunde, die zum Abendessen in die Sieben-Zimmer-Wohnung eingeladen wurden, finden sich (optisch abgesetzt vom Fließtext) eigene Porträts, zumal viele von ihnen auch Juden waren und Deutschland später verlassen mussten. Die meisten dieser Namen tauchten bislang in keinem Lexikon, keiner Berlinchronik auf. Peter Lange schrieb hier ein Stück "Geschichte von unten" auf. Und verbreiterte damit zugleich das kulturell-gesellschaftliche Panorama, in das Ursula Bernhardts Lebensweg einzubetten ist.
Andere Exkurse in dem Buch machen übergeordnete Themen wie die jüdische Assimilation zum Gegenstand. Denn in den Erinnerungen selbst wird immer nur punktuell auf solche Fragen eingegangen. Wenn Ursula Bernhardt etwa erzählt, dass sie erst Ende der zwanziger Jahre von der jüdischen Abstammung ihrer Familie erfuhr, lässt sich daraus schließen, dass speziell ihr Vater (der erfolgreiche Geschäftsmann und Immobilienbesitzer Karl Reichenbach) jener Schicht angehörte, die "von der eigenen Herkunft im Grunde nichts mehr wissen wollte", wie die Tochter selbst interpretiert.
Uruguay spielte als Auswanderungsland innerhalb Nord- und Südamerikas damals eine untergeordnete Rolle. In der Beliebtheit lag es weit hinter den USA, Brasilien, Argentinien und Paraguay. Warum? Das erklärt Peter Lange nicht. Wie er überhaupt auf eine Einordnung seiner Recherchen verzichtet. Nirgendwo ein Wort zur Exilliteratur. Oder zum Charakter des Nachlasses von Ursula Bernhardt, die ihr Medizinstudium in Freiburg abbrach, weil sie wusste, dass sie in Deutschland keine Perspektive haben würde. In Uruguay dann verdiente sie für sich und ihren Mann das Brot als Krankengymnastin und Masseurin. - Auch diese Art des Sich-Durchschlagens kennt man aus zahllosen anderen Emigrantinnen-Biographien.
"Das Berlinische gefiel uns sehr, und wir fanden auch, dass das Leitungswasser genau so gut schmeckte wie früher." So charakterisierte Ursula Bernhardt ihr Lebensgefühl 1964 in der alten Heimat. Sie gab damit zu erkennen, wie sehr sie die NS-Zeit als Bruch empfunden hatte, als "Riss", der durch ihr Leben ging, wie es ja auch im Untertitel ihres Buches heißt. Zugleich bedeutete diese Sicht aber auch, dass sie geschichtliche Kontinuitäten von den nationalsozialistischen Zeiten bis in die Wirtschaftswunderjahre hinein nicht sah. Der "Spuk" war vorbei; die Bundesrepublik war aus den Trümmern erwachsen. Der neue Feind trug die Buchstaben DDR.
"Der Riss durch mein Leben" heißt das Buch von Peter Lange mit den Aufzeichnungen seiner Gespräche mit Ursula Bernhardt. Kristine von Soden hat es besprochen. Es ist in der Edition Tranvia im Verlag Walter Frey in Berlin erschienen, hat 367 Seiten und kostet 42 Mark.